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Migrationsgeschichte(n) | Die fünfte Wand. Ein Blick auf Migrations- und Mediengeschichte | bpb.de

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Migrationsgeschichte(n)

Urmila Goel

/ 6 Minuten zu lesen

In einem persönlichen Beitrag geht Urmila Goel auf das Themenfeld Migration im digitalen Archiv von Navina Sundaram ein. Dabei konzentriert Goel sich vor allem auf die Migration aus Südasien.

Szene aus dem Beitrag "Darshan Singh will in Leverkusen bleiben" (1973) von Navina Sundaram. (© Westdeutscher Rundfunk (WDR) / WDR Media Group)

Wenn ich in den letzten Jahren in Deutschland über das Projekt „Die fünfte Wand“ gesprochen habe, gab es sehr unterschiedliche Reaktionen auf die Erwähnung des Namens Navina Sundaram. Die meisten meiner Gesprächspartner_innen, unabhängig vom Alter, konnten mit dem Namen nichts anfangen. Die wenigen anderen haben meist selbst oder ihre Eltern in den 1970er und 1980er Jahren den Weltspiegel gesehen. Viele von ihnen haben eine sogenannte Migrationsgeschichte. Für sie war diese nicht-weiße Frau im Fernsehen wichtig, und dass nicht nur wegen dem, was sie zu sagen hatte – und sie hatte viel zu sagen und tat es eloquent. Auch ich bin mit Navina Sundaram auf der fünften Wand – wenn ich das Bild richtig verstehe – aufgewachsen. Meine Eltern haben regelmäßig den Weltspiegel gesehen und ich wusste, dass es diese Inderin Navina Sundaram gibt.

Viel später begegnete ich ihr auch jenseits der Mattscheibe, im Rahmen dessen, was man als indische Gemeinschaft in Deutschland verstehen kann, der Sundaram kritisch verbunden gegenüberstand. Diese Gemeinschaft diente der Auseinandersetzung mit Indien und Indischem in Deutschland. Auch das digitale Archiv Die Fünfte Wand ermöglicht diese Auseinandersetzung. Es ist eine unglaublich reiche Fundgrube an Material, die ich mir bisher nur in Teilen erschlossen habe.

Migration aus Südasien nach Deutschland

In diesem Text will ich mich dem Themenfeld Migration widmen und vor allem dem nachgehen, was unter dieser Überschrift im digitalen Archiv zu finden ist. Noch stärker möchte ich mich dabei auf mein vorrangiges Forschungsfeld, die Migration aus Südasien nach Deutschland, konzentrieren.

Bis zum Jahr 2000 mit seinen Debatten um „Computer-Inder“ und politischen Slogans wie „Kinder statt Inder“ wurden Migrant_innen aus Indien in Deutschland kaum öffentlich zum Thema gemacht. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Sundaram kaum über sie berichtet. Asylbewerber_innen aus Pakistan und Sri Lanka kommen in ihren Berichten nur am Rande vor. Den indischen Sikhs, die nach den Ausschreitungen 1984 in größeren Zahlen in die Bundesrepublik kamen, bin ich in den bisher gesichteten Berichten nicht begegnet. Aus dem Archiv weiß ich aber, dass die Bundesrepublik indische Geflüchtete aus Uganda aufgenommen hat.

In dem Film „Darshan Singh will in Leverkusen bleiben“ (1973) begleitet Sundaram diese Geflüchteten von Großbritannien bis nach Unna und Leverkusen und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Vertreibung aus Uganda. Das ist eine Stärke ihrer Arbeit und des Archivs. Es thematisiert postkoloniale Verflechtungen und transnationale Zusammenhänge und porträtiert komplexe, auch ambivalente Individuen. Rassistische Ausgrenzungen benennt Sundaram klar. Die Migrant_innen werden in ihrer Darstellung aber nicht zu handlungsunfähigen Opfern. Sie haben Handlungsmacht (Agency) und verhalten sich auch nicht nur „gut“. In dem Fall der aus Uganda Geflüchteten thematisiert Sundaram so auch die ambivalente Position der Inder_innen noch im Herkunftsland Uganda, ihren Rassismus gegen Schwarze und lässt auch einen Schwarzen, Migranten zu Wort kommen.

