Im November 2020 gingen in Tokio Hunderte Personen, die JAnon (einem selbsternannten japanischen Arm von QAnon) anhängen, auf die Straße, um ihre Unterstützung für Donald Trump und dessen Vorwürfe wegen „Wahlbetrugs“ zum Ausdruck zu bringen (Kyodo News, 2020; Mainichi Japan, 2021). Im April 2022 wurden fünf Mitglieder von Yamato Q (einer von QAnon inspirierten Gruppe von Impfgegnerinnen und -gegnern) verhaftet – wegen angeblicher Sabotageakte gegen eine COVID-19-Impfklinik in Tokio mit dem Ziel, „die Leben von Kindern vor Impfungen zu schützen“ (The Yomiuri Shimbun, 2022). Angesichts dieser Vorfälle zeigten sich mehrere Personen aus Journalismus und Wissenschaft besorgt über die Verbreitung extremer Verschwörungsideen aus dem Westen, die in Japan für erhebliche Unruhe gesorgt hätten (Mainichi Japan, 2021; Zimmerman, 2020).
Verschwörungstheorien sind in Japan nichts Neues und kommen häufig in den Massenmedien vor. Ein zentrales Thema der international beliebten Manga-Serien Attack on Titan und Fullmetal Alchemist ist beispielsweise die verschwörerische Manipulation der Geschichte und der technologischen Entwicklung durch die Eliten (Greene, 2022). Weltweit ist dagegen kaum bekannt, welche Verschwörungstheorien außerhalb der Populärkultur in Japan kursieren und welche Eigenschaften ihre Anhängerschaft auszeichnen. Dies liegt daran, dass sich Untersuchungen zu Verschwörungstheorien bisher vor allem auf westliche Länder konzentriert haben und viele Studien zur Situation in Japan nur in japanischer Sprache vorliegen. Vor diesem Hintergrund will der vorliegende Artikel einen Überblick über Verschwörungstheorien im heutigen Japan geben. Dafür kontextualisiert er zunächst diese Theorien auf Grundlage der einschlägigen Fachliteratur. Anschließend quantifiziert er einige Merkmale ihrer Anhängerschaft anhand von Daten aus einer Umfrage, die der Autor 2023 für sein laufendes Forschungsprojekt durchgeführt hat.
Verschwörungstheorien im heutigen Japan
Jüngste Umfragen zeigen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien in Japan durchaus gängig ist. Nach einer Umfrage, die Masaki Hata von der Universität der Präfektur Kyoto 2021 durchgeführt hat, waren etwa 25 % der Teilnehmenden mehr oder weniger davon überzeugt, neue Arzneimittel würden insgeheim an der Bevölkerung getestet. Etwa 27 % vertraten die Auffassung, dass geheime Elitegruppen hinter wichtigen globalen Ereignissen steckten (Hata, 2022). In einem Bericht vom 2023 kamen Shinichi Yamaguchi und Tomoaki Watanabe von der International University of Japan zu einem vergleichbaren Ergebnis: Schätzungsweise bis zu 29 % der japanischen Bevölkerung waren der Überzeugung, eine pädophile Clique würde die Geschicke der USA lenken, und 39 % glaubten an Wahlbetrug bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 (Yamaguchi & Watanabe, 2023).
Fremdenfeindliche Verschwörungstheorien
Moderne Verschwörungstheorien gewannen im Japan der 1980er- und 1990er-Jahre zunehmend an Popularität. Zu den bekanntesten gehört vermutlich die Weltuntergangsrhetorik der religiösen Sekte Aum Shinrikyo, die 1995 einen Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn verübte – mit der Begründung, bösartige ausländische Kräfte hätten sich miteinander verbündet, um Japan einzunehmen und seine Bevölkerung zu versklaven (Tsuji, 2018).
Nach Angaben der japanischen Religionswissenschaftler /-historiker Ryutaro Tsuji (2018; 2019) und Hidehiko Kurita (2019; 2021) sei diese Form fremdenfeindlicher Verschwörungstheorien – vor ihrer Vereinnahmung durch die Sekte – zunächst von revolutionären Verschwörungstheoretikern wie Ryu Ota und Masami Uno propagiert worden. Sie hätten westliche Verschwörungstheorien mit links- und rechtsradikalen ideologischen Strömungen in der japanischen Gesellschaft – wie Anti-Amerikanismus, Ultranationalismus und Revisionismus – verknüpft. Die zentrale Botschaft ihrer Theorien besagte, dass ausländische Kräfte, von den USA, über das Judentum und die Freimaurer, bis hin zu den Illuminati und sogar den Reptiloiden schon lange geplant hätten, das japanische Volk und den japanischen Geist mit unterschiedlichen Methoden zu zerstören. Beispielsweise sei Japan zunächst zu einer Beteiligung am Zweiten Weltkrieg gezwungen und anschließend eine Marionettenregierung im Land eingesetzt worden, um die japanische Bevölkerung einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Da Ultranationalismus im Japan der Nachkriegszeit nicht dem politischen Mainstream entsprach, fanden diese Verschwörungstheorien vor allem über Bücher, Boulevardzeitungen und Manga-Magazine Verbreitung. Die Vorstellung, dass Menschen aus dem Ausland hinter den Kulissen die Fäden zögen, übte auf die Lesenden einen gewissen Reiz aus, spiegelte sie doch ihre damaligen Ängste im Zusammenhang mit der offensichtlichen Machtlosigkeit Japans im Bündnis mit den USA und der politischen Korruption im Land wider, die beispielsweise in der Lockheed-Affäre zum Ausdruck kam (Greene, 2022; Rosenbaum, 2020).
