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Podcast: Netz aus Lügen – Das Experiment (6/8) | Digitale Desinformation | bpb.de

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Podcast: Netz aus Lügen – Das Experiment (6/8)

Christian Alt Natalie Mayroth

/ 21 Minuten zu lesen

In Indien haben mittlerweile 750 Millionen Menschen Zugang zu Internet – WhatsApp hat quasi über Nacht das Telefon abgelöst. In der sechsten Folge gehen wir der Frage nach, was die rasante Digitalisierung für die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt bedeutet – und welche Konsequenzen das für das Zusammenleben hat.

Netz aus Lügen - Das Experiment (6/8)

Die globale Macht von Desinformation

Netz aus Lügen - Das Experiment (6/8)

In Indien haben mittlerweile 750 Millionen Menschen Zugang zu Internet – WhatsApp hat quasi über Nacht das Telefon abgelöst. In der sechsten Folge gehen wir der Frage nach, was die rasante Digitalisierung für die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt bedeutet – und welche Konsequenzen das für das Zusammenleben hat.

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Transkript "Netz aus Lügen – Das Experiment (6/8)

[00:00]

ZSP Lobo

"Um den Vorfall zu verstehen, muss man etwa eine Woche zurückgehen, denn was passiert ist, ist nicht einfach so passiert. Da hat sich etwas zusammengebraut - ungefähr fünf, sechs Tage davor gab es viele Gerüchte, die verbreitet wurden."

Es ist Anfang April 2020. Im westindischen Bezirk Palghar brodelt es - per WhatsApp sind Gerüchte im Umlauf. In Gruppenchats wird vor Betrügern gewarnt, vor Kindesentführern oder vor Menschen, die von Dorf zu Dorf fahren, um andere mit Corona zu infizieren. Die indigene Bevölkerung hier, die Adivasi genannt werden, lebt in einfachen Häusern ohne gutem Handynetz.Nicht alle können lesen oder schreiben - aber dort, wo man Netz hat, wird trotzdem WhatsApp genutzt. Günstige Smartphones, mit denen man einfach Sprachnachrichten und Videos aufnehmen kann, kann man ohne Probleme kaufen.

Der Mann, den wir eben gehört haben, heißt Brian Lobo. Er ist seit 25 Jahren Sozialarbeiter im sogenannten "Tribal Belt" Westindiens, in dem hauptsächlich Indigene leben. In dieser Region liegt auch der kleine Ort Gadchinchale.

ZSP Lobo

"Die Gerüchte waren im gesamten Gebiet verbreitet, und sogar darüber hinaus im Palghar-Distrikt, im Thane-Distrikt und sogar in Nandurbar, in verschiedenen Schattierungen war es dasselbe Gerücht mit zwei Erzählungen: Einmal, dass Leute ins Dorf kämen, Räuber oder "Chor" in Marathi, und dass diese Räuber, die ins Dorf kommen Nieren von Menschen entnehmen würden, besonders von Jungen. Zum Zweiten, dass Menschen kommen, die Corona verbreiten."

Brian Lobo bekommt damals, vor dem tödlichen Gewaltausbruch, viele Anrufe aus der ganzen Region. Als Sozialarbeiter ist er so etwas wie eine Vertrauensperson für die Bewohnerinnen und Bewohner. Die Menschen, die anrufen, haben aufrichtig Angst vor Fremden, die zu ihnen fahren, um sie mit Covid-19 anzustecken.

Jingle: Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation - Folge 6 – Das Experiment

Es ist Anfang 2020, die Zeit, zu der auch wir in Deutschland eine - Entschuldigung - Scheißangst vor dem Virus haben. In der Tagesschau sehen wir Todesanzeigen aus der Lombardei, von Menschen, die einsam sterben und schnell aufgebauten Kühlhäusern in New York City. Auch bei uns gehen Falschinformationen per WhatsApp viral - viele bei uns haben zum Beispiel zu Beginn der Pandemie eine Sprachnachricht von der “Mama von Poldi” weitergeleitet bekommen - in der sie sie vor der Einnahme von Ibuprofen warnt, weil das angeblich Corona-Viren vermehre. Totaler Quatsch.

Im indischen Palghar-Distrikt greift damals derselbe Mechanismus - nur dass hier zusätzlich Kinder ins Spiel gebracht werden. Die Menschen haben Angst, dass ihre Kinder entführt werden, jemand ihnen etwas antut, sie gar mit Corona infizieren will. Wir wissen: Falschmeldungen funktionieren, weil sie emotionalisieren. Und viele Menschen lassen sich emotionalisieren, wenn sie von vermeintlich tödlichen Gefahren für ihre Kinder hören.

Brian Lobo versucht zu beruhigen und davon zu überzeugen, keine Gewalt anzuwenden, sondern stattdessen die Polizei zu rufen. Und ihm Bescheid zu sagen, falls sie auf Diebe treffen. Doch viel unternehmen kann Lobo im Lockdown nicht.

Am 16. April 2020 eskaliert die Lage. Aus den Gerüchten wird reale Gewalt.

