Was ist eine Zeitung ohne Leser? Was ist ein Nachrichtenportal ohne User? Ein Fernsehsender ohne Zuschauer? Ein Radiosender ohne Hörer?
Ohne Publikum ist ein Medium arm dran. Medien haben die gesellschaftliche Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen. Wenn sie nicht öffentlich wirken können, also niemanden mit ihren Botschaften erreichen, sind sie wie ein Briefträger ohne Zustellbezirk: schwer vorstellbar.
Deshalb ist die Frage: "Was will mein Publikum eigentlich?" den allermeisten Redakteuren nicht fremd. Und doch kann sie kaum jemand mit letzter Sicherheit beantworten. Denn die Suche nach den Publikumswünschen zielt immer auf eine Erwartungshaltung ab. Veränderliche Erwartungen zu beschreiben, ist zwangsläufig ein unsicheres Unterfangen.
Die pragmatische Lösung in vielen Redaktionen heißt: Bauchgefühl. Sowie, fundierter: Diskussion ums Bauchgefühl. Ein Austausch dieser Vermutungen zum Beispiel in einer Redaktionskonferenz. Der Lösungsansatz von Wissenschaftlern heißt: Rezeptionsforschung.
Das Bauchgefühl von Redakteuren speist sich aus ihren subjektiven Erfahrungen. Es entspringt häufig den Begegnungen des Alltags, dem aufgeschnappten Gespräch im eigenen Bewegungsradius – seltener den bisweilen in den Verlagen zwar vorhandenen, aber eher unregelmäßig erhobenen und oft nicht repräsentativen Leserbefragungen. Die Rezeptionsforschung hingegen lebt von möglichst objektivierbaren Erkenntnissen. Und obwohl beide Ansätze grundverschieden sind (und auf ihre Weise hilfreich sein können), eint Redakteure wie Forscher eine Erkenntnis:
Leser lieben Lokales
Im Vergleich mit nationalen oder internationalen Informationen, erwarten sie von lokalen Medien eben tatsächlich vor allem die lokale Information. Dies bestätigen repräsentative Umfragen bei Nutzern verschiedener Lokalmedien.
Deutlich wird das große Interesse von Menschen an ihrer Nahwelt schon beim Blick auf das deutsche Mediensystem. Bundesweit existieren mehr als 300 lokale Abonnementzeitungen. Hinzu kommen lokale Anzeigenblätter, Webportale, Radio- und TV-Stationen. Ganz offensichtlich treibt irgendetwas Millionen Menschen dazu, sich über das Leben in ihrer unmittelbaren Nahwelt auf die eine oder andere Weise zu informieren.
Um die Wurzel dieses Interesses zu packen und sich einzelnen thematischen Vorlieben zu nähern, eignet sich Forschung eher als ein Gefühl. Erstaunlicherweise ist aber gerade die lokale Rezeptionsforschung in den vergangenen Jahren recht stiefmütterlich behandelt worden. Kritiker bemängeln, dass die seltenen neueren Studien häufig schlicht die Ergebnisse von älteren zusammenfassen und das lokale Publikum vernachlässigen. Belegt ist: Grundlegend für ein Interesse an lokalen Informationen ist die Verankerung der Menschen in einem bestimmten Lebensraum. Bezeichnen wir sie als „Ortsbindung“. Je tiefer jemand in seiner Umgebung verwurzelt ist, desto stärker ausgeprägt ist in der Regel auch sein Interesse an Informationen aus der Umgebung. Zwischen beiden Umständen besteht ein messbarer Zusammenhang.
Menschen, das hat unter anderem die Sozialgeographie herausgearbeitet, können sich aus ganz verschiedenen, getrennt oder gemeinsam auftretenden Gründen an einen Ort gebunden fühlen.
Eine schwächere Form der Ortsbindung stellen "rationale" Gründe dar - also vielleicht die kurze Anfahrt zur Arbeitsstelle oder die gute Infrastruktur einer ansonsten nicht als besonders liebenswert empfundenen Stadt.
