In den Redaktionen redet man gern von der Endzeit der eigenen Profession. Es dreht sich so schön an der Garotte. Dabei hat der Journalismus eine blühende Zukunft, wenn er die Nähe zum Leser sucht, wenn er die Leser begeistert und sich als Wahrheitsfanatiker neu entdeckt. Wo jeder im Netz jedem anderen seine gesammelten Weisheiten und Dummheiten aufdrängen kann, brauchen wir Journalisten, die mit ihrer Professionalität wie Aschenputtel die Weisheiten von den Dummheiten trennen und keine Lügen und Ausreden durchgehen lassen. Journalisten sind Wahrheitsfanatiker. Sie haben gelernt, das Schwierige mit einfachen Worten zu sagen. Zum Handwerk des Welterklärers gehört der Mut zur Komplexitätsreduktion: "Einfach werden — radikal/kompliziert, das war einmal."
Der Journalismus muss sich von dem Dünkel verabschieden, Dienstleister allein für die gebildeten Stände zu sein. Er darf nicht auf hohem Kothurn die Welt durchschreiten und mit Verachtung auf jene blicken, die seinen intellektuellen Ansprüchen nicht genügen. Für den Lokaljournalismus wäre ein solches Berufsverständnis der professionelle Tod. Sein gesellschaftlicher Auftrag verpflichtet ihn, allen Gruppen der Gesellschaft vom Hochakademiker bis zum gerade noch des Alphabets kundigen Prekariatsangehörigen ein attraktives Angebot zur Welterklärung zu machen, das sich an ihrem jeweiligen Horizont, ihren Erfahrungen und Kenntnissen orientiert. Fachjargon und subtile Erklärungen können vielen das Weltgeschehen nicht näher bringen. Im Kern des Kontrakts, das der Kunde täglich neu mit den Medien schließt, stehen Verständlichkeit, persönliche Nähe und Emotion. Die trockene Nachricht war noch nie des Lesers Leibgericht.
"Die Regionalzeitung ist das letzte Integrationsmedium"
Am Zeitungskiosk gibt es für jeden Geschmack und für jedes Hobby ein Spezialmagazin. Jeder Bildungsstand und jede Weltanschauung findet eine überregionale Tageszeitung oder ein Wochenblatt, das ihm als Zielgruppe Heimat bietet. Deutschland wird um die Vielfalt seiner Presseorgane beneidet. Doch neben all den zielgruppengerechten Produkten ist die Regionalzeitung das letzte Integrationsmedium in einer von vielen Brüchen geprägten Gesellschaft. Sie spricht in ihrem Verbreitungsgebiet unabhängig von Beruf oder Bildungsstand alle an.
Die Probe aufs Exempel lässt sich schon beim nächsten Arztbesuch machen. Die Zeitung liegt bei der Sprechstundenhilfe zwischen PC und Telefon. Der Doktor hat das Blatt schon daheim beim Frühstück gelesen. Und die Patienten im Wartezimmer schauen genervt auf die Uhr und schlagen die nächste Seite auf. Jeder Verlag ist gut beraten, ein paar kostenfreie Exemplare in jede Praxis zu liefern, damit auch die, die sonst auf die Zeitung verzichten, Appetit auf das Gedruckte und vielleicht auf ein Abo bekommen. Zugegeben, die Wartezimmeridylle ist nicht mehr in jedem Viertel zu Hause. Wo Deutsch keine Umgangssprache mehr ist, da ist auch für die Zeitung verlorenes Terrain. Für eine Redaktion, die auch in künftigen Generationen noch Leser finden will, sind Kindergarten-, Schul- und Integrationspolitik Themen, die ihr Überleben sichern helfen. Und wo ließen sich diese Zukunftsthemen besser bürgernah aufbereiten als in der Lokalausgabe, die von Orten, Menschen und Zuständen handelt, die der Bürger hautnah erlebt? Die Lokalzeitung darf nicht geprägt sein von kühler Distanz. In ihr spiegelt sich eine für den Leser überschaubare Erlebniswelt — durchaus mit Gefühl. In der Lokalzeitung pulsiert das Herz der Region.
Der Lokaljournalist lebt vor Ort und teilt Tag für Tag die Erfahrungen seiner Leser. Er ist ihr bester Verbündeter, kann ihre Wünsche, ihre Kritik aufnehmen, einordnen und öffentlich machen, aber er darf nicht Bauchredner seines Publikums werden. Er muss mutig genug sein, selbstsüchtigen Individual- oder Gruppeninteressen zu widersprechen. Aber auch im Widerspruch argumentiert er nicht vom Schreibtisch, sondern lebensnah. Das macht die Lokalzeitung authentisch. Ihre Erfolgsgleichung lautet: Nahwelt + Überprüfbarkeit durch den Leser = Glaubwürdigkeit.
