Halbwahrheiten sind Falschaussagen, die zu einem Teil auf tatsächlichen Ereignissen, zu einem anderen auf fiktiven oder spekulativen Inhalten basieren, oder die reale Sachverhalte übertreiben, umdeuten oder in falsche Zusammenhänge stellen. Als Instrument eines postfaktischen politischen Diskurses sind sie sehr erfolgreich und schwerer zu entlarven als offensichtliche Lügen.
Der Begriff des 'Postfaktischen' ist seit 2016 omnipräsent und wurde damals von der Deutschen Gesellschaft für Sprache sogar zum Wort des Jahres gewählt. Er beschreibt einen politischen Diskurs, für den die Orientierung an Tatsachen kaum noch eine Rolle zu spielen scheint – eine Beobachtung, die sich 2016 vor allem auf die Brexit-Kampagne und auf den ersten Wahlkampf Donald Trumps bezog.
Vier Jahre später, nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2020, behaupteten Trump, Mitglieder der republikanischen Partei und zahlreiche Anhänger*innen erneut, es habe massenhaften Wahlbetrug gegeben und Präsident Trump sei darum der eigentliche Gewinner der Wahl. Zum Beweis wurden abermals – neben offenkundigen Lügen – Halbwahrheiten ins Feld geführt, so ein aus dem Kontext gerissener Videoschnipsel des damaligen demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden, der unter anderem von der frisch gewählten republikanischen Kongressabgeordneten Marjorie Taylor Green verbreitet wurde. Biden sagt in dem Videoclip, herausgeschnitten aus einem Interview zehn Tage vor der Wahl: "Wir haben, glaube ich, die größte und umfassendste Wählerbetrugsorganisation in der Geschichte der amerikanischen Politik aufgebaut".
Faktische Orientierungslosigkeit
Halbwahrheiten haben, mit der Philosophin Hannah Arendt gesprochen, das Potenzial zur 'Entschränkung' des politischen Diskurses.
Im Nachdenken über Halbwahrheiten und andere Formen der Desinformation ist es gleichwohl hilfreich, diese nicht als Gegenstück zu einer wie auch immer gearteten 'Wahrheit' anzusehen, sondern sich an ideologiekritischen Überlegungen zu orientieren, wie sie die kritische Theorie bereits vor einem halben Jahrhundert entworfen hat. Damit ist nicht gemeint, Halbwahrheiten als Ideologeme zu verstehen, also Bestandteile von Weltanschauungen, aus denen sich ein besonderer Blick auf die Welt ergibt. Stattdessen soll diese Beschreibung dabei helfen den Blick auf gesamtgesellschaftliche Bedingungen und politische Rechtfertigungsprozesse zu weiten. Der Philosoph Theodor W. Adorno schrieb schon in den 1950er-Jahren,
Vom Reiz der Halbwahrheit
Nicht alle Halbwahrheiten lassen sich so einfach widerlegen wie die oben zitierten Beispiele, die einen vermeintlichen Wahlbetrug plausibel machen wollen. Doch selbst für diese gilt, dass Überprüfung und Richtigstellung nicht ausreichen. Zum einen geht man den Halbwahrheiten mit einem Faktencheck nämlich insofern auf den Leim, als man ihre Suggestion, es ginge tatsächlich um empirische Evidenz, ernst nimmt. Außerdem kann der Faktencheck leicht den Eindruck erzeugen, dass bereits die Berufung auf die richtigen Fakten zum "alternativlosen" Handeln führe – ein problematischer Schluss, weil er dazu beiträgt, wichtige Fragen unserer Gesellschaft einer Diskussion zu entziehen und zu entpolitisieren. Zum anderen erfasst man mit dem Faktencheck aber auch noch nicht, wie Halbwahrheiten im postfaktischen politischen Diskurs funktionieren und warum sich ihre Anhänger*innen in der Regel als immun gegen jede Gegenevidenz erweisen.
Viele Halbwahrheiten haben nämlich die Form von kleinen Geschichten – man denke etwa an die Horrorstories, die im Kontext der Querdenker-Proteste über das Impfen verbreitet wurden und die häufig als Halbwahrheiten angelegt waren, also Angstphantasien durch kleine faktisch korrekte Elemente zu beglaubigen suchten. Mit dem Gerücht teilen solche Halbwahrheiten-Geschichten den Modus ihrer Verbreitung und eine Neigung zum Fabulieren. Mit politischen Anekdoten teilen sie ihre Kürze, ihren Anspruch auf Faktizität und Repräsentanz. Im Unterschied zu Anekdoten gewinnen die Halbwahrheiten des postfaktischen Diskurses jedoch allein durch ihre Rahmungen, z.B. durch bestimmte politische Narrative, an Interesse. Für diese Narrative stellen Halbwahrheiten ein wichtiges Element in der Produktion von Glaubwürdigkeit dar: sie geben vor, Beweise für diese Narrative zu liefern. In Wirklichkeit tun sie dies jedoch gerade nicht. Stattdessen schlagen sie die Brücke zu einem Modell von Wahrheit, das allein auf der Kohärenz mit bisherigen Überzeugungen basiert.