ZSP India Today "Nichts war beunruhigender als der Lynchmord in Palghar ... nachdem es Gerüchte gab, dass sie Kinder entführen."

Am 16. April 2020 werden im westindischen Dorf Gadchinchale im Bezirk Palghar drei Menschen von einem Mob getötet. Bewohnerinnen und Bewohner in Gachinchale hatten ein unbekanntes Auto abends herumfahren sehen - in dem zwei Hindu-Mönche und ihr Fahrer saßen. Sie waren unterwegs zu einer Beerdigung im benachbarten Bundesstaat Gujarat, mussten aber wegen des Lockdowns an einem geschlossenen Grenzübergang umkehren. Das wirkte offenbar verdächtig. Die Männer werden mit Stöcken und Äxten bedroht, aus dem Auto gezogen und zu Tode geprügelt.

Und das wegen viraler Falschinformationen.

[05:00] Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker und in diesem Podcast geht es um Desinformation, also Lügen, die Gesellschaften polarisieren sollen, sie zweifeln lassen an demokratischen Institutionen, an Parteien und dem politischen System. In dieser Folge sprechen wir über die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, Indien. Mit einer Bevölkerung von knapp 1,4 Milliarden Menschen ist Indien der größte Markt für viele internationale Internetkonzerne, nachdem sich China weitestgehend abgeschottet hat. WhatsApp und Youtube haben über 400 Millionen Nutzerinnen und Nutzer in Indien. Diese große Zahl ist aber nur eine Seite der Geschichte, denn gleichzeitig sehen Beobachterinnen und Beobachter Indien zunehmend autokratischer werden. Neue IT-Gesetze, die die Verschlüsselung von Messengern aushebeln sollen, wurden erlassen.

[06:01] Um all das wird es heute im Detail gehen. Zuerst wollen wir uns aber Indiens Digitalisierung ansehen. Denn Indien hat hier eine rasante Entwicklung hinter sich. Allein in den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Menschen mit Internetzugang von 126 Millionen auf über 750 Millionen gestiegen. Vor allem seit Indiens schwerster Multikonzern, Reliance Industries Limited , einen Breitbanddienst mit ausgesprochen niedrigen Tarifen auf den Markt gebracht hat. „Jio” heißt das Produkt. Seit September 2016 bietet „Jio” 4G-Netz an und hat auch günstige Telefone im Angebot.

Es ist eine Erfolgsgeschichte: Nach wenigen Monaten hatte Jio 100 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, deren Zahl hat sich also in vier Jahren vervierfacht. Nur um sich das einmal vorzustellen: Der indische Netzbetreiber Jio hat mehr Kundinnen und Kunden als die USA Einwohner. Quasi über Nacht hatten Millionen von Inderinnen und Indern schnellen Zugang zu Online-Nachrichten, YouTube-Videos und Social-Media-Plattformen.

Sogar der amtierende indische Premierminister Narendra Modi war auf der Werbung für Jio prominent zu sehen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich "Jio" zu einer umfassenden Plattform für digitale Dienste. Der letzte Streich ist ein Smartphone, entwickelt zusammen mit Google für 76 Euro inklusive zwei Jahren Datenvolumen.

ZSP Partnerschaft Jio und Google

Zwar kostet es immer noch etwa das halbe Monatsgehalt eines Tagelöhners, doch es ist wesentlich günstiger als andere Smartphones und online erhältlich.

Und genau wie in Deutschland machen sich auch in Indien politische Parteien, diese Technik zu nutze.

Eine der effektivsten Digitalstrategien hat die in Indien regierende hindunationalistische Volkspartei Bharatiya Janata Party, kurz BJP. Sie setzt nicht nur auf ein Heer an Freiwilligen, die statt nur in der Fußgängerzone zu stehen und Flyer zu verteilen, im Internet für ihre Partei werben - sie setzt auch auf die Macht des Staates. Wer einmal online ein Zugticket in Indien gekauft hat, bekommt E-Mails der Regierung. Wer eine staatliche Webseite im Browser wie die des Zoos von Delhi öffnet, wird von dem freundlichen Gesicht des Premiers Narendra Modi begrüßt. Dessen Kommunikation mit der Bevölkerung läuft auch über seine digitalen Kanäle - Pressekonferenzen gibt er fast nie. Dafür können Bürgerinnen und Bürger Modi aber jeden Monat in seiner Radiosendung in bis zu 24 Sprachen hören und sich Yoga-Übungen auf der "Narendra Modi-App", kurz Namo-App, ansehen. Die regierende BJP ist die mit Abstand erfolgreichste Partei im digitalen Aufmerksamkeitskampf, aber auch die anderen Parteien kommunizieren viel digital, um ihre Wählerschaft anzusprechen und ihre Kampagnen voranzutreiben.

