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Das Gefühl des Kollektiverlebnisses

Volker Pantenburg

/ 8 Minuten zu lesen

Filmwissenschaftler Volker Pantenburg taucht ein in das Archiv Navina Sundarams und zeigt Verbindungslinien zwischen ihren Arbeiten für den NDR und dem experimentellen Kino der 1960er-Jahre auf.

Eine Aufnahme von dem Filmemacher Jonas Mekas in Hamburg. Navina Sundaram nahm in ihrem Feature "Auf dem Wege zur Glückseligkeit" in der NDR-Sendereihe "Glauben und Denken" aus dem Jahr 1970 Bezug auf Mekas' Film "Hare Krishna". (© pong film/Navina Sundaram)

Archivrecherchen können zu Glücksmomenten führen, aber der Weg dorthin ist oft steinig. Um die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen und die dazwischenliegende Zeit zu überbrücken, müssen Termine vereinbart und Distanzen zurückgelegt werden. Im Idealfall kann man vom Schreibtisch aus Kataloge einsehen und Metadaten studieren, aber bis zu den Quellen ist der Weg weit. Bei Bewegtbildern sind die Schwierigkeiten noch größer, im Fall der öffentlich-rechtlichen Senderarchive waren die Hürden in der Vergangenheit oft unüberwindbar. Ist das gesuchte Material – zum Beispiel ein NDR-Beitrag von Navina Sundaram in der Reihe „Glauben und Denken“ aus dem Jahr 1969, gedreht auf 16mm-Film – schließlich lokalisiert (im Idealfall Bild und Ton, aber auch das ist nicht selbstverständlich), heißt das noch lange nicht, dass eine Sichtung möglich ist. Sollte sie möglich sein, weil der dafür notwendige Schneidetisch noch nicht ausgemustert wurde, ist die weitere Nutzung oder gar Veröffentlichung in weiter Ferne, falls sie nicht ohnehin aufgrund der rechtlich meist komplizierten Lage ausgeschlossen sind.

Lässt man den für lange Zeit üblichen Normalfall archivarischer Recherchen Revue passieren, erscheint das potenzierte Glückserlebnis des Projekts "Die fünfte Wand" wie ein Wunder. Auch hier war der Aufwand beträchtlich – enorme Mengen an kollaborativer Arbeit, viel Zeit und Geduld, schwierige Verhandlungen und taktische Allianzen mussten zusammenfinden, um die oben angedeuteten physischen, rechtlichen und finanziellen Hürden auf ein paar Klicks zu reduzieren. Die gute Nachricht: In den Sendern und ihren Archiven ist etwas in Bewegung geraten, die Hindernisse können durch Beharrlichkeit und Bündnisse überwunden werden. Ein durchschlagender Erfolg: Navina Sundarams Arbeitsbiografie liegt nun auf dem Computerbildschirm vor uns, die Fülle an digitalisierten Dokumenten, TV-Beiträgen, Audio-Files lässt ein beeindruckendes Bild ihrer vielfältigen Aktivitäten im NDR und darüber hinaus entstehen. Ein immer wieder neu kombinierbares Koordinatensystem aus Bildkacheln, jede einzelne ein Pfad durch die bundesrepublikanische und internationale Geschichte, „ein kuratierter Blick auf deutsche Migrations- und Mediengeschichte“, Innen- und Außenperspektive zugleich. Dazwischen, auch das gehört zum Archiv und seinen Kontingenzen, schwarze Flecken und Lücken.

Ein Text Sundarams in der Frankfurter Rundschau vom 19. Dezember 1970 weckt meine Neugier. Der Titel „Das unsichtbare Kino“ ist schwer zu lesen, weil die Tesafilmstreifen, mit denen der ausgeschnittene Artikel aufgeklebt ist, in den vergangenen 50 Jahren stark nachgedunkelt sind. Am oberen Rand sind handschriftlich, ich vermute von Sundaram selbst, Ort und Datum der Veröffentlichung vermerkt. Die beiden Löcher links im Papier deuten darauf hin, dass das Blatt in einem Ordner abgeheftet war – vermutlich zusammen mit weiteren journalistischen Texten.