Urmila GoelZur Bedeutung von Navina Sundaram

Vor zwanzig Jahren erzählte mir meine Studentin Navina Khatib, dass sie nach Navina Sundaram benannt worden war. Als ich im Sommer 2023 an einem Text für das Online-Dossier für „Die fünfte Wand“ saß, musste ich daran wieder denken, und daran, wie meine Kollegin Sonja Hegasy bei unserem Fellowship in Delhi in das digitale Archiv gezogen worden war und sich unendlich viele Filme anschaute. Navina Sundaram hat ganz offensichtlich für verschiedene Menschen eine große Bedeutung. Dem wollte ich weiter nachgehen und machte mich auf die Suche nach Personen, die mit Navina Sundaram auf den Bildschirm aufgewachsen sind oder aber nach ihr benannt wurden. Von Sonja wusste ich es schon, bei Nisa Punnamparambil-Wolf hatte ich es mir gedacht und Nadja-Christina Schneider hatte mir kürzlich erzählt, dass sie ihre Tochter nach Sundaram benannt hatte. Meine Studentin war also nicht die Einzige.

Als ich von meiner Idee sprach, gaben mir die Kuratorinnen von „Die fünfte Wand“ Einsicht in unveröffentlichte Korrespondenz von Sundaram. Es war ein Stapel von Briefen junger Eltern, die ihre Töchter Navina nennen wollten, an die Journalistin. Einige brauchten einen Nachweis für das Standesamt, dass dieser Name existierte. Sundaram schickte ihnen eine Kopie ihres Passes. Die meisten aber fragten nach der Bedeutung des Namens. Sundaram erklärte immer wieder, dass dieser von dem männlichen Vornamen Navin stamme, der neu bedeute, und schrieb zum Teil auch, dass ihr Großvater mit dem Zufügen des A am Ende des Namens einen weiblichen Namen geschaffen hatte.

Ich suchte online nach den Navinas aus der Korrespondenz, fand auch ein paar und kontaktierte zwei, allerdings ohne Erfolg. Ich fand aber noch viele weitere: weiße, blonde Navinas und auch andere. Eine davon war Navina Engelage. In einem Facebook-Post hatte sie einen Nachruf auf Sundaram geteilt und diese als ihre Namensgeberin bezeichnet. Sie reagierte sofort und organisierte ein Zoom-Treffen gemeinsam mit ihrer Mutter. Und als Nadja im Gespräch mit mir davon sprach, dass sich ihre Tochter eigene Navina-Vorbilder gesucht hatte und zu diesen die Fußballnationalspielerin Navina Omilade gehörte, wurde ich hellhörig. Ich suchte nach mehr Informationen zu Omilade und als ich las, dass sie 1981 geboren wurde, vermutete ich, dass auch sie nach Sundaram benannt wurde. Damit lag ich richtig, wie mir Omilade per E-Mail bestätigte. Ganz offensichtlich wurden in den 1970ern und 1980ern sehr viel mehr Mädchen nach Sundaram benannt, als sie ahnen konnte. Und auch später wurden noch Mädchen nach Sundaram benannt, wie Nadjas Tochter in den 2000ern. Da kamen allerdings auch schon die ersten kleinen Navinas zur Welt, die nach Omilade benannt wurden. Der Name war auf dem Weg ein deutscher zu werden.

Heute muss niemand mehr einen Brief an den NDR schreiben, um die Bedeutung des Namens zu erfahren. Es reicht ein Blick auf die unzähligen Vornamen-Seiten online. Viele der deutschsprachigen Seiten haben Navina im Angebot, bieten Erklärungen des Namens an und verweisen auf verschiedene Prominente mit dem Namen, mal auf Sundaram, mal auf Omilade, mal aber auch auf die Schauspielerin Navina Heyne. Die Auswahl scheint dabei willkürlich, deutlich wird aber, dass Navina als ein für den deutschen Sprachraum angemessener Name gilt. Als Vergleich: Urmila erscheint auf den gleichen Seiten viel seltener, ist also nicht in der gleichen Weise eingedeutscht.