Und die Digitalisierung Indiens wird auch von der Regierung vorangetrieben: Sie wirbt seit 2015 für ein Projekt namens "Digital India". Mit "Digital India" soll das Online-Angebot für Bürgerinnen und Bürger verbessert werden, indem die Internetanbindung in Indien erhöht wird, zudem soll es ihnen ermöglichen, digital Dienste der Regierung nutzen zu können und Kompetenzen aufzubauen.

ZSP Mali

"Vom ersten Tag an habe ich gesagt, dass das ‘Digitale Indien’ niemals erfolgreich sein wird, solange es nicht in jedem Haushalt im letzten Dorf eines jeden Bundesstaates ein Smartphone gibt. Das schließt Adivasi - Indigene - mit ein. Wenn die Regierung ‘Digital India’ umsetzen will, in dem man auch mit einer App digital bezahlen kann, was sie vorhat, dann muss sie die Instrumente dafür gratis zur Verfügung stellen. Warum gibt es keine zentralen Stellen dafür, die Smartphones verteilen? Erst wenn es auch in der letzten Hütte ein Smartphone gibt, wird die ‘digitale Revolution’ in Indien passieren."

Das erzählt uns Prashant Mali, der Gründer von "Cyber Law Consulting". Er ist IT-Anwalt in Mumbai und empfängt uns in einem in einem hellen, aufgeräumten Raum - ein ganz schöner Bruch zu dem Chaos auf den Straßen. Neben seiner Tätigkeit als Anwalt für Cyber- und Datenschutzrecht am ‘Bombay High Court’, dem Obergericht in Mumbai, schult er unter anderem Personal von Polizeibehörden.

Er erzählt uns, welche Rolle Smartphones heutzutage in der indischen Gesellschaft spielen. Heute geben viele Menschen mehrere Monatsgehälter für Smartphones aus. Sie sind zum neuen Statussymbol geworden, auch wenn die Menschen es sich nicht immer leisten können. Und der Hunger nach Smartphones, nach Internetzugang, der zeigt sich auch in den Nutzungszahlen der großen Plattformen, erzählt uns der Anwalt Prashant Mali.

ZSP Mali

"Früher wollten in Indien alle Fahrzeuge: Fahrräder, Motorräder, Autos sollten es sein. Aber heute ist das Mobiltelefon das Wunschobjekt. Wir sind also vom Auto zum Handy gereist. Das digitale Indien ist das neue Indien. In der alten Welt hat man sich auf Fahrzeuge für die Fortbewegung verlassen. Heute, im neuen Indien, muss man sich nicht mehr bewegen - die Dinge kommen zu dir. Mit dem Handy wird das möglich. Ich denke, dass das Handy in Indien einen Wendepunkt markiert hat."

Man muss jetzt kein Volkswirt sein, um zu verstehen: Wenn eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen plötzlich digitalisiert wird, dann sehen die großen Internetgiganten darin eine ganz große Chance. Knapp 750 Millionen Kundinnen und Kunden, die googlen, twittern, instagrammen, facebooken oder whatsappen - das gibt dem Börsenkurs der Unternehmen mächtig Aufwind. Der indische Markt ist also sehr wichtig für die großen Techgiganten. Und diese Macht ist auch der indischen Regierung bewusst.

Zitat Prasad

"Es steht Ihnen, den Tech-Giganten, frei, in Indien Geschäfte zu machen. Es steht Ihnen frei, tonnenweise Geld in Indien zu verdienen. Kein Problem. Doch sie sollten lernen, die Gesetze Indiens zu respektieren."

Das sagt Ravi Shankar Prasad von der regierenden Bharatiya Janata Party, der von Mai 2019 bis Juli 2021 IT-Minister im zweiten Kabinett von Modi war. Ihm ist es wichtig, dass ausländische Firmen Indiens "Digitale Souveränität" respektieren. Wie diese Souveränität aussehen kann, das hat TikTok schon erfahren: Seit einem Grenzkonflikt an der indisch-chinesischen Grenze im Sommer 2020 hat Indien 59 chinesische Apps verboten. Darunter auch TikTok, das zum chinesischen Mutterkonzern Bytedance gehört.

[13:15] Der ehemalige IT-Minister Prasad deutet an, wie sich Internetfirmen am indischen Markt bereichern. Das prominenteste Beispiel ist WhatsApp, das zu Facebook, das sich im Oktober in Meta umbenannt hat, gehört. WhatsApp ist in Indien überall: Lehrende kommunizieren darüber mit ihren Schülerinnen und Schülern, Arbeitgeber mit ihren Angestellten, und auch Politikerinnen sind über WhatsApp erreichbar, allerdings mit Nebenwirkungen. Noch einmal der Anwalt Prashant Mali.

ZSP Mali

"WhatsApp wurde in Indien quasi über Nacht populär und löste das Telefon als Hauptkommunikationsmittel ab. Was geschah, war, dass eine Menge Gerüchte, Fake News und falsche Informationen über WhatsApp weiterverbreitet wurden - was A) zu Unruhen und B) zu Selbstmorden führte."