Die Lokalzeitung ist das Erlebnis der Nahwelt, in der der Journalist Bürgerbeauftragter ist und ein Wächteramt ausübt. Wo Politik sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von inhaltlich nicht mehr nachvollziehbaren Koalitionen oder einer abgehobenen Stadtverwaltung beschränkt, dürfen die Medien nicht nur Chronisten sein. Sie müssen Themen setzen, Widersprüche kenntlich machen und sachgerechte Lösungen einfordern. Gegen eine wohlfeile Rathaus-Rhetorik pocht der journalistische Bürgerbeauftragte darauf, dass gemachte Versprechen gehalten werden, selbst wenn die, denen das Drängeln unbequem ist, dem unnachsichtigen Journalismus das Schmähwort "Medienkampagne" entgegenhalten. Journalismus muss kampagnenfähig und nachhaltig sein, wenn er etwas für die Bürger erreichen will.
Im redaktionellen Alltagsgeschäft zählt die Aktualität. Der Online-Auftritt der Zeitung hat aus dem 24-Stunden-Rhythmus einen Minuten-Rhythmus gemacht. Umso wichtiger ist es für die gedruckte Zeitung, Ereignisse über einen längeren Zeitraum zu verfolgen. Die Kurzatmigkeit des Internets verlangt vom Zeitungsredakteur die Kondition eines Marathonmanns, der über einen längeren Zeitraum sein Ziel nicht aus den Augen verliert. Diese Nachhaltigkeit kann zu einem Alleinstellungsmerkmal der gedruckten Zeitung werden. Vor Ort ist die Einhaltung politischer Versprechen für jeden Bürger durch eigenen Augenschein überprüfbar. Die Lokalzeitung muss dem Bürger die Augen öffnen.
Die Medien sind interaktiv. Brachte der Leser früher seine Meinung zu Papier, adressierte den Brief an die Zeitung und überließ ihn der gelben Post, so tippt er seine Zeilen heute ins Notebook und erwartet prompte Reaktion. Es geht hier nicht nur um Meinungsaustausch. Der Leser ist auch Tippgeber und Nachrichtenlieferant. Eine Recherche ohne die Hilfe von Lesern ist kaum noch vorstellbar – und sei es auch nur ein kleines Detail, das ein Argument schlüssiger oder die Geschichte lesbarer macht. Der Leser ist mehr als Konsument. Er kann und er will mitgestalten. Jede Mailfunktion "Bin erst nächste Woche wieder da. E-Mails werden nicht gelesen!", jede Endloswarteschleife und jede Wanninger-Herumtelefoniererei sind tödlich für das Bündnis zwischen Leser und Redaktion. Die Zeitung, die für den Leser da sein und seine Kenntnisse nutzen will, muss im digitalen Zeitalter verlässlich erreichbar sein, sonst erleidet sie einen Vertrauensverlust. Nichterreichbarkeit ist markenschädlich.
"Das Sieben ist journalistische Kopfarbeit"
Der engagierteste Leser ersetzt den investigativen Journalisten nicht, aber er kann ihn unterstützen. Jede Lieferung aus dem Kreis journalistischer Laien setzt hohen Arbeitseinsatz bei Sichtung und Überprüfung voraus, denn den Zulieferern sind journalistische Kriterien wie Check und Gegencheck, die Regeln von Quellenangabe und Persönlichkeitsschutz fremd. Und gern schleicht sich auch mal üble Nachrede ein. Die Redaktion hat kein Internetsieb wie Vroniplag, mit dem sie Regelverstöße automatisch aussondern kann. Das Sieben ist journalistische Kopfarbeit. Der Leserreporter erspart dem Journalisten keine Arbeit. Er ist kein Sparprogramm. Wer investigativen Journalismus betreiben will, braucht auch künftig akribische Arbeiter, gute Kriminalisten und einen Steher als Chefredakteur. Guter Journalismus ist nicht beim billigen Jakob zu haben. Der Verleger, der nicht nur bedrucktes Papier und einen dpa-Verschnitt im Internet liefern will, muss Qualität finanzieren – in Personal, Technik und Vertrieb, sonst verliert er die Wertschätzung des Publikums. Den guten Ruf.
