Einleitung
Vor zwei Jahrzehnten drängte Tessa Morris-Suzuki, eine bedeutende Gelehrte der japanischen Kulturgeschichte, Forschende aus der Geschichtswissenschaft und andere dazu, sich mit der Vielzahl von neuen Medien zu beschäftigen, durch die „historisches Wissen“, häufig getarnt als Nationalgeschichte, von der Öffentlichkeit jenseits der Autorität konventioneller, von oben erzählter und linearer Geschichte produziert, in Umlauf gebracht und konsumiert wurde (2005). Morris-Suzuki warnte auch vor der postmodernen Verkündung des „Endes der Geschichte“ und davor, Geschichte zu relativieren und all ihre Repräsentationen als gleichwertig anzusehen. Stattdessen schlug sie den Begriff der „historischen Wahrhaftigkeit“ (historical truthfulness, Übersetzung der Redaktion) vor. Dieser sollte eine Methode und Reflexion dessen sein, wie die Vergangenheit in der Gegenwart erlebt wird, und wie wir durch Forschung, Bewertung, Selbstreflexion, Kollaboration und andere wissenschaftliche und allgemeine Bemühungen ein Verhältnis zu historischer Wahrhaftigkeit entwickeln können.
Manga und kontroverse Geschichtsthemen
Auch wenn Manga in den vergangenen Jahren weltweit beliebt geworden sind, ihre ästhetische Form sich weiterentwickelt hat und der Wert ihrer Herangehensweise an ernsthafte Themen durch wissenschaftliche Forschungen belegt wurde, war dies nicht immer so, insbesondere außerhalb Japans. Art Spiegelmans Maus: A Survivor’s Tale (1986) (Titel der deutschen Übersetzung: Maus. Die Geschichte eines Überlebenden), Joe Saccos Palestine (1993) (Titel der deutschen Übersetzung: Palästina), und in jüngerer Vergangenheit Thi Buis The Best We Could Do: An Illustrated Memoir (2018) (Wir taten unser Bestes: Illustrierte Memoiren, Übersetzung der Redaktion) sind prominente Beispiele von Graphic Novels, welche dafür bekannt geworden sind, die Kunst von Comics mit der Ernsthaftigkeit von Politik und Geschichte zu verbinden.
Kulturhistorische und sozioökonomische Betrachtungen von Manga sind sich bezüglich des Ursprungs von Manga nach wie vor uneinig. Erstere beschäftigen sich mit einer langen, partikularistischen Geschichte der kulturellen Entwicklung, während letztere die Entwicklung von Manga im Kontext des phänomenalen Wachstums Japans in der Nachkriegszeit betrachten (Ingulsrud and Allen 2009). Es würde den Rahmen des vorliegenden Essays sprengen, diese zwei verschiedenen Sichtweisen zu diskutieren oder in Einklang bringen zu wollen. Es genügt festzustellen, dass trotz der unterschiedlichen zeitlichen Einordnung von Manga (zum Beispiel buddhistische Zeichnungen aus dem 12. Jahrhundert vs. grafische Texte aus den 1950ern) beide Ansätze die eindeutig „japanischen“ Ursprünge des Manga-Formats betonen, trotz der vielfältigen Einflüsse von „asiatischen“ und „westlichen“ Arten von Grafik, im letzteren Fall insbesondere seit der Meiji-Periode. Doch trotz ihrer scheinbar simplen Form kann man sagen, dass Manga offiziellem Diskurs und Ideologie oft mit Respektlosigkeit, Spott, Devianz und sogar Dekadenz begegnet sind.