Nach unserem Besuch in Palghar, also dort, wo drei Menschen wegen Falschinformationen getötet wurden, treffen wir uns in Mumbai mit dem Filmemacher Karan Khosla. Er kennt wie viele junge Menschen ähnliche Diskussionen über falsche Nachrichten in der Familien-WhatsApp-Gruppe. All die Falschnachrichten laufen am Ende auf WhatsApp zusammen, jeder ist dort - vom Wachmann bis zu seinen Freundinnen und sieht sich die Videos an, sagt er.

ZSP Khosla

"Auch wenn es vielleicht in einer Facebook-Gruppe oder auf Twitter oder wo auch immer geteilt wurde, die meisten werden es auf WhatsApp sehen."

Die Pandemie hat Karan Khoslas Leben durcheinander gewirbelt. Pläne zunichte gemacht. Gerade wohnt er mit 30 wieder mit seiner Familie zusammen und erzählt uns von täglichen hitzigen Diskussionen, die auch durch WhatsApp-Gerüchte aufkommen.

ZSP Khosla

"Im Moment gibt es viele polarisierende Nachrichten - entweder ist es so, oder genau das Gegenteil. Das verwirrt die Menschen und öffnet Räume für Falschinformationen, die sich, wie ich finde, andere zu nutze machen."

Um Desinformation zu lesen, muss Khosla daher nicht lange suchen, denn vieles komme über Familien-WhatsApp-Gruppen, seine "größte generationsübergreifende Kommunikationsplattform".

ZSP Khosla

"In den letzten drei, vier Jahren sind Falschinformationen in die Höhe geschossen. Einfach so, es ist so seltsam. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Es gibt so viele, dass alles im Chaos versinkt – und vielleicht ist es das, was die Leute wollen? Es gibt jetzt mehr polarisierte Meinungen, oder vielleicht haben die Leute jetzt weniger Angst, sich zu äußern, weil sie eine Plattform bekommen haben, auf der sie sagen können, was sie wollen, und es gibt keine Konsequenzen für die Leute, die Hass verbreiten. Sie kommen ungeschoren davon, besonders, wenn sie gegen Minderheiten sind."

So wie Khosla geht es vielen Millionen jungen Inderinnen und Inderinnern. Sie sind in Familiengruppen, in denen Links mit Falschinformationen geteilt werden. Ein Zustand, der so normal ist, dass sogar WhatsApp selbst diese Situation aufgreift, um eine Werbekampagne drumherum zu bauen. 2018 brachte die Plattform Werbespots in Indien heraus, die das Problem angehen wollte. Share joy, not rumors - war der Werbe-Claim. Teile Freude, keine Gerüchte.

ZSP Werbung

"Meet Kavya, she lives away from her family, first time, but very close to their hearts on the family's WhatsApp, but today she's a little serious. Foofa Ji (Oncle) has forwarded some random fake news on the family group. Kavya called him right away…."

In der Werbung ist eine junge Inderin zu sehen, die bemerkt, dass ihr Onkel in der Familiengruppe Falschinformationen teilt. Sie spricht ihn darauf höflich an. Der Onkel merkt sofort, dass er einem viralen Hoax aufgesessen ist und verlässt die Gruppe, aus der er den Link hat. Danach wird gefeiert.

So einfach ist die Desinformationsbekämpfung natürlich nur in der Werbung. Wie hart der tägliche Kampf gegen die Whatsapp-Links ist, das erzählt uns HR Venkatesh. Er ist seit über 17 Jahren Journalist. Seit mehreren Jahren ist er bei der mehrsprachigen Fact-Checking-Webseite "Boom Live". Sie arbeiten - wie Correctiv in Deutschland - mit Facebook zusammen und waren einer ihrer ersten Fakten-Check-Partner in Indien.

ZSP Venkatesh

"Die Menschen bekommen diese Art von falschen Informationen auf ihre Handys, Fernsehbildschirme, Laptops, in ihre WhatsApp-Gruppen, auf Facebook und so weiter. Sie kommen aus allen Ecken, zu jeder Tageszeit aus der ganzen Welt. Wenn es sich um Propaganda handelt, kommen 1000 Nachrichten dieser Art. Jede Nachricht füttert ein bestimmtes Narrativ, das eine bestimmte Sichtweise transportiert. Die kann faktisch falsch, politisch intendiert sein, oder sie zielt schlicht darauf ab, das Verhalten von Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken."

HR Venkatesh glaubt, dass die schnellen Digitalisierung Indiens dafür mit verantwortlich ist. Ist ja irgendwie auch logisch - wenn man einer Milliarden-Bevölkerung digitale Technik in die Hand drückt, dann gibt es Probleme. Er meint: Es fehlt an Medienkompetenz.

ZSP Venkatesh

"Der Mangel an Medienkompetenz ist auf jeden Fall ein brennendes Problem. Es ist eine Krise in Indien, und ich denke, überall sonst auf der Welt auch. Und diese Krise ist eine akute Krise."

HR Venkatesh findet, dass schon in der Schule eine digitale Grundbildung vermittelt werden sollte. Die Gesellschaft muss mehr Zugang zu Bildung haben, um weniger auf Gerüchte und Falschinformationen reinzufallen.