Es gibt also mittlerweile eine Vielzahl von Navinas in Deutschland, die mehr oder weniger Bezug zu Sundaram haben. Wichtig bei der Namensgebung scheint vor allem der Klang und die Bedeutung des Namens zu sein. Hatte ich zum Beginn meiner Recherche noch gedacht, dass sich vor allem Eltern mit einer Migrationsgeschichte für diesen Namen entschieden hatten, musste ich die These bald fallen lassen. Ganz offensichtlich hatten schon in den 1970ern und 1980ern viele "Bio-Deutsche" wie die Engelages Sundarams Namen an ihre Töchter weitergeben. In meiner Auswahl der Gesprächspartner*innen zeigte sich, dass der Name für diese das Potenzial haben konnte, sie für globale Ungleichheiten und ihre weißen Privilegien zu sensibilisieren. Navina Engelage reflektierte hierüber ausführlich im Gespräch. Für die interviewten Frauen* mit Migrationsgeschichte, die mit Sundaram aufwuchsen, wiederum war sie gerade auch deshalb bedeutsam, weil sie eine Migrantin war, die selbstbewusst und eloquent im westdeutschen Fernsehen auftrat. Sie eignete sich so für Frauen* mit und ohne Migrationsgeschichte als Vorbild.

Schade, dass Navina Sundaram diese Stimmen nicht mehr hören kann.

Generell zeichnet es Sundarams Werk aus, dass Migrant_innen in ihrer Vielfältigkeit zum Sprechen kommen. Sie selbst bezeichnete sich als „first-class immigrant“. Sie stammte aus einer bedeutenden Familie in Delhi und wurde von der ARD angeworben. In ihren Beiträgen reflektiert sie durchgängig ihre Privilegien sowohl in Indien als auch in Bezug auf ihre Migration in die Bundesrepublik und bezieht klare politische Positionen, sei es zu Rassismus oder zum Interner Link: Abtreibungsverbot in der Bundesrepublik. Ihre Kommentare und Texte zu ihrer eigenen Lebensgeschichte geben einen spannenden Einblick in die Migrationsgeschichte aus Indien in die BRD. Wie erging es dieser sehr privilegierten Migrantin, die mit viel Selbstbewusstsein aus Indien kam? Wie reflektiert sie ihre Erfolge und Hindernisse? Was sagt uns das über die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und das bundesdeutsche Fernsehen?

Sundarams Migrationsgeschichte im Kontext

Die Migrationsgeschichte Navina Sundarams ist eine besondere und gleichzeitig eine ähnliche wie die anderer in den 1950ern bis 1970er Jahren einzeln aus Indien gekommener Migrant_innen. Auch sie kamen aus der Mittel- und Oberschicht, waren geprägt vom säkularen Indien Nehrus und kamen in die Bundesrepublik, um zu studieren, eine Ausbildung zu machen oder eine qualifizierte Arbeit aufzunehmen. Sie waren vergleichsweise privilegiert, auch wenn sie Rassismus erfuhren. Viele konnten sich etablieren und heirateten weiße Deutsche. Im Gegensatz zu Sundaram waren es aber fast alle Männer. Auch mein Vater gehörte dazu und vermutlich auch Vijay Batra, der damalige Ausländerbeauftragte Hamburgs, der im Film „Asyl in der Bundesrepublik“ (1982) zu Wort kommt. Batras Herkunft spielt in dem Film keine Rolle. Für mich als Forscherin zur Migration aus Indien ist es aber eine Quelle, der ich weiter nachgehen kann.

Auch Nilmani Chatterjee kam 1954 aus Indien zum Studium in die Bundesrepublik. Er beendete sein Studium jedoch nicht, sondern nahm verschiedene Jobs an, um seine Familie zu versorgen. Im Film „Zur Ausreise aufgefordert“ (1977) begleitet Sundaram seinen Kampf gegen die drohende Abschiebung. Auch in diesem Film übt sie deutliche Kritik am rassistischen Vorgehen der Behörden, stilisiert Chatterjee aber nicht zum liebenswerten Opfer. Er wirkt nervig und anstrengend – und trotzdem unterstützt Sundaram sein Anliegen und kritisiert den behördlichen Umgang mit Migrant_innen.