Das „Invisible Cinema“, eine „Machine for viewing“ im Gebäude der Anthology Film Archives, 425 Lafayette Street, hat heute fast mythischen Charakter, auch wenn es nur bis 1974 existierte. Als Sundaram darüber schrieb, war es ganz neu, die Eröffnung am 23. November 1970 lag erst wenige Wochen zurück. Präzise beschreibt sie die zahlreichen Vorkehrungen, die an diesem Ort getroffen wurden, um die Leinwand für den Zuschauer zum „Mittelpunkt seiner kinematographischen Welt“ zu machen. Die Schwärze des Raums, das Verbot, den Kinosaal nach Beginn der Vorführung zu betreten, die ungewohnte Bestuhlung: „Holzabdeckungen über den einzelnen Sesseln und an beiden Seiten ermöglichen eine Abgeschlossenheit, damit eine Intensivierung der Verbindung mit der Leinwand, ohne dass dadurch das Gefühl des Kollektiverlebnisses verletzt wird.“

Sundarams Text endet mit einer leicht ironischen Gegenwartsdiagnose, in der das „Unsichtbare Kino“ auf die kurze Phase um 1970 bezogen wird, in der Popkultur, Lifestyle und Experimentalfilm zum Zeitgeist gehörten. „In einer Zeit, wo das Klischee hartnäckig bestehen bleibt, daß experimentelle, nicht kommerzielle Filme in alte umgebaute Parkgaragen gehören mit chicen Plakaten, Flippermaschinen, Bars und einem Misch-Masch aus Soul- und Popmusik, in der es Cinematheken gibt, die nur als Sammelbecken für alle Filme dienen und die nicht einmal mit der unübertroffenen, genialen Unordnung eines Langlois geleitet werden, sind Mekas Anthology Film Archivs und Kubelkas Unsichtbares Kino eine aufregende und bahnbrechende Idee.“

Zum Medium des Fernsehens, mit dem sich Sundarams Arbeitsbiografie am engsten verbindet, steht diese aufregende und bahnbrechende Idee in größtmöglichem Kontrast. Die modernistische Wahrnehmungsutopie, die Kubelka gemeinsam mit dem österreichischen Architekten Raimund Abraham verwirklicht hatte, etabliert ein Dispositiv höchster Konzentration und definiert darin einen Gegenpol zur meist zerstreuten TV-Rezeption. Und doch gibt es aufschlussreiche Verbindungslinien zwischen „Invisible Cinema“ und dem NDR, die sich im Archiv der Fünften Wand nachzeichnen lassen.

Im Februar 1970 war Sundarams halbstündiges Feature „Auf dem Wege zur Glückseligkeit“ in der Sendereihe „Glauben und Denken“ ausgestrahlt worden. Die Sendung widmet sich dem spirituellen Glaubensboom zwischen Hinduismus und Hare Krishna und spürt den Reaktionen der Hamburger Bevölkerung nach. Überraschenderweise endet das Feature mit einem fast zweiminütigen Exzerpt aus Jonas Mekas’ Film „Hare Krishna“.

Szenen aus "Auf dem Wege zur Glückseligkeit"

(© Norddeutscher Rundfunk) (© Norddeutscher Rundfunk) (© Norddeutscher Rundfunk) (© Norddeutscher Rundfunk) (© Norddeutscher Rundfunk)