Die sogenannten gekiga, oder „dramatischen Bilder“, die in den späten 1960er erstmals von Tatsumi Yoshihiro, Mizuki Shigeru, Tsuge Yoshiharu und anderen vorgestellt wurden, kritisierten die Amnesie und Mittäterschaft der japanischen Bevölkerung in Bezug auf den japanischen Imperialismus sowie die zunehmende Entfremdung, die die entwicklungsorientierte Planwirtschaft in der Nachkriegszeit hervorbrachte. Shōjo manga, oder „Manga für junge Frauen“ kamen in den 1970ern auf, angeführt von Künstlerinnen wie Hagio Moto, Takemiya Keiko und Ōshima Yumiko. Sie forderten nicht nur Konventionen aus Manga für Jungen heraus wie quadratische Bildrahmen, sondern beschäftigten sich mit Themen wie Sexualität und Feminismus. Natürlich kann das Manga-Format an sich, als Kombination von linguistischen und grafischen Registern, auch dazu genutzt werden, die dominante Ideologie zu stärken. Shōnen Kurabu zum Beispiel, ein Manga-Magazin für Jungen im Jugendalter, welches 1914 gegründet wurde, wurde im Krieg zur Unterstützung des Militarismus und des japanischen Imperialismus instrumentalisiert. Gute Beispiele hierfür waren der bekannte Norakuro, ein Hundesoldat, der heldenhaft die als feige Schweine dargestellten Chinesen besiegt (1931), und Bōken Dankichi, in dem ein junger Held die Herzen und Köpfe der Ureinwohnerinnen und Ureinwohner einer pazifischen Insel gewinnt und die weißen Invasoren besiegt (1933–39). Ein anderer ultranationalistischer Zeichner aus dem rechten Flügel ist der äußerst produktive Kobayashi Yoshinori, der in seinen zahlreichen „gōmanizumu“-Manifesten und mit seinen revisionistischen Sichtweisen sowohl offizielle als auch linke Interpretationen der japanischen Geschichte untergräbt, insbesondere der Kolonial- und Nachkriegsgeschichte. In Taiwan-ron (Über Taiwan, 2000) rechtfertigt er Japans Kolonialherrschaft beispielsweise als „entwicklungsorientiert“, im Gegensatz zu den „ausbeuterischen“ und „extraktivistischen“ europäischen Modellen. Indirekt bestreitet er auch die Existenz sogenannter „Trostfrauen“ und behauptet stattdessen, dass es sich dabei um „Freiwillige“ handelte, die den japanischen Soldaten dienten.
Bevor ich auf Manga als eine nützliche Form kultureller Produktion eingehe, ist es vielleicht hilfreich, kurz den Einfluss japanischer Manga auf ostasiatische Nachbarn wie Festlandchina zu betrachten. Die Aussage, japanische und westliche Imperien hätten einen signifikanten Einfluss auf die kulturelle Entwicklung in der Region gehabt, ist noch untertrieben. Von der Philosophie bis zur Literatur, von der Kunst bis zur Architektur lösten Kolonialismus und Imperialismus eine radikale Neupositionierung der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart aus und leiteten eine neue Ära ein: das, was wir üblicherweise „Moderne“ nennen. Die chinesischen manhua zum Beispiel, ein Lehnwort, das 1920 vom japanischen manga abgeleitet wurde, sind ein chinesischer Verwandter der Manga. Gemeint waren damit vor allem die lyrischen, monochromen Zeichnungen des Künstlers und Autors Feng Zikai. Fengs Stil wurde von zeitgenössischer japanischer Kunst beeinflusst, die Feng während eines Aufenthalts in Tokio kennenlernte. Feng wurde auch von chinesischen Künstlern inspiriert, und sein Stil spiegelte seine Unzufriedenheit mit dem mimetischen Realismus nach westlicher Art wider, welcher in Japan und China eingeführt worden war (Crepsi 4). Noch wichtiger war jedoch, dass die künstlerische Praxis des manhua zügig von Shanghais dynamischer und kosmopolitischer Unterhaltungspresse angenommen wurde, indem ausländische Vorbilder, sowohl japanische als auch westliche, nachgeahmt und neu erfunden wurden. Auch wenn der japanische Einfluss in den chinesischen manhua spürbar war, handelte es sich dabei nie um eine Einbahnstraße, und er war meist verwoben mit und geprägt von Chinas Einfluss, oder, im Fall von Feng, Shanghais besonderer Geschichte von Halbkolonialismus und Kosmopolitismus.