[18:52] Das wäre die eine Methode. Mehr Fact-Checking. Mehr Aufklärung. Modis BJP versucht dem Problem gerade anders Herr zu werden: mit neuen Gesetzen.

ZSP Video Internet Freedom Foundation

"Imagine in India where an authority can order the decryption of any of your messages well the i.t decryption rules actually do exactly that they dictate that a competent authority can pass an order to decrypt or monitor or intercept any of your messages."

Das ist ein Video aus dem März 2021. Es stammt von der indischen Nichtregierungsorganisation Internet Freedom Foundation, die sich für digitale Rechte und Freiheiten einsetzt. Sprich: sie kämpfen öffentlich und vor Gericht gegen die neuen IT-Gesetze. Die Gesetze wurden im Februar 2021 vorgestellt und verabschiedet - nun wird ihre Verfassungskonformität gerichtlich geprüft, da Gerichte einzelner Bundesstaaten diese in Frage gestellt haben.

Bei den neuen IT-Gesetzen geht es um zwei Kernpunkte: Einer ist die Rückverfolgung der Herkunft von Informationen. Das heißt, die Absender von Nachrichten auf Messengern wie WhatsApp, die eigentlich verschlüsselt sind, müssen weitergegeben werden, wenn diese angefragt werden. Falls sich diese Person im Ausland befindet, gilt dies für den ersten Empfänger oder die erste Empfängerin in Indien.

Einen ersten Fall, der zeigt, wie problematisch die neuen Regeln sind, gibt es schon im Frühjahr 2021 - also zur Hochzeit der Delta-Welle in Indien. Soziale Netzwerke wie Twitter weurden genutzt, um nach Sauerstoff, Medikamenten oder freien Betten in Krankenhäusern zu suchen . Erstmal eine tolle Sache - Menschen suchen online nach Hilfe. Sie organisieren sich schnell und effizient. Nur haben die Hilfesuchenden die Rechnung nicht mit der Regierung des nordindischen Bundesstaates Uttar Pradesh gemacht. Denn hier wurden Menschen, die online nach Hilfe suchen, geahndet . Schließlich hatte der Ministerpräsident Yogi Adit Yyanath von der BJP doch gerade erklärt, dass es im Bundesstaat an nichts fehle. Gegen einen jungen Mann namens Shashank Yadav wurde zum Beispiel ein Strafverfahren eingeleitet, weil der per Twitter versuchte Sauerstoff für seinen Großvater zu besorgen .

So viel zum ersten Punkt der Gesetze. Der zweite Schwerpunkt: Große Social-Media-Firmen müssen in Indien einen Beschwerdebeauftragten ernennen . Twitter hielt sich nicht daran und hat deshalb laut indischer Regierung am 5. Juli 2021 seinen Haftungsschutz für nutzergenerierte Inhalte verloren. Das heißt: Twitter haftet wenn Nutzer und Nutzerinnen etwas posten, was gegen indische Gesetze verstößt. Grund dafür war die Nichteinhaltung der neuen Regeln durch das Unternehmen – sie hatten bis dato keinen Verantwortlichen benannt, um Nutzerinhalte auf der Plattform zu kontrollieren.

Die indische Regierung sagt, das Gesetzeswerk sei nötig, Giganten wie Facebook und Twitter in die Verantwortung zunehmen, etwas gegen Falschinformationen zu unternehmen. Doch der Knackpunkt, also wer die Deutungshoheit über Wahrheit und Falschmeldung haben wird, stimmt die UN-Menschenrechtskommission „zutiefst beunruhigt” . Sie sieht die neuen Gesetze nicht mit Menschenrechtsnormen im Einklang . Die Sonderberichterstatter sehen den Schutz des Rechtes auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit, wie das Recht auf Privatsphäre in Gefahr .

Auch der indisch-deutsche Historiker Benjamin Zachariah sieht große Probleme bei den neuen IT-Gesetzen, verweist aber noch auf ein noch viel größeres Problem: Denn wir gehen aus westlicher Sicht selbstverständlich von einer pluralistischen Meinungsvielfalt in Indien aus - die sieht er aber gar nicht mehr als unbedingt als gegeben an.

ZSP Zachariah

"Was die eher kontrollieren wollen, ist Zugang zu unabhängiger Information. Was hauptsächlich weniger in Indien zu finden ist, weil es sehr viele Medien, Medienhäusern von den gleichen Unternehmen geführt wurden. Und die sind loyal zu der BJP."

Zachariah spricht an, dass viele Medienhäuser ein Finanzierungsmodell haben, dass sie abhängig von Werbeeinnahmen der Regierung macht oder sie gehören Großunternehmerinnen und Großunternehmern, die ihre eigenen Interessen verfolgen.

ZSP Zachariah

"Es ist einfach viel zu gefährlich, in der Öffentlichkeit etwas zu bringen, was die Regierung nicht wahrhaben möchte." Anwalt Prashant Mali findet die neuen IT-Gesetze trotzdem notwendig, da Indien seit 2015 gesetzlos gewesen sei.