Ein Brief Sundarams an ihre Eltern vom 22. August 1969, mit den anderen Dokumenten zu Mekas Film verknüpft, verrät, wie sehr die Autorin im Sender darum kämpfen musste, ihren Beitrag auf diese Weise enden zu lassen. „I wanted to end it without a great ponderous conclusion – no synopsis dripping with meaning, if you get what I mean”, schreibt sie einen Tag nach der Fertigstellung der Produktion. “So I had used a rather beautiful and weird picture, done by one of the American New Cinema directors, called Jonas Mekas. It’s about a hippy protest march against the war in Vietnam – the great thing going on in America at the moment is singing the lines Hare Krishna, Hare Hare – Hare Rama, Hare Rama, Rama Rama Hare Hare – which they call the Great Chanting for Deliverance – Well Mekas uses this Mahamantra to his very quick moving pictures. And it was with this film that I wanted to end my film – not using it as footage with a commentary or anything corny like that, but using it as a film by Jonas Mekas. Well try getting that across to a mentally walled-in Protestant and Catholic.” Sechs Stunden habe die Diskussion um das Ende des Films gedauert, aber es hat sich gelohnt: Sundaram war erfolgreich.

Jonas Mekas, der in Sundarams Text über das Invisible Cinema als „[d]er sanfte, hochsensible Litauer“ auftritt und dessen Verdienste die Autorin ausführlich würdigt, war Sundaram zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren bekannt. Das in der Chronologie des Archivs letzte Dokument ist eine zweiseitige Eloge auf Hans Brecht, den NDR-Redakteur, der Anfang der 1960er Jahre den „Filmclub“ initiierte und 2007 starb. Das Typoskript ist datiert auf den 20. März 2022, entstand also nur einen Monat vor Sundarams Tod. Sundaram bündelt ihre Erinnerungen an den Pioniergeist dieser Phase, in der nicht nur die Redaktion Filmclub den NDR zu einer experimentellen Plattform machten. „Es war diese Aufbruchstimmung“, erinnert sich Sundaram in einem gut einminütigen Video aus dem Jahr 2018 lebhaft. „Was im Filmclub los war – wo all diese großen Dokumentaristen gefilmt haben mit NDR-Geld. Ob das experimentelle Filmemacher waren wie Kenneth Anger oder Jonas Mekas aus Amerika; die haben mit Geldern vom NDR bestimmte Projekte machen können. Da war große Öffnung.“ In einem späteren Text über Hans Brecht, den Redakteur, der für diese Öffnung mitverantwortlich war, präzisiert sie: „In den frühen 60iger Jahren war der NDR der innovativste Sender der Bundesrepublik und die Kofinanzierung von Filmen festigte diesen Ruf. Die Tagebuchfilme von Jonas Mekas gehörten dazu. Mekas, der mit seinem Bruder Adolfas während des Zweiten Weltkrieges in Elmshorn bei Hamburg Zwangsarbeit verrichten musste und der 1970 mit dem Projekt ‚Anthology Film Archives‘ in New York die wichtigste Sammlung von Avantgarde-Filmkunst gründete. Jonas erste Reise in die alte Heimat nach Litauen wurde aus Brechts Etat ermöglicht.“

Die Suchbewegung durch Sundarams Archiv ließe sich von hier aus in viele Richtungen fortsetzen: Von einem Foto von Kenneth Anger, der 1972 bei den Externsteinen im Teutoburger Wald „Lucifer Rising“ dreht, über ein siebenseitiges Typoskript, ein Porträt Angers mit dem Titel „Kenneth Anger – Der Hüter der Filmkunst“, bis hin zu weiteren Fernsehbeiträgen aus der Frühzeit des NDR oder zu anderen Briefen aus der Zeit um 1970 – vor allem den berührenden und aufschlussreichen Berichten Sundarams an ihre Eltern in Neu-Delhi. Zu den Dokumenten über Mekas gehört auch ein sehr schönes Foto, das ihn 1970 in Hamburg zeigt, wie er – möglicherweise in Sundarams Wohnung vor einem Bücherregal stehend – seine Bolex-Kamera ins Off richtet, in die Zukunft oder die Vergangenheit, von Hamburg aus nach Litauen oder nach New York. In den freundschaftlichen und solidarischen Verweisen auf Mekas und die New Yorker Szene wird eine Wahlverwandtschaft Sundarams spürbar: Weit weg von der eigenen Vergangenheit, in einem anderen geographischen und kulturellen Kontext, gilt es Zusammenhänge zu finden, die „das Gefühl des Kollektiverlebnisses“ ermöglichen, an dem wir als dankbare Besucher*innen der „Fünften Wand“ teilhaben können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Online unter: Externer Link: https://die-fuenfte-wand.de/de/archiv/objekt/das-unsichtbare-kino (Stand: 01.07.2024)