Manga und ihre Bildsprache
Was ist das Besondere an der Form von Manga, das es ihnen erlaubt, vergleichsweise leicht mit Lesenden zu kommunizieren, eine Vielzahl von Untergenres zu entwickeln und vielfältige Themen zu bearbeiten? Einfach ausgedrückt verfügen Manga, wie alle Formen von Medien, über ihre eigene, wenn auch äußerst vielfältige, visuelle Sprache, die sie von anderen ähnlichen Formen wie Graphic Novels unterscheidet und die eine Lesegemeinschaft zwischen Manga-Künstlerinnen und Künstlern und ihrer Leserschaft entstehen lässt. Einige Charakteristika dieser Bildsprache sind leicht erkennbar, insbesondere die Darstellung von Figuren mit großen Augen, kleinen Mündern und spitzen Kinnen. Diese Bildvorlage wird üblicherweise Tezuka Osamu zugeschrieben, der stark von Disney und dem filmischen Format beeinflusst wurde (Cohn 189). Es gibt auch nicht-ikonische Repräsentationen, unter anderem konventionelle Stilmittel, visuelle Symbole und Metaphern, welche sich manchmal im Hintergrund befinden und eine symbolische oder emotionale Bedeutung übermitteln. Beispiele sind riesige Schweißtropfen, die Verlegenheit oder Nervosität zum Ausdruck bringen, oder einfache Veränderungen in der Form von Augen oder Mund, die verschiedene Gefühle vermitteln. Diese Ikonografie kann man wie alle anderen Sprachen oder Dialekte außerhalb der geografischen Grenzen Japans lernen und sich aneignen (Cohn 193). Die japanische Bildsprache beeinflusst heute offensichtlich und zunehmend Kunstschaffende in aller Welt. Manga lesen will erlernt werden, aber ihre Bildsprache erlaubt Kunstschaffenden, ihre Sichtweisen auf konsistente Weise zu übermitteln und eine breite Leserschaft zu gewinnen. Die Bildsprache von Manga kann bei der Entwicklung von Argumenten und der Äußerung von ausdrucksvollen Aussagen über die Welt um uns herum eine „überzeugende“ Rhetorik bieten (Bogost 2007).
Während Manga im Westen erst seit relativ kurzer Zeit Popularität genießen, hat ihr Einfluss in Asien aufgrund von Japans Kolonialismus und Imperialismus in der Region eine längere und kontroversere Geschichte. Antagonistische Gefühle gegenüber der japanischen Herrschaft setzten sich in den Nachkriegsjahren fort: Frühere Kolonien wie Taiwan und Korea sowie Regionen wie Festlandchina und Hongkong, in welche Japan zuvor eingefallen war, verbaten japanische Kulturprodukte weiterhin, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden und unterschiedlichen Ergebnissen. Trotz offizieller Einschränkungen war die Verbreitung von japanischen Manga, Popmusik und Anime im früheren japanischen Reich dennoch möglich, und zwar dank der Praxis der Raubkopien. In den späten 1960ern gelangten Raubkopien von Manga, welche in Taiwan übersetzt und neu gedruckt worden waren, nach Hongkong, und dortige Künstlerinnen und Künstler begannen, die Vorliebe von Manga für längere Geschichten, Kamerawinkel und bestimmte menschliche Merkmale wie Mädchen mit großen Augen und langen Beinen zu übernehmen (Lent 299). Auch wenn japanische Anime für Kinder im lokalen Fernsehen in Hongkong, Taiwan und Südkorea gesendet wurden, wurden visuelle Elemente wie geta-Sandalen, die mit Japan assoziiert wurden, in Südkorea zum Beispiel entfernt, um den japanischen Ursprung von Sendungen wie dem beliebten Doraemon weniger offensichtlich zu machen. Es war die „Nationenlosigkeit“ von Manga und Anime – oder das, was Iwabuchi Kōichi (2002) als ihre „kulturell geruchslose“ Natur bezeichnete – die den Import von japanischer Populärkultur in der Region und darüber hinaus möglich machten. Doch erst Mitte der 1990er Jahre, als Japans wirtschaftliche Blase platzte und seine Industrie verzweifelt versuchte, ausländische Märkte anzuzapfen, entwickelte sich die Populärkultur zu einem wichtigen Exportartikel der japanischen Soft Power – das, was als „Cool Japan“ bekannt war. Als China der Welthandelsorganisation beitrat und formelle Lizenzen die informellen Raubkopien ersetzten, wurden japanische Manga und andere kulturelle Produkte dominante Formen des Konsums durch die Bevölkerungen in der Region. Man kann sagen, dass die Region seit den 1990ern nicht nur im Lesen, sondern auch im Zeichnen der japanischen Bildsprache Kompetenzen und Professionalität erworben hat, und Manga werden dort heute häufig zu Zwecken der Unterhaltung, Information und Kunst genutzt.
