Ein Bild aus vergangenen Zeiten: Klaus-Peter Scheller, Lokalchef des Stadtboten, begrüßt die Kollegen am Montagmorgen zur täglichen Konferenz. Nach dem kurzen Rückblick auf die Samstagsausgabe geht es sofort zur Sache. Im Stadtrat wird heute über den Haushaltsplan für das kommende Jahr diskutiert. Wie in der großen Politik auch, nutzen die Fraktionschefs die Haushaltsdebatte zur Generalabrechnung mit dem politischen Gegner. Die Lokalredaktion hat schon die Redeentwürfe der Kommunalpolitiker, Teile der für morgen geplanten Artikel sind schon vorformuliert. Aber welche Zitate in der hitzigen Debatte noch fallen werden, wissen die Journalisten vom Stadtboten natürlich noch nicht.
In der Konferenz geht es darum, welche Themen auf die zwei Seiten gepackt werden, die für die Haushaltsdebatte reserviert sind. Aufmacher soll der Schwimmbadbau werden. Ein größeres Stück auf der linken Seite soll sich um die Müllgebühren drehen, die voraussichtlich steigen sollen. Und dann gibt es noch vier Einspalter mit Zusammenfassungen der Reden. Alle gleich lang, der Stadtbote vermeidet den Eindruck, eine Partei bevorzugen zu wollen. Schellers bange Frage lautet: "Wann muss der Andruck spätestens beginnen?" Seine Stellvertreterin Karin Müller hat schon mal mit der Technik geredet: "23 Uhr ist das späteste der Gefühle." Scheller seufzt. Doch auch an diesem Tag wird er es wieder schaffen, die zwei Zeitungsseiten pünktlich zuzunageln.
Klaus-Peter Scheller, Karin Müller und den Stadtboten gibt es nicht. Aber genau so haben Lokaljournalisten noch vor 20 Jahren gearbeitet. Was im Rathaus beschlossen wurde, war wichtiges Thema der örtlichen Tageszeitung. Deren Stellenwert in der Bevölkerung war umso größer, je aktueller sie über das berichten konnte, was in der Kommune vor sich ging. Richtig gut war sie, wenn sie kommunalpolitische Ereignisse und Entwicklungen bereits schildern konnte, bevor sie beschlossene Sache waren.
Das alles war möglich und vieles davon noch heute – doch das Entscheidende ist dem Lokaljournalismus in manchen Regionen verloren gegangen: die gute Vernetzung von Journalistenpersönlichkeiten mit den Repräsentanten des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Region. Denn der Klaus-Peter Scheller von heute findet nicht mehr die Zeit, um Stunden auf den Presseplätzen des Kommunalparlaments und im Rathaus zu verbringen. Er kümmert sich vielmehr darum, das angelieferte Material zu redigieren und das Blatt zuzumachen. Mancherorts tut er dies inzwischen am Newsdesk, dem Herzen der Redaktion. Wenn sich überhaupt noch ein Journalist zur Ratssitzung blicken lässt, dann ist es ein Freier, dessen Bezahlung nach gedruckter Zeile erfolgt. Ob er bei der nächsten Haushaltsdebatte wieder dabei sein wird, ist fraglich, die Vernetzung mit den kommunalen Entscheidungsträgern schwach.
Für diesen rasanten Wandel gibt es gute Gründe. Fast 50 Prozent der täglichen Zeitungsauflage in Deutschland werden von Blättern geliefert, die zu Medienkonzernen gehören. Das muss nicht schlecht sein, heißt aber, dass hier Synergien und arbeitsteilige Prozesse womöglich stärker fortgeschritten sind als bei der überwiegend mittelständisch geprägten Konkurrenz. Und noch eine andere Zahl markiert den Wandel: In den letzten sieben Jahren sank die Zahl der fest angestellten Redakteurinnen und Redakteure bei Tageszeitungen von knapp 15.000 auf knapp 13.000. In diesem Zeitraum ging weder die Zahl der Zeitungen zurück noch der Seiten, die die Redaktionen Tag für Tag füllen müssen. Also mehr Arbeit für jeden einzelnen Redakteur, zusätzlich "angereichert" um die zu schreibenden Texte für den Online-Auftritt der Zeitung. Denn bei den wenigsten Blättern wurde eine nennenswerte Zahl an neuen Online-Arbeitsplätzen geschaffen. Und damit der Schritt für eine konsequente Umsetzung der digitalen Möglichkeiten.
Die Veränderungen in den Redaktionen gehen schleichend vonstatten, nur selten mit einem solchen Donnerschlag wie bei den nordrhein-westfälischen Titeln der WAZ-Mediengruppe vor einigen Jahren. Dort verkündete das Management einen rigiden Sparplan. Von 900 Redakteursstellen sollten 300 gestrichen werden. Am liebsten sozialverträglich, doch zur Not auch mit der Brechstange. Den Gewerkschaften DJV und ver.di gelang es, gemeinsam mit den Betriebsräten die schlimmsten Auswüchse des Sanierungspakets abzumildern. Doch am massiven Stellenabbau und der Schließung einzelner Lokalredaktionen änderte sich nichts. Dass zentrale Redaktionseinheiten aufgestockt wurden, konnte den lokaljournalistischen Bedeutungsverlust der WAZ-Zeitungen nicht aufwiegen. Die Personalkosten bei der WAZ gingen in der Tat nach unten, die Auflage aber auch. Denn die Leser im Ruhrgebiet merkten, dass sich auch die Qualität der Berichterstattung änderte. Manche Themen fanden überhaupt nicht mehr in der Zeitung statt, andere wurden nur noch als Meldungen abgehandelt. Im Klartext: Zu wenig Personal für zu viele Themen.
Die WAZ steuert inzwischen wieder um, doch in den meisten Verlagen hat sich noch längst nicht die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Lokaljournalismus im längst begonnenen Online-Zeitalter das größte Pfund der Tageszeitung ist. Innovationen sind eher selten anzutreffen. Die Gefahr ist groß, dass die Verlage das Lokale im Internet genau so verlieren wie vor Jahren die Kleinanzeigenmärkte. Wer mit dem lokalen Pfund wuchern will, muss in redaktionelle Köpfe investieren.