Archivrecherchen können zu Glücksmomenten führen, aber der Weg dorthin ist oft steinig. Um die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen und die dazwischenliegende Zeit zu überbrücken, müssen Termine vereinbart und Distanzen zurückgelegt werden. Im Idealfall kann man vom Schreibtisch aus Kataloge einsehen und Metadaten studieren, aber bis zu den Quellen ist der Weg weit. Bei Bewegtbildern sind die Schwierigkeiten noch größer, im Fall der öffentlich-rechtlichen Senderarchive waren die Hürden in der Vergangenheit oft unüberwindbar. Ist das gesuchte Material – zum Beispiel ein NDR-Beitrag von Navina Sundaram in der Reihe „Glauben und Denken“ aus dem Jahr 1969, gedreht auf 16mm-Film – schließlich lokalisiert (im Idealfall Bild und Ton, aber auch das ist nicht selbstverständlich), heißt das noch lange nicht, dass eine Sichtung möglich ist. Sollte sie möglich sein, weil der dafür notwendige Schneidetisch noch nicht ausgemustert wurde, ist die weitere Nutzung oder gar Veröffentlichung in weiter Ferne, falls sie nicht ohnehin aufgrund der rechtlich meist komplizierten Lage ausgeschlossen sind.
Lässt man den für lange Zeit üblichen Normalfall archivarischer Recherchen Revue passieren, erscheint das potenzierte Glückserlebnis des Projekts "Die fünfte Wand" wie ein Wunder. Auch hier war der Aufwand beträchtlich – enorme Mengen an kollaborativer Arbeit, viel Zeit und Geduld, schwierige Verhandlungen und taktische Allianzen mussten zusammenfinden, um die oben angedeuteten physischen, rechtlichen und finanziellen Hürden auf ein paar Klicks zu reduzieren. Die gute Nachricht: In den Sendern und ihren Archiven ist etwas in Bewegung geraten, die Hindernisse können durch Beharrlichkeit und Bündnisse überwunden werden. Ein durchschlagender Erfolg: Navina Sundarams Arbeitsbiografie liegt nun auf dem Computerbildschirm vor uns, die Fülle an digitalisierten Dokumenten, TV-Beiträgen, Audio-Files lässt ein beeindruckendes Bild ihrer vielfältigen Aktivitäten im NDR und darüber hinaus entstehen. Ein immer wieder neu kombinierbares Koordinatensystem aus Bildkacheln, jede einzelne ein Pfad durch die bundesrepublikanische und internationale Geschichte, „ein kuratierter Blick auf deutsche Migrations- und Mediengeschichte“, Innen- und Außenperspektive zugleich. Dazwischen, auch das gehört zum Archiv und seinen Kontingenzen, schwarze Flecken und Lücken.
Ein Text Sundarams in der Frankfurter Rundschau vom 19. Dezember 1970 weckt meine Neugier. Der Titel „Das unsichtbare Kino“ ist schwer zu lesen, weil die Tesafilmstreifen, mit denen der ausgeschnittene Artikel aufgeklebt ist, in den vergangenen 50 Jahren stark nachgedunkelt sind.
Das „Invisible Cinema“, eine „Machine for viewing“ im Gebäude der Anthology Film Archives, 425 Lafayette Street, hat heute fast mythischen Charakter, auch wenn es nur bis 1974 existierte. Als Sundaram darüber schrieb, war es ganz neu, die Eröffnung am 23. November 1970 lag erst wenige Wochen zurück. Präzise beschreibt sie die zahlreichen Vorkehrungen, die an diesem Ort getroffen wurden, um die Leinwand für den Zuschauer zum „Mittelpunkt seiner kinematographischen Welt“ zu machen. Die Schwärze des Raums, das Verbot, den Kinosaal nach Beginn der Vorführung zu betreten, die ungewohnte Bestuhlung: „Holzabdeckungen über den einzelnen Sesseln und an beiden Seiten ermöglichen eine Abgeschlossenheit, damit eine Intensivierung der Verbindung mit der Leinwand, ohne dass dadurch das Gefühl des Kollektiverlebnisses verletzt wird.“
Sundarams Text endet mit einer leicht ironischen Gegenwartsdiagnose, in der das „Unsichtbare Kino“ auf die kurze Phase um 1970 bezogen wird, in der Popkultur, Lifestyle und Experimentalfilm zum Zeitgeist gehörten. „In einer Zeit, wo das Klischee hartnäckig bestehen bleibt, daß experimentelle, nicht kommerzielle Filme in alte umgebaute Parkgaragen gehören mit chicen Plakaten, Flippermaschinen, Bars und einem Misch-Masch aus Soul- und Popmusik, in der es Cinematheken gibt, die nur als Sammelbecken für alle Filme dienen und die nicht einmal mit der unübertroffenen, genialen Unordnung eines Langlois geleitet werden, sind Mekas Anthology Film Archivs und Kubelkas Unsichtbares Kino eine aufregende und bahnbrechende Idee.“
Zum Medium des Fernsehens, mit dem sich Sundarams Arbeitsbiografie am engsten verbindet, steht diese aufregende und bahnbrechende Idee in größtmöglichem Kontrast. Die modernistische Wahrnehmungsutopie, die Kubelka gemeinsam mit dem österreichischen Architekten Raimund Abraham verwirklicht hatte, etabliert ein Dispositiv höchster Konzentration und definiert darin einen Gegenpol zur meist zerstreuten TV-Rezeption. Und doch gibt es aufschlussreiche Verbindungslinien zwischen „Invisible Cinema“ und dem NDR, die sich im Archiv der Fünften Wand nachzeichnen lassen.