ZSP Mali

"Indien hatte bereits ein Gesetz. Dieses Gesetz wurde von Politikerinnen und Politikern bzw. der amtierenden Regierung missbraucht. Der Oberste Gerichtshof hat es daher außer Kraft gesetzt. So wurde Indien schließlich gesetzlos, wenn es um grob anstößige Inhalte oder Bilder oder anderes, das im Internet veröffentlicht wurde, ging."

Die Herausforderung der neuen Gesetze: Eine unabhängige Stelle ist nötig, um zu prüfen, was gegen die Regeln verstößt, so der Anwalt Prashant Mali oder der Fakten-Checker HR Venkatesh. Jener "ressortübergreifende Ausschuss" soll allerdings vor allem aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Ministerien bestehen, sowie aus Fachleuten und Organisationen. Die Herausforderung liegt darin, soziale Medien zu regulieren, ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Anwalt Mali findet die neuen IT-Gesetze nicht streng.

ZSP Mali

"Sind die Gesetze streng? Ich denke nicht. Die Gesetze mögen hart sein, aber in der Realität haben sie geringe Auswirkungen. Es gibt nur 1 bis 2 % Verurteilungen."

Mali spricht von Millionen offener Verfahren an Indiens Gerichten.

Dazu komme, dass viele Inderinnen und Inder keine Ahnung über die Rechtslage haben und auch nicht, was eine Straftat ist. Nicht nur Mali plädiert daher für mehr Aufklärung und Weiterbildungen der Bevölkerung - nicht nur in Sachen Social Media.

Die IT-Gesetze sind zwar noch neu, aber trotzdem: Es gibt schon erste Beispiele, die Organisationen wie Reporter Ohne Grenzen besorgt auf die Entwicklungen in Indien schauen lassen und dazu beitragen, dass das Land im Jahr 2021 im Pressefreiheitsindex auf Platz 142 von 180 landet.

Da ist zum Beispiel der Fall Rana Ayyub. Eine Journalistin, die in der Vergangenheit kritisch über die BJP-Regierung berichtet hat. Sie teilt im Juni 2021 ein Video auf Twitter. Darauf ist zu sehen, wie Hindus mutmaßlich einen Muslim angreifen. Nach diesem Posting wurde gegen sie, weitere Medienschaffende und Twitter Indien eine Beschwerde von der Polizei von Uttar Pradesh eingereicht, ein "First Information report" die Vorstufe einer Anzeige mit Berufung auf die neuen IT-Gesetze.

Die freie Meinungsäußerung ist zwar in der indischen Verfassung verankert, allerdings mit bestimmten Beschränkungen, um religiösen oder sozialen Spannungen vorzubeugen. Dieser Punkt wurde nach der Auslegung der Regierung damit auf Twitter überschritten, es kam zu einem Schlagabtausch zwischen Twitter und der indischen Regierung. Rana Ayyub passierte erstmal nichts, denn das Obergericht in Mumbai, wo sie lebt, gewährte ihr im Juni eine Entlassung auf Kaution über vier Wochen. Ayyub löschte den Tweet mit dem Video. Das Gericht hat mittlerweile Protest gegen die IT-Gesetze eingelegt und einige Regeln ausgesetzt - was für ganz Indien gilt.

Zitat Freedom House

"Die von Premierminister Narendra Modi und seiner hindunationalistischen BJP geführte Regierung hat eine diskriminierende Politik betrieben und die Gewalt gegen die muslimische Bevölkerung verstärkt." schreibt die Organisation Freedom House über Indien. Sie stufte Indiens Demokratie 2021 von "frei" zu "teilweise frei" herab.

Und während die Regierung immer besser darin wird, unliebsame Stimmen ein bisschen leiser zu machen, wird sie auf Social Media immer lauter.

Zitat Shah

"Wir sind in der Lage, jede beliebige Botschaft an die Öffentlichkeit zu bringen, egal ob sie schmeichelt oder bitter ist, wahr oder falsch ist. Wir können das nur, weil wir 3,2 Millionen Menschen in unseren WhatsApp-Gruppen haben. So schaffen wir es Nachrichten, viral gehen zu lassen."

Das sagt Amit Shah, BJP-Spitzenpolitiker bei einer Rede 2018 in der Studentenstadt Kota im Nordwesten Indiens.

[27:24] Die Führungsriege der hindunationalistischen Regierungspartei-BJP ist sich bewusst, welchen Einfluss sie durch soziale Medien hat, ihre ehemalige Konkurrenz die Congress-Partei hat sie weit abgehängt. Spezialisiert auf die Verbreitung von Nachrichten ist die Social-Media-Abteilung, die IT Cell. IT Cell meint eigentlich nur: Das sind die Leute, die sich um den Internetauftritt der Partei kümmern. Sie ist das Herz der Informationsmaschinerie und dominiert die Social-Media-Landschaft, indem sie politische Narrative setzt und aggressiv vorantreibt und ihre Botschaft auf verschiedenen Ebenen verstärkt: national bis hin zur kommunalen Ebene, wobei Millionen von "Freiwilligen" eine Rolle spielen. Ihr Ziel ist es, dass Botschaften der Partei jede Person mit Internetzugang erreichen.

