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Heimvorteil: Was Leser wollen Ortsbindung und die Interessen der Leser

Daniel Süper

/ 7 Minuten zu lesen

Auch im 21. Jahrhundert haben die Menschen einen Geburtsort, einen Arbeitsplatz und ein Zuhause: Je tiefer jemand in seiner Umgebung verwurzelt ist, desto stärker ausgeprägt ist häufig sein Interesse an Informationen von dort. Ein Umstand, den die Lokalzeitung für sich nutzen kann.

Das Bedürfnis nach "Heimat" ist in schnelllebigen Zeiten häufig besonders präsent. (© TimToppik / Externer Link: photocase.de)

Was ist eine Zeitung ohne Leser? Was ist ein Nachrichtenportal ohne User? Ein Fernsehsender ohne Zuschauer? Ein Radiosender ohne Hörer?

Ohne Publikum ist ein Medium arm dran. Medien haben die gesellschaftliche Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen. Wenn sie nicht öffentlich wirken können, also niemanden mit ihren Botschaften erreichen, sind sie wie ein Briefträger ohne Zustellbezirk: schwer vorstellbar.

Deshalb ist die Frage: "Was will mein Publikum eigentlich?" den allermeisten Redakteuren nicht fremd. Und doch kann sie kaum jemand mit letzter Sicherheit beantworten. Denn die Suche nach den Publikumswünschen zielt immer auf eine Erwartungshaltung ab. Veränderliche Erwartungen zu beschreiben, ist zwangsläufig ein unsicheres Unterfangen.

Die pragmatische Lösung in vielen Redaktionen heißt: Bauchgefühl. Sowie, fundierter: Diskussion ums Bauchgefühl. Ein Austausch dieser Vermutungen zum Beispiel in einer Redaktionskonferenz. Der Lösungsansatz von Wissenschaftlern heißt: Rezeptionsforschung.

Das Bauchgefühl von Redakteuren speist sich aus ihren subjektiven Erfahrungen. Es entspringt häufig den Begegnungen des Alltags, dem aufgeschnappten Gespräch im eigenen Bewegungsradius – seltener den bisweilen in den Verlagen zwar vorhandenen, aber eher unregelmäßig erhobenen und oft nicht repräsentativen Leserbefragungen. Die Rezeptionsforschung hingegen lebt von möglichst objektivierbaren Erkenntnissen. Und obwohl beide Ansätze grundverschieden sind (und auf ihre Weise hilfreich sein können), eint Redakteure wie Forscher eine Erkenntnis:

Leser lieben Lokales

Im Vergleich mit nationalen oder internationalen Informationen, erwarten sie von lokalen Medien eben tatsächlich vor allem die lokale Information. Dies bestätigen repräsentative Umfragen bei Nutzern verschiedener Lokalmedien.

Deutlich wird das große Interesse von Menschen an ihrer Nahwelt schon beim Blick auf das deutsche Mediensystem. Bundesweit existieren mehr als 300 lokale Abonnementzeitungen. Hinzu kommen lokale Anzeigenblätter, Webportale, Radio- und TV-Stationen. Ganz offensichtlich treibt irgendetwas Millionen Menschen dazu, sich über das Leben in ihrer unmittelbaren Nahwelt auf die eine oder andere Weise zu informieren.

Um die Wurzel dieses Interesses zu packen und sich einzelnen thematischen Vorlieben zu nähern, eignet sich Forschung eher als ein Gefühl. Erstaunlicherweise ist aber gerade die lokale Rezeptionsforschung in den vergangenen Jahren recht stiefmütterlich behandelt worden. Kritiker bemängeln, dass die seltenen neueren Studien häufig schlicht die Ergebnisse von älteren zusammenfassen und das lokale Publikum vernachlässigen. Belegt ist: Grundlegend für ein Interesse an lokalen Informationen ist die Verankerung der Menschen in einem bestimmten Lebensraum. Bezeichnen wir sie als „Ortsbindung“. Je tiefer jemand in seiner Umgebung verwurzelt ist, desto stärker ausgeprägt ist in der Regel auch sein Interesse an Informationen aus der Umgebung. Zwischen beiden Umständen besteht ein messbarer Zusammenhang.

Menschen, das hat unter anderem die Sozialgeographie herausgearbeitet, können sich aus ganz verschiedenen, getrennt oder gemeinsam auftretenden Gründen an einen Ort gebunden fühlen.

  • Eine schwächere Form der Ortsbindung stellen "rationale" Gründe dar - also vielleicht die kurze Anfahrt zur Arbeitsstelle oder die gute Infrastruktur einer ansonsten nicht als besonders liebenswert empfundenen Stadt.