Lokaljournalismus ist die Königsdisziplin des Gewerbes. Die enge Rückkoppelung an die Leserschaft bewahrt vor Hochmut und Schlamperei. In der Nahwelt sind alle Fakten nachprüfbar. Den Rücktritt des Außenministers zu fordern, Frau Merkel gute Ratschläge zu geben, das ist die leichtere Übung gemessen an der Akribie, die ein Lokaljournalist aufbringen muss, der einem Stadtrat oder einem Behördenvertreter Fehlverhalten nachweisen will. Da muss jedes Detail bis ins letzte belegt sein. Solcher Mut und solche Professionalität prägen die ganze Zeitung, die mit jeder Ausgabe neu den Glaubwürdigkeitstest bestehen muss. Die Glaubwürdigkeit ist Markenkern der Qualitätsmedien. Aber sie ist auch ein verletzliches Gut, das der besonderen Pflege bedarf.
Die Regionalzeitung stiftet Identität. Sie schreibt Stadtgeschichten und macht die Geschichte der Stadt lebendig. Sie unterschlägt nichts und macht die Sorgen der Bürger vor Überfällen und Wohnungseinbrüchen zum Berichtsgegenstand. Sie zeigt die schönsten Bilder aus dem Tierpark und lädt zu Spazierfahrten ein. Sie stellt prominente und weniger prominente Nachbarn vor, die das Leben bereichern. Sie lädt ein zum Theaterbesuch und hat einen Tipp für den Kneipenbesuch danach. Stars und Starlets aus Hollywood gehören zur Fernsehdekoration. Dieter Bohlen betreut im Fernsehen den Nachwuchs, und wer es bei ihm nicht schafft, quält sich durchs Dschungelcamp. Das Stadtgespräch über Kultur hat andere Themen. Der Feuilletonredakteur kann sein Publikum für Konzerte, Theaterpremieren, Ausstellungen und Museen begeistern und den Politikern den Wert der Künste vor Augen führen, damit die bei der nächsten Etatberatung den Rotstift für die Kultur erst einmal in der Schublade lassen. Aber er ist kein windelweicher Lobesam, sondern wird die kulturellen Darbietungen an den Leistungen anderer Kommunen messen. Die Lokalzeitung muss Bewusstsein für die Notwendigkeit des Wettbewerbs wecken.
"Zur selbstbewussten Bürgergesellschaft gehört auch das offene kritische Wort"
Stadtväter, die keine Kritik vertragen und sich im Lokalpatriotismus sonnen, ersticken in provinzieller Muffigkeit. Wer anders als der Lokalredakteur kann diese lähmende Atmosphäre aufbrechen und seinen Lesern vermitteln, dass zur Identität einer selbstbewussten Bürgergesellschaft auch das offene kritische Wort gehört. Selbstbewusstsein verträgt Kritik und ist fähig zur Selbstkritik. Selbstgefälligkeit ist die Haltung der beleidigten Leberwurst. An der Leberwursttheke ist der Lokaljournalist chronischer Spielverderber.
Die Lokalzeitung ist ein Debattenforum. Der Internet-Dialog mit den Lesern ist die zeitgemäße Form der Leserbriefspalte. Hier entsteht ein spontaner lebendiger Meinungsaustausch. Aber allein die Spontaneität als Gewinn zu verbuchen, wäre naiv. Damit diese Dialoge nicht zu einem Abladeplatz von Vorurteilen und Missverständnissen werden, müssen die Redakteure sich als Organisatoren verstehen und den Meinungsaustausch mit dem Input von Klarstellungen und verlässlichen Informationen steuern. Nur dann bieten sie dem Nutzer Erkenntnisgewinn. Eine Zeitung kämpft mit offenem Visier. Das unterscheidet sie vom Dauergerede im Internet.
Bis auf ein paar prominente Blogger verbirgt sich der gemeine Internet-Meinungsvertreter hinter meist kindischen Pseudonymen. Für eine Zeitung mit Haltung gilt: Wir stehen zu unserer Überzeugung. Name statt Anonymität — im Druck wie im Netz. Damit gibt die Zeitung ein Vorbild für einen zivilisierten Meinungsaustausch auch außerhalb des eigenen Mediums. Das Prinzip Zeitung setzt sich ab von der Schwarmintelligenz. Es verteidigt die individuelle Erkenntnis gegen den Massenwahn. Es ist das Gegenmodell zu der vom Fernsehen erfundenen Scripted Reality, in der Laiendarsteller so tun, als wären ihre Drehbuchdialoge das wirkliche Leben. Der Journalist ist weder Schönschreiber noch Schwarzmaler. Er schreibt, was er sieht; wägt, was er hört; erklärt, was dem Leser sonst ein Rätsel mit sieben Siegeln bliebe. Das Kennzeichen seines Berufs sind Wahrheitsliebe und Welterklärung. Aber die Glaubwürdigkeit ist und bleibt sein persönlicher Markenkern.
Der Beitrag ist zuerst erschienen in der Externer Link: drehscheibe 12/2011 zum 30. Jubiläum des Lokaljournalistenprogramms der Bundeszentrale für politische Bildung