Diese Form fremdenfeindlicher Verschwörungstheorien wurden von anderen Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretikern aufgegriffen und weiter verbreitet. Mit der Zeit etablierte sich daraus eine Subkultur, die um die Themen Nationalismus, Rassismus, Populismus und weitere extremistische Ideologien kreist, welche in der Regel im Mainstream keinen Anklang finden (Penney, 2009; Morris-Suzuki & Rimmer, 2007).
Künstlich erzeugte Erdbeben
Eine weitere populäre Form fremdenfeindlicher Verschwörungstheorien besagt, dass verheerende Erdbeben – von denen in Japan ein hohes Risiko für Naturkatastrophen ausgeht – das Werk ausländischer gegnerischer Kräfte seien (Tsuji, 2012; ASIOS & Woolner, 2011; Sato, 2024). Nach nahezu jedem schweren Erdbeben, vom Großen Kantō-Erdbeben 1923 bis zum Noto-Erdbeben 2024, kamen vergleichbare Verschwörungstheorien auf, in denen behauptet wurde, die Erdbeben seien durch tektonische Waffen ausländischen Ursprungs künstlich erzeugt worden (Kubota, 2024). Eine der elaboriertesten Thesen geht davon aus, dass das große Erdbeben im Osten Japans 2011 und der anschließende Störfall im Atomkraftwerk Fukushima bewusst von den USA und ihrem „Deep State“ herbeigeführt worden seien, um Japan zu schwächen und anschließend die Kontrolle über das Land zu übernehmen (Tsuji, 2012; ASIOS & Woolner, 2011).
Auch bei anderen Krisen kamen Verschwörungstheorien auf, die die „verborgenen Ursachen“ wichtiger Ereignisse aufdecken sollten. Während der COVID-19-Pandemie fanden beispielsweise Verschwörungstheorien weite Verbreitung, in denen behauptet wurde, das neue Coronavirus sei eine Biowaffe aus China (Ministry of Internal Affairs and Communications, 2020) und die Impfstoffe seien Teil eines von Bill Gates arrangierten Plans zur Bevölkerungsreduzierung (Yamaguchi & Watanabe, 2023). Aktuellere Verschwörungstheorien sprachen im Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf den ehemaligen japanischen Premierminister Shinzo Abe 2022 von einem „Insiderjob“ und orientierten sich damit an bereits bekannten Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Ermordung von John F. Kennedy (JFK) (Yamaguchi, 2022).
Rassistische Verschwörungstheorien
Neben ausländischen Personen und Geheimbünden sind ethnische Minderheiten in Japan ebenfalls eine beliebte Zielscheibe nationalistischer und fremdenfeindlicher Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker. Insbesondere Zainichi (Menschen koreanischer Herkunft) sind häufig Opfer von Vorurteilen, die noch aus dem japanischen Kaiserreich stammen (Ito, 2014). Beispielsweise halten viele Rechtsextreme an der inzwischen widerlegten Behauptung fest, die Zainichi hätten mehr gesellschaftliche Privilegien, weil die japanische Regierung und die Massenmedien des Landes hinter den Kulissen von koreanischen Menschen kontrolliert würden (Hata, 2022).
Verschwörungstheorien im Internetzeitalter
Angesichts des Bedeutungsverlusts der Printmedien seit Beginn der 2000er Jahre nutzen viele Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker in Japan inzwischen das Internet, um ihre Behauptungen zu verbreiten. Am aktivsten sind dabei vermutlich die Rechtsaußen-Online-Bewegung Netto-Uyoku. Sie verbreitet ihre nationalistischen und fremdenfeindlichen Diskurse, die auch einige der weiter oben genannten Verschwörungstheorien beinhalten, offen und aktiv über das Internet. Darüber hinaus ist sie für ihre Online-Agitation bekannt – beispielsweise mit Forderungen nach einer Änderung der japanischen Verfassung
Obwohl die Zahl der Anhängerinnen und Anhänger von Netto-Uyoku auf weniger als 2 % aller japanischen Internetnutzenden geschätzt wird, konnten sie ihre Ideologien über das in Japan weitgehend unregulierte Internet (Freedom House, 2023) offen und lautstark verkünden – insbesondere in Foren und über soziale Medien (Tsuji, 2017; Nagayoshi, 2019).
Glauben die Menschen an diese Verschwörungstheorien?
Alles in allem bestätigt diese Befragung (Abb. A) die Ergebnisse vorheriger Studien (Hata, 2022; Yamaguchi & Watanabe, 2023), laut denen ein nicht unerheblicher Teil der japanischen Bevölkerung an Verschwörungstheorien glaubt. Je nach Theorie waren 14,2 % bis 33,3 % der Befragten von einem gewissen Grad der Glaubwürdigkeit