  • Wesentlich stärker wirken "soziale" Ortsbindungen. Gute Freunde oder liebe Verwandte in der Nähe zu wissen, ist in vielen Fällen ein ganz bedeutender Faktor, gerne an einem Ort zu wohnen – und sich in der Folge auch für die Geschehnisse am Ort zu interessieren.

  • Die stärkste Form der Ortsbindung ist eine emotionale, die bis hin zur kompletten Identifikation mit dem Wohnort führen kann. Wer von sich sagen mag "Mein Ort ist ein Teil von mir", der ist ohne Zweifel auf ganz besondere Weise räumlich verwurzelt. Nach Umfragen wächst die Wahrscheinlichkeit zu so einer unbedingten Aussage mit der Dauer der Lebensjahre vor Ort.

Tiefe Wurzeln zu entwickeln benötigt also Zeit. Nachweislich sind besonders jene Menschen eng an einen Ort gebunden, die dort geboren und aufgewachsen sind. Über die Jahre haben sich unter "Eingeborenen" oft viele soziale und emotionale Bindungen ergeben. Jene Menschen, die dann vielleicht noch ihre Ausbildung nach der Schulzeit am gleichen Ort absolviert haben, sehen besonders häufig auch ihre Zukunft in ihrem Heimatort. Und sind in der Folge besonders empfänglich für die Informationen von Lokaljournalisten.

Lokale Verbundenheit kennt keine Verwaltungsgrenzen

Dass die Art der Ortsbindung mit dem Interesse an lokalen Informationen zusammenhängt, liegt auf der Hand. Wer beispielsweise nur rational ortsgebunden ist, weil er womöglich unter der Woche auf Montage an einem gewissen Ort weilt, wird sich kaum das Dossier über den neuen Bürgermeister am Arbeits-Ort durchlesen, der ohnehin nicht als "Heimat" empfunden wird. Aber womöglich klickt er sich online durch die Stau-Informationen, um wenigstens zügig zum Job zu pendeln. Wer seine Freunde vor Ort hat, könnte von ihnen die Empfehlung zum Dossier bekommen haben. Wer selbst emotional so verwurzelt ist, dass er sich ehrenamtlich in der Lokalpolitik engagiert, für den ist das Dossier womöglich ein Muss.

Nutzer von lokalen Nachrichten sind eine besonders stark ortsgebundene Bevölkerungsgruppe. Diesem Umstand müssen Redaktionen Rechnung tragen. Lange galt die "Heimatzeitung" als ähnlich verstaubt wie der "Heimatfilm". Tatsächlich ist die Heimatzeitung aktueller denn je – wenn man Heimat nicht nur auf Folklore verkürzt, sondern als exakt jenen Raum versteht, an den sich Menschen gebunden fühlen.

Dabei darf man die lokale Lebens- und Interessenswelt der Bürger nicht einfach mit Verwaltungsgrenzen gleich setzen. Die Lebensräume und damit auch die Informationsbedürfnisse von Menschen orientieren sich nicht zwangsläufig an der Gemeinde- oder Stadtgrenze, schon gar nicht am Regierungsbezirk. Bisweilen konzentrieren sie sich stärker auf Stadtteile – besonders dann, wenn der eigene Aktionsradius eher eng ist (etwa bei vielen Menschen besonders hohen Alters). In anderen Fällen überschreiten sie kommunale Grenzen deutlich. Nicht immer wird die Ausgabenstruktur einer Lokalzeitung dem gerecht. Knifflig ist besonders der passende Zuschnitt für Menschen im Grenzgebiet zweier Lokalteile.

Welche lokalen Themen besonders interessant sind, ist im Einzelfall natürlich Geschmackssache. Befragungen geben dennoch Hinweise auf Trends. Als besonders gefragt gelten vermischte Lokalthemen, Lokalpolitik, Service-Themen wie "Verkehr" oder "Wetter" und lokale Wirtschaftsthemen. Sport und Kultur erreichen weniger breit gestreute Zielgruppen – deren Interesse am Thema aber ist umso intensiver. Ein guter Lokalsport kann also ein ganz entscheidender Abonnementgrund für Zeitungsleser sein.

Ortsbindung und das Interesse von Jugendlichen

Grafik: Reichweiten der Tageszeitungen 2011 nach Alter - Klicken Sie auf die Grafik, um die PDF zu öffnen. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Ein seit Jahren wachsendes Problem für Lokalzeitungen ist der Schwund junger Leser.