Einer dieser Freiwilligen ist Devang Dave.

ZSP Dave

"Als ich im College war, habe ich angefangen, dem damaligen Ministerpräsidenten Herrn Narendra Modi, der heute Premierminister ist, mit Kleinigkeiten zu helfen. Ich habe Videos bearbeitet und einige erstellt. Ich habe immer Vorschläge gemacht, die gut waren und auf den offiziellen YouTube-Kanälen veröffentlicht wurden. So habe ich angefangen."

Devang Dave ist ein Aufsteiger wie Premier Narendra Modi. Beide kommen aus einfachen Verhältnissen, kommen aus Gujarat, und sind mit der Bharatiya Janata Party, kurz BJP, gewachsen – politisch wie finanziell. Einst lebte Dave mit seiner Familie in Mumbai in einer Einzimmerwohnung. Heute kreiert er Wahlkampagnen für die BJP, gibt Social-Media-Trainings für Politikerinnen und Politiker wie Freiwillige und leitet eine Werbeagentur. Am Arm trägt er eine Smartwatch, die häufig während des Gespräches blinkt. Er scherzt, dass er 10.000 Nachrichten am Tag bekommt.

ZSP Dave

"Wir suchen uns das Medium aus, mit denen wir Menschen am besten erreichen können. Also haben wir mit dem YouTube-Kanal der BJP angefangen. Wir haben auch einen YouTube-Kanal für Narendra Modi aufgesetzt, damals war er Ministerpräsident von Gujarat. In der Vergangenheit wurden von Medien viele seiner Reden nur auszugsweise der Öffentlichkeit gezeigt. YouTube bietet uns eine parallele Plattform, auf der wir auf alles, was wir kommunizieren wollen, aufmerksam machen können."

Devang Dave möchte die Meinungshoheit nicht den Medienschaffenden überlassen, sondern nur seiner Partei. Dave ist wie viele andere höhere BJP-Mitglieder sehr aktiv, öffentlich tritt er als Jugend Social Media-Leiter der BJP auf.

Laut Dave bekommen in der Social-Media-Abteilung, der IT-Cell, die Ehrenamtler lediglich eine Aufwandsentschädigung für die Lebenshaltungskosten. Medienberichte sprechen dagegen von durchaus lukrativen Gehältern. Obwohl die Mitglieder der IT Cell durch ihre Tätigkeit in der Regel keine Reichtümer anhäufen, profitieren sie auf andere Weise: Innerparteiliche Kontakte. Die Mitarbeitenden profitieren durch Mitgliedschaften und Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen. Dave selbst arbeitet nach eigener Aussage unentgeltlich, gerade als Wahlleiter. Seinen Unterhalt verdiene er mit seiner Werbeagentur, mit der er kürzlich in größere Räume gezogen ist.

Verschiedenen Medienberichten zufolge rühmen sich Mitglieder der IT-Cell, Zugang zu rund zwei Millionen WhatsApp-Gruppen zu haben. Mit einem Klick soll eine Botschaft damit an 150 Millionen Menschen versendet werden können. Ob das jetzt digitales Muskelspiel ist oder wirklich stimmt - beweisen kann das außer der IT-Cell niemand.

Was für Außenstehende auch nicht transparent ist: welche Botschaften genau in den Gruppen geteilt werden. Welche Inhalte sind es wirklich, die der Onkel aus der WhatsApp-Werbung Gruppe verschickt hat? Sind das Posts wie die von Devang Dave, die genau auf Parteilinie sind?

[31:20] Oder sind es Dinge, vor denen die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen gewarnt hat?

Zitat SEC Disclosure Letter

"Nutzer, Gruppen und Seiten der RSS, eine indische nationalistische Organisation, fördern angstmachende, antimuslimische Narrative, die auf die pro-hinduistische Bevölkerungsgruppen abzielen mit Gewalt und Aufwiegelung als Absicht..."

So heißt es in einem Bericht, der dem US-Kongress vorgelegt wurde. Frances Haugen erzählt hier von erschreckenden Posts, die sie auf indischen Facebook-Seiten gesehen hat.

Haugen erstattet Beschwerde bei der US-Börsenaufsichtsbehörde SEC aus den oben genannten Gründen und zwar gegen die erwähnte pro-hinduistische Freiwilligenorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh, kurz RSS. Der Grund: "Förderung von Hassrede". Jetzt muss man wissen: Die RSS, die sich gerne als Kulturverein beschreibt, steht der hindunationalistischen Volkspartei BJP nicht nur nahe, sie bildet quasi deren Rückgrat. Einige hochrangige Politikerinnen und Politiker der BJP sind oder waren in der RSS aktiv.