Im Februar 1970 war Sundarams halbstündiges Feature „Auf dem Wege zur Glückseligkeit“ in der Sendereihe „Glauben und Denken“ ausgestrahlt worden.
Das Gefühl des Kollektiverlebnisses
/ 8 Minuten zu lesen
Filmwissenschaftler Volker Pantenburg taucht ein in das Archiv Navina Sundarams und zeigt Verbindungslinien zwischen ihren Arbeiten für den NDR und dem experimentellen Kino der 1960er-Jahre auf.
Szenen aus "Auf dem Wege zur Glückseligkeit"
Filmstill aus Navina Sundarams Feature "Auf dem Wege zur Glückseligkeit" (1970) 1/5
Filmstill aus Navina Sundarams Feature "Auf dem Wege zur Glückseligkeit" (1970) 2/5
Filmstill aus Navina Sundarams Feature "Auf dem Wege zur Glückseligkeit" (1970) 3/5
Filmstill aus Navina Sundarams Feature "Auf dem Wege zur Glückseligkeit" (1970) 4/5
Filmstill aus Navina Sundarams Feature "Auf dem Wege zur Glückseligkeit" (1970) 5/5
Ein Brief Sundarams an ihre Eltern vom 22. August 1969, mit den anderen Dokumenten zu Mekas Film verknüpft, verrät, wie sehr die Autorin im Sender darum kämpfen musste, ihren Beitrag auf diese Weise enden zu lassen. „I wanted to end it without a great ponderous conclusion – no synopsis dripping with meaning, if you get what I mean”
Jonas Mekas, der in Sundarams Text über das Invisible Cinema als „[d]er sanfte, hochsensible Litauer“ auftritt und dessen Verdienste die Autorin ausführlich würdigt, war Sundaram zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren bekannt. Das in der Chronologie des Archivs letzte Dokument ist eine zweiseitige Eloge auf Hans Brecht, den NDR-Redakteur, der Anfang der 1960er Jahre den „Filmclub“ initiierte und 2007 starb.
Die Suchbewegung durch Sundarams Archiv ließe sich von hier aus in viele Richtungen fortsetzen: Von einem Foto von Kenneth Anger, der 1972 bei den Externsteinen im Teutoburger Wald „Lucifer Rising“ dreht, über ein siebenseitiges Typoskript, ein Porträt Angers mit dem Titel „Kenneth Anger – Der Hüter der Filmkunst“, bis hin zu weiteren Fernsehbeiträgen aus der Frühzeit des NDR oder zu anderen Briefen aus der Zeit um 1970 – vor allem den berührenden und aufschlussreichen Berichten Sundarams an ihre Eltern in Neu-Delhi. Zu den Dokumenten über Mekas gehört auch ein sehr schönes Foto, das ihn 1970 in Hamburg zeigt, wie er – möglicherweise in Sundarams Wohnung vor einem Bücherregal stehend – seine Bolex-Kamera ins Off richtet, in die Zukunft oder die Vergangenheit, von Hamburg aus nach Litauen oder nach New York. In den freundschaftlichen und solidarischen Verweisen auf Mekas und die New Yorker Szene wird eine Wahlverwandtschaft Sundarams spürbar: Weit weg von der eigenen Vergangenheit, in einem anderen geographischen und kulturellen Kontext, gilt es Zusammenhänge zu finden, die „das Gefühl des Kollektiverlebnisses“ ermöglichen, an dem wir als dankbare Besucher*innen der „Fünften Wand“ teilhaben können.
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Volker Pantenburg ist promovierter Filmwissenschaftler und Professor für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2015 gründete er gemeinsam mit anderen das "Harun Farocki Institut", in dessen Vorstand er tätig ist. Aktuelle Buchpublikation: "Aggregatzustände bewegter Bilder" (2022).
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