Die Ursachen sind hinlänglich bekannt. Hier sei nur hingewiesen auf die Vielzahl von (elektronischen) Medienangeboten sowie die sinkende Lesesozialisation in vielen Haushalten. Neu dagegen ist die Erkenntnis, dass besonders für Interner Link: Jugendliche und junge Erwachsene Ortsbindung eine unabdingbare Zutat ist, damit sich überhaupt ein Informationsinteresse entwickeln kann. Bei Jugendlichen ohne Ortsbindung ist die Lokalzeitung nahezu chancenlos. Bei jenen, die vor Ort "Heimat" empfinden, hat sie dagegen weiter gute Möglichkeiten.

Es stellt sich die Frage, ob sich im Zeitalter von "Globalisierung" und "Mobilisierung" überhaupt dauerhaft Menschen für lokale Inhalte interessieren werden. Schon heute sinken die Auflagen von Lokalzeitungen in Ballungsräumen stärker als in ländlichen Gebieten. Wenn das Interesse an Informationen lokaler Medien mit der Ortsbindung zusammenhängt, liegt eine wichtige Erklärung dafür auf der Hand: Je länger Menschen an einem Ort leben, desto länger haben sie Zeit, Wurzeln zu schlagen, ihn als "heimisch" wahrzunehmen. Wo – wie in vielen Großstädten – die Verweildauer vor Ort im Schnitt kürzer ist, sind die Voraussetzungen für echte Ortsbindung schlechter als anderswo. Wo wiederum die Voraussetzungen für Ortsbindung schlechter sind, haben auch lokale Medien mit ihren Informationsangeboten schlechtere Karten.

Zur lokalen Apokalypse besteht dennoch kein Anlass. Menschen haben auch im 21. Jahrhundert einen Geburtsort, einen Arbeitplatz, ein Zuhause. Sie sind keine virtuellen Wesen, sondern real ortsgebunden und erfüllen damit die Eingangsvoraussetzungen, um Heimatliebe und Interesse für ihre Nahwelt entwickeln zu können. Das Bedürfnis nach Heimat könnte gerade in schnelllebigen Zeiten sogar noch wachsen. Einen Beleg geben die zahlreichen Ratgeber zur "Entschleunigung" oder die unüberschaubare Zahl an Natur- und Landleben-Magazinen am Kiosk. Auch auf wissenschaftlicher Seite, nicht nur in der Gesellschaft- und Sozialforschung, gibt es heute für diese Annahme eine ganze Reihe von Vertretern.

Redakteure in Lokalmedien sollten damit wissen, dass Sie auch im 21. Jahrhundert und dem Zeitalter sinkender Lokalzeitungsauflagen mit einer wertvollen Ware handeln. Wer lokale Nachrichten aus Orten oder Ortsteilen als "provinziell" belächelt, mag am Stammtisch punkten – aber nicht bei den Lesern. Dabei gibt es klare Hinweise, dass medienübergreifend offenbar die gleichen lokalen Stoffe funktionieren. Ein spannendes Thema bleibt eben ein spannendes Thema – egal auf welchem Kanal. Die Aufbereitung allerdings muss medienspezifisch sein. Eine tolle Zeitungsreportage beispielsweise kann auf einer Webseite womöglich beim Publikum durchfallen: einfach, weil sie nicht webgerecht aufbereitet ist.

Wenn Stoffe "heimatgerecht" zugeschnitten werden, sollten Redaktionen sich nicht automatisch an Verwaltungsgrenzen oder Einzugsgebieten von Lokalredaktionen orientieren. Das tun ihre Leser in den "persönlichen Heimatkarten" auch nicht. Lokalredakteure haben das oft in der Tat "im Gefühl", weil sie selbst aus der Gegend stammen, über die sie berichten. Insofern muss der Bauch kein schlechter Ratgeber sein – auch wenn viele Wissenschaftler mit ihm wenig anfangen können. Nur reichen Bauchentscheidungen alleine nicht aus. Eine große Hilfe könnten für lokale Medien raumbezogene Forschungen sein. Raumbezogen heißt: Nicht auf das Große Ganze schauen, sondern auf das kleine Ganze. Nur wer weiß, wo sich die Lebenswelt des Publikums befindet, kann seine Wünsche erfüllen.

Literatur

Möhring, Wiebke, Dieter Stürzebecher (2008): Lokale Tagespresse: Publizistischer Wettbewerb stärkt Zeitungen. In: Media Perspektiven, 2/2008, S. 91-101,

Daniel Chmielewski (2011): Lokale Leser. Lokale Nutzer. Informationsinteressen und Ortsbindung im Vergleich. Eine crossmediale Fallstudie. Köln.

Dr. Daniel Süper arbeitet in der Geschäftsleitung des Medienhauses Lensing in Dortmund. In seiner Dissertation untersuchte der Diplom-Journalist das Verhältnis von Informationsinteressen und Ortsbindung.