Historiker Benjamin Zachariah ordnet die RSS so ein:

ZSP Zachariah

"Der RSS ist jetzt die längste lebendig faschistische Bewegung der Welt, die 1924 etabliert worden ist. Nach dem Modell von den Italienern und danach von dem Modell der deutschen Hitlerjugend. Und die hatten das oft in ihren eigenen Literatur erwähnt. 1978 haben die gesagt, dass die Nazis die richtige Idee mit den Juden hatten und dass es in Indien um die Muslime gehen sollten. Und es sollte genau so geführt werden als bei den Nazis in Deutschland." Frances Haugen findet, dass Facebook etwas gegen die RSS auf ihrer Plattform unternehmen soll. Weiter heißt es im Whistleblowerinnen-Bericht, dass Beispiele gefunden wurden, dass auch in Indien Politikerinnen und Politiker "gefährliche Fehlinformationen" verbreiten. Aus dem Zusammenhang gerissene Videos schürten eine "anti-pakistanische und anti-muslimische Stimmung".

Wie kann das passieren? Wie kann es sein, dass im indischen Facebook Muslime mit Hunden verglichen werden, wie Whistleblowerin Haugen es schildert, und es die Plattform nicht interessiert. Ihrer Einschätzung nach ist dem Netzwerk Indien nicht wichtig genug. Auch wenn dort Millionen Nutzerinnen und Nutzer leben - 87 % des globalen Budgets im Kampf gegen Hate Speech und Desinformation wird in Nordamerika ausgegeben. Dort leben aber nur 10 Prozent aller Facebook-Nutzerinnen und Nutzer. Der Rest der Welt… der muss sich anscheinend selbst um seine Probleme kümmern.

PAUSE

Wir wissen, das klang jetzt alles recht düster in dieser Folge. Aber tatsächlich gibt es ja Hoffnung - die kommt von Menschen wie HR Venkatesh, dem Fact-Checker. Von seiner Profession gibt es inzwischen viele in Indien - weil der Bedarf einfach so riesig geworden ist. Oder die Hoffnung kommt von Institutionen wie den Gerichten, die neue Gesetze auf Verfassungsmäßigkeit prüfen. Oder eben aus der Bevölkerung selbst.
Denn die Menschen in Gadchinchale, dem Ort, wo Anfang 2020 drei Menschen ermordet wurden, sind immer noch mitgenommen. Eine kollektive Trauer hängt über dem Dorf erzählt uns Dilip Pawar. Wir treffen ihn auf dem Weg nach Gadchinchale. Er findet: Damit sich solche Vorfälle nicht mehr wiederholen, braucht es mehr Bildung. Erst recht für die Adivasi, also die indigene Bevölkerung, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft benachteiligt sind.

[35:00] Das war die sechste Folge von Netz aus Lügen. Und während wir uns in dieser Folge viel mit Problemen beschäftigt haben, gehen wir in der nächsten Folge in ein Land, von dem es in den deutschen Medien oft hieß, es sei das Vorzeigeland im Kampf gegen Desinformation. Taiwan.

ZSP Lee

"Wenn man es vergleicht mit der Situation vor ein paar Jahren, dann würde ich sagen, dass es besser geworden ist, denn die Leute wissen über Desinformation Bescheid. Vielleicht denken sie nach, bevor sie diese einfach teilen. Aber um ehrlich zu sein: Es ist noch ein langer Weg. Es ist zwar besser geworden, aber noch nicht gut genug."

Natürlich hat auch die taiwanesische Gesellschaft kein Zaubermittel gegen Desinformation gefunden, aber ein paar interessante Ansätze die gibt es schon - mehr dazu in der nächsten Folge.

Diese Folge wurde geschrieben von Christian Alt und Natalie Mayroth, Übersetzung: Hindi/Marathi Mayur Yewle. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Simone Halder. Fact-Checking: Karolin Schwarz.

“Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation” ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Die Folgen stehen unter der Creative Commons Lizenz und dürfen unter Nennung der Herausgeberin zu nichtkommerziellen Zwecken weiterverbreitet werden. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schickt uns doch eine Mail an E-Mail Link: podcast@bpb.de. Und falls ihr noch nicht abonniert habt, tut das doch mal schnell. Denn in zwei Wochen kommt auch schon die nächste Folge. Bis dahin! Tschüss!

Netz aus Lügen - ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Erstveröffentlichung: Dezember 2021.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Christian Alt ist Audiojournalist, Buchautor und Gründer der Podcast-Agentur "Kugel und Niere". Für sein Feature "Eine Verschwörungstheorie Marke Eigenbau" wurde er mit dem Robert-Geissendörfer-Preis ausgezeichnet.

Natalie Mayroth arbeitet als Journalistin und hat sich auf Südasien spezialisiert. Sie berichtet über aktuelles Zeitgeschehen, Kultur und Gesellschaft. 2021/20 wurden ihre Recherchen durch das European Journalism Center gefördert. 2017 kam sie zum ersten Mal nach Indien mit den Medienbotschafter-Stipendium der Bosch-Stiftung.