Wesentlich stärker wirken "soziale" Ortsbindungen. Gute Freunde oder liebe Verwandte in der Nähe zu wissen, ist in vielen Fällen ein ganz bedeutender Faktor, gerne an einem Ort zu wohnen – und sich in der Folge auch für die Geschehnisse am Ort zu interessieren.
Die stärkste Form der Ortsbindung ist eine emotionale, die bis hin zur kompletten Identifikation mit dem Wohnort führen kann. Wer von sich sagen mag "Mein Ort ist ein Teil von mir", der ist ohne Zweifel auf ganz besondere Weise räumlich verwurzelt. Nach Umfragen wächst die Wahrscheinlichkeit zu so einer unbedingten Aussage mit der Dauer der Lebensjahre vor Ort.
Tiefe Wurzeln zu entwickeln benötigt also Zeit. Nachweislich sind besonders jene Menschen eng an einen Ort gebunden, die dort geboren und aufgewachsen sind. Über die Jahre haben sich unter "Eingeborenen" oft viele soziale und emotionale Bindungen ergeben. Jene Menschen, die dann vielleicht noch ihre Ausbildung nach der Schulzeit am gleichen Ort absolviert haben, sehen besonders häufig auch ihre Zukunft in ihrem Heimatort. Und sind in der Folge besonders empfänglich für die Informationen von Lokaljournalisten.
Lokale Verbundenheit kennt keine Verwaltungsgrenzen
Dass die Art der Ortsbindung mit dem Interesse an lokalen Informationen zusammenhängt, liegt auf der Hand. Wer beispielsweise nur rational ortsgebunden ist, weil er womöglich unter der Woche auf Montage an einem gewissen Ort weilt, wird sich kaum das Dossier über den neuen Bürgermeister am Arbeits-Ort durchlesen, der ohnehin nicht als "Heimat" empfunden wird. Aber womöglich klickt er sich online durch die Stau-Informationen, um wenigstens zügig zum Job zu pendeln. Wer seine Freunde vor Ort hat, könnte von ihnen die Empfehlung zum Dossier bekommen haben. Wer selbst emotional so verwurzelt ist, dass er sich ehrenamtlich in der Lokalpolitik engagiert, für den ist das Dossier womöglich ein Muss.
Nutzer von lokalen Nachrichten sind eine besonders stark ortsgebundene Bevölkerungsgruppe. Diesem Umstand müssen Redaktionen Rechnung tragen. Lange galt die "Heimatzeitung" als ähnlich verstaubt wie der "Heimatfilm". Tatsächlich ist die Heimatzeitung aktueller denn je – wenn man Heimat nicht nur auf Folklore verkürzt, sondern als exakt jenen Raum versteht, an den sich Menschen gebunden fühlen.
Dabei darf man die lokale Lebens- und Interessenswelt der Bürger nicht einfach mit Verwaltungsgrenzen gleich setzen. Die Lebensräume und damit auch die Informationsbedürfnisse von Menschen orientieren sich nicht zwangsläufig an der Gemeinde- oder Stadtgrenze, schon gar nicht am Regierungsbezirk. Bisweilen konzentrieren sie sich stärker auf Stadtteile – besonders dann, wenn der eigene Aktionsradius eher eng ist (etwa bei vielen Menschen besonders hohen Alters). In anderen Fällen überschreiten sie kommunale Grenzen deutlich. Nicht immer wird die Ausgabenstruktur einer Lokalzeitung dem gerecht. Knifflig ist besonders der passende Zuschnitt für Menschen im Grenzgebiet zweier Lokalteile.
Welche lokalen Themen besonders interessant sind, ist im Einzelfall natürlich Geschmackssache. Befragungen geben dennoch Hinweise auf Trends. Als besonders gefragt gelten vermischte Lokalthemen, Lokalpolitik, Service-Themen wie "Verkehr" oder "Wetter" und lokale Wirtschaftsthemen. Sport und Kultur erreichen weniger breit gestreute Zielgruppen – deren Interesse am Thema aber ist umso intensiver. Ein guter Lokalsport kann also ein ganz entscheidender Abonnementgrund für Zeitungsleser sein.