Chatterjee ist nicht der Einzige, dem seinerzeit die Abschiebung drohte. Spätestens seit dem Interner Link: Anwerbestopp 1973 versuchte die Bundesrepublik Migrant_innen loszuwerden. Dies galt beispielsweise auch für die Krankenschwestern, die in den 1960er Jahren aus dem südindischen Kerala angeworben worden waren. Seit Ende 1976 kündigten Ausländerbehörden diesen Care-Migrant_innen an, dass ihr Aufenthalt nicht verlängert werden würde. In Baden-Württemberg und Bayern wurde dies weitgehend umgesetzt, während vor allem in Nordrhein-Westfalen die meisten bleiben konnten.

Sundaram berichtet über diese Pflegekräfte aus Indien, soweit ich es weiß, nicht. Es gibt aber Berichte in anderen Archiven des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. So berichteten der SWR 1965 in dem Film „Kann das neue Krankenpflegegesetz dem Schwesternmangel abhelfen?“ und das ZDF 1967 in der Sendereihe „Gesundheitsmagazin Praxis“ mit dem Beitrag „Deutsche Mädchen unter fremder Haube“ über die Anwerbung von Krankenschwestern aus Indien. Beides sind spannende Dokumente zur Situation der Krankenpflege in der Bundesrepublik und ihrer Anwerbung aus dem Ausland. Ihnen fehlt aber der umfassendere, komplexere und postkoloniale Verflechtungen thematisierende Blick Sundarams. In beiden Beiträgen sprechen weiße deutsche Expert_innen über die Anwerbung und die Situation in Indien. Die Migrantinnen werden, zum Teil exotisierend, ins Bild gesetzt, kommen aber selbst kaum zu Wort.

Auf den ZDF-Bericht war ich in den Akten eines Krankenhauses aufmerksam geworden und habe ihn über das Archiv des Senders erhalten. Allerdings konnte mir das ZDF-Archiv keine weiteren Unterlagen und Dokumente zu dem Beitrag geben, da diese nicht archiviert worden waren. Umso wertvoller ist es, dass "Die fünfte Wand" auch Materialen zu den archivierten Filmen Sundarams anbietet. So kann man sowohl mehr über die Motivation und Arbeitsweise von Sundaram als auch über die Reaktionen auf ihre Filme erfahren.

Persönliche Bezüge zum Archiv

Für mich als „InderKind“ sind auf der „Fünften Wand“ nicht nur die Berichte relevant, die direkt etwas mit Indien oder Inder_innen zu tun haben. Der Film „Interner Link: Binationale Ehen“ (1982) hat auch einen direkten Bezug zu meiner Biografie. Sundaram untersucht darin die Verflechtung von Rassismus und Sexismus in den Angriffen auf weiße deutsche Frauen, die mit rassifizierten Migranten verheiratet waren. Sie stellt den Verband IAF (damals: Interessengemeinschaft der mit Ausländern verheirateten deutschen Frauen) und seine Gründerin Rosi Wolf-Almanasreh vor, eine Organisation, die auch für meine weiße Mutter wichtig war.

Am Ende dieses Textes komme ich auf diejenigen zurück, die Navina Sudaram noch aus den 1970er und 1980er Jahren kennen. In Sundarams Korrespondenz finden sich etliche Briefe von Eltern, die ihre Töchter nach ihr benennen wollten und entweder einen Nachweis über die Existenz des Namens Navina für das Standesamt benötigten oder die Bedeutung des Namens erfahren wollten. Gerade bin ich dabei, mit einigen Navinas bzw. deren Eltern in Kontakt zu treten, um mehr über die Bedeutung von Navina Sundaram für sie zu erfahren.

Weitere Inhalte

Die Kulturanthropologin Urmila Goel arbeitet als freiberufliche Wissenschaftlerin und Trainerin. Ihre Schwerpunkte sind Migration und Rassismus, Gender und Sexualität sowie Intersektionalität.