  2. Hare Krishna. Auf dem Wege zur Glückseligkeit. Ein Film von Navina Sundaram, Ausstrahlung 20. Februar 1970. Online unter: Externer Link: https://die-fuenfte-wand.de/de/archiv/objekt/auf-dem-wege-zur-glueckseligkeit (Stand: 01.07.2024)

  3. Wenige Klicks führen von „Die fünfte Wand“ in ein anderes Online-Archiv auf der Website von Jonas Mekas. Als siebter Eintrag der Serie „The First 40“ ist Hare Krishna dort als digitalisierter Film zu finden. Allerdings handelt es sich möglicherweise um eine andere Version, denn Mekas hat sich die Freiheit genommen, sein persönliches Archiv für das Projekt mal weniger, mal mehr zu bearbeiten: „The cycle of FIRST FORTY I made in late 2006 as an introduction to my work for my new, Internet audience. All of them are based on my earlier films but slightly, sometimes more than slightly, changed. I consider them works complete in themselves, seperate from the main body of my film work.“ („Den Zyklus FIRST FORTY habe ich Ende 2006 als Einführung in meine Arbeit für mein neues Internet-Publikum gemacht. Sie basieren alle auf meinen früheren Filmen, sind aber leicht, manchmal mehr als leicht, verändert. Ich betrachte sie als in sich abgeschlossene Werke, die sich vom Hauptteil meiner filmischen Arbeit abheben.“) Online unter: Externer Link: http://jonasmekas.com/40/film_html5.php?film=7 (Stand: 01.07.2024)

  4. "Ich wollte es ohne einen großen, schwerfälligen Schluss beenden - keine vor Bedeutung triefende Zusammenfassung, wenn Sie verstehen, was ich meine."

  5. "Ich hatte einen sehr schönen und seltsamen Film verwendet, der von einem der amerikanischen New-Cinema-Regisseure namens Jonas Mekas stammt. Es geht um einen Hippie-Protestmarsch gegen den Krieg in Vietnam - die große Sache, die im Moment in Amerika stattfindet, ist das Singen der Zeilen "Hare Krishna, Hare Hare - Hare Rama, Hare Rama, Rama Rama Hare Hare" - was sie den Großen Befreiungsgesang nennen - Nun, Mekas benutzt dieses Mahamantra für seine sehr schnellen bewegten Bilder. Und mit diesem Film wollte ich meinen Film beenden - nicht als Filmmaterial mit einem Kommentar oder so etwas Kitschiges, sondern als einen Film von Jonas Mekas. Nun, versuchen Sie mal, das einem geistig eingemauerten Protestanten und Katholiken zu vermitteln."

  6. Navina Sundaram: Für Hans Brecht, zweiseitiges Typoskript, 20. März 2022. Online unter: Externer Link: https://die-fuenfte-wand.de/de/archiv/objekt/fuer-hans-brecht (Stand: 01.07.2024)

  7. Aufbruchstimmung im NDR, Video vom 23. Oktober 2018. Online unter: Externer Link: https://die-fuenfte-wand.de/de/archiv/objekt/aufbruchsstimmung-im-ndr (Stand: 01.07.2024)

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Weitere Inhalte

Volker Pantenburg ist promovierter Filmwissenschaftler und Professor für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2015 gründete er gemeinsam mit anderen das "Harun Farocki Institut", in dessen Vorstand er tätig ist. Aktuelle Buchpublikation: "Aggregatzustände bewegter Bilder" (2022).