In den vergangenen Jahren haben sich Manga zu einem legitimen Feld der akademischen Forschung entwickelt und werden zunehmend für pädagogische Zwecke genutzt. Mit ihren einzigartigen Eigenschaften stellen Manga bei Themen von Biologie zu Geschichte, vom Sprachenlernen bis zu Gesellschaftswissenschaften eine effektive Alternative zu einer vorwiegend textbasierten Bildung dar (Toda and Oh 2021; Iida and Takeyama 2018). Das visuelle Format von Manga kann Lesen für unwillige Lesende und solche mit Lernschwierigkeiten wie Legasthenie ansprechender und fesselnder machen. Manga können auch komplexe Gedanken auf verständliche Bilder und Narrative herunterbrechen und es für Schülerinnen und Schüler leichter machen, schwierige Themen zu verstehen. Wie zuvor erwähnt, kann die Darstellung von Geschichte, Kultur und sozialen Problemen in Manga Lesenden Erkenntnisse in diesen Bereichen vermitteln. Man darf jedoch nicht die „kontroverse“ Natur der Fähigkeit von Manga vergessen, die Diskussion von so umstrittenen Problemen wie der Verwendung der Atombombe oder Japans Ausbeutung der Trostfrauen zu bereichern, zu formen, zu verzerren, abzulenken oder ihnen sogar die historische Grundlage abzusprechen. Die Ergründung komplexer Themen und moralischer Dilemmata in einigen Manga regt Lesende dazu an, kritisch zu denken und Empathie zu entwickeln.
Manga, Desinformation und Verschwörungstheorien
Mit ihrer Zugänglichkeit, ihrer eindeutigen Bildsprache und ihrer sequenziellen Erzählweise sind Manga ein ideales Medium dafür, Menschen über die Gefahren von Desinformation aufzuklären und diese zu bekämpfen. Es braucht pädagogische Bemühungen, um ältere und gefährdete Menschen vor Betrug, Erpressung, Fehlinformation und anderen Arten der Ausnutzung und Manipulation zu schützen. Crowdsourcing und andere Formen, welche auf das Wissen und die Expertise von Menschen setzen, sind jedoch arbeits- und zeitintensiv und ineffektiv darin, die schnelle Verbreitung von gefälschten Inhalten zu verhindern. Genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger, ist es, dass alle Menschen Kompetenzen in traditionellen und neuen Medien sowie die Fähigkeit zum kritischen Denken erwerben, um dadurch in die Lage versetzt zu werden, zunehmend vielfältige Quellen von Nachrichten und Informationen zu navigieren.
Einige komplexere Formen der Desinformation wie Verschwörungstheorien sind jedoch schwieriger im Umgang als Versuche, gutgläubige Konsumenten auszunutzen. Im Gegensatz zum Täuschen von Verbraucherinnen und Verbrauchern zielen Verschwörungstheorien nicht unbedingt auf finanziellen Profit ab, sondern sähen Zwietracht in der Gesellschaft und Misstrauen in etablierte Institutionen. Ihr Endziel ist die Herbeiführung politischer Instabilität. Die große Schwierigkeit, Verschwörungstheorien direkt zu widerlegen, liegt, um es mit den Worten des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek zu sagen, darin, dass sie „Lügen im Kleide der Wahrheit“ sind. Sie beruhen zwar nicht auf empirischen oder wissenschaftlichen Beweisen, aber dennoch liegen verschwörungstheoretische Narrative wie die der Impfgegnerbewegung nicht ganz falsch in ihrer Kritik an der Regierung. Man muss nur bedenken, wie häufig Staaten in der Geschichte ihre eigenen Bevölkerungen unter dem Vorwand von medizinischen Experimenten getäuscht und ihnen Schaden zugefügt haben, insbesondere Schwarzen und Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern. Der Anhängerschaft von Verschwörungstheorien geht es jedoch nicht um solche Gräueltaten, sondern darum, sich selbst als Opfer einer übergriffigen Regierung darzustellen. Anzuerkennen, dass Verschwörungstheorien ein Körnchen Wahrheit enthalten könnten, bedeutet nicht, die politische Agenda einer bestimmten Partei oder Bewegung gutzuheißen. Vielmehr erinnert es uns daran, Morris-Suzukis Warnung vor dem einfachen Akzeptieren einer historischen „Wahrheit“ und eines Universalismus zu Herzen zu nehmen; in unserem Umgang mit politischen Ereignissen stets nach „Wahrhaftigkeit“ zu suchen; und die historischen Umstände zu bedenken, die Verschwörungstheorien und andere „Fake News“ überhaupt erst möglich machten. Wenn wir nicht die grundlegenden Ursachen für Desinformation angehen, die selbstverständlich vielfältig und abhängig von spezifischen historischen Kontexten sind, werden uns auch noch so viel Pädagogik und Schutzmaßnahmen nicht vor dem Ansturm der Desinformation aus allen Richtungen retten können.