Die Stille Post der Halbwahrheiten
Halbwahrheiten-Geschichten verbreiten sich häufig rasant, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Sie werden nicht nur rezipiert, sondern häufig auch weitergegeben und dabei nach dem 'Stille-Post-Prinzip' modifiziert, erweitert und um weitere Erzählstränge ergänzt. In diesem Sinn sind sie, mit einem Begriff des Literaturwissenschaftlers Fritz Breithaupt gesprochen, 'multiversional,' existieren also häufig in mehreren unterschiedlichen Versionen gleichzeitig.
Halbwahrheiten-Geschichten verfügen also über eine gewisse Offenheit; in ihrer Weitergabe kann eine Lust am Fabulieren ausgelebt werden. Im Weitererzählen von Halbwahrheiten-Geschichten werden ihre Rezipient*innen Teil eines Kollektivs, in dessen Produktionsprozess sie sich eingliedern. Halbwahrheiten zielen so auf Teilhabe und Teilnahme in einem doppelten Sinne: Teilnahme an der kollektiven Produktion von Halbwahrheiten; und Teilhabe an einem Kollektiv, das nicht nur gemeinsam an den Halbwahrheiten arbeitet, sondern sich zugleich über diese Halbwahrheiten immer wieder seiner Zusammengehörigkeit versichert – ein aktuelles Beispiel für eine Bewegung, die fast ausschließlich auf diesem Prinzip der digitalen Co-Fabulation beruht und auf diese Weise immer neue bizarre Verschwörungsmythen produziert und diese mit Hilfe von Halbwahrheiten und anderen Formen der Desinformation zu beglaubigen versucht, ist die in den USA verbreitete
Ein Slogan der Verschwörungstheoretischen Q-Anon Bewegung lautet "Where we go one - We go all" und unterstreicht damit das Gemeinschaftsgefühl, dass diese Bewegung ausmacht. (© picture-alliance/dpa)
Ein Slogan der Verschwörungstheoretischen Q-Anon Bewegung lautet "Where we go one - We go all" und unterstreicht damit das Gemeinschaftsgefühl, dass diese Bewegung ausmacht. (© picture-alliance/dpa)
Die Nutzer*innen von Halbwahrheiten geben die Orientierung an der Realität jedoch nicht vollständig auf. Denn innerhalb eines demokratischen Diskurses können sie ihre Sicht auf die Welt nicht einfach autoritär setzen, sondern müssen dafür werben, müssen mit ihrer Perspektive diskursiv überzeugen. Dafür sind Halbwahrheiten da. Sie dienen als Einstieg in den postfaktischen politischen Diskurs. Denn sie suggerieren durch den Bezug auf kleine faktisch korrekte Elemente und tatsächliche Ereignisse eine Orientierung an der Realität. Gleichzeitig funktionieren sie aber wie Geschichten, die viel mehr der Bestätigung bisheriger Überzeugungen, der alltäglichen Wahrnehmung, der Kanalisierung von Stimmungen und Emotionen verpflichtet sind und dafür massiv auf Spekulation und Fiktion zurückgreifen.
Um sie zu entkräften, braucht es nicht nur einen Faktencheck, sondern ergänzend auch einen 'Fiktionscheck,' der untersucht, wie Halbwahrheiten die Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben, zwischen Fakten und Meinungen einebnen und was für Geschichten dabei eigentlich transportiert werden. Denn die Konjunktur der Halbwahrheiten ist – ebenso wie die der Desinformation generell – natürlich kein rein diskursives Problem, das man durch eine 'Bereinigung' des politischen Diskurses lösen könnte. Sie wirft viel mehr die Frage auf, was das für eine Gesellschaft ist, in der die Praxis der Desinformation so erfolgreich werden konnte, also welche sozialen, politischen und medialen Strukturen das 'Postfaktische' begünstigen. Und zu erkennen, was mit den Halbwahrheiten in den Köpfen der Menschen imaginär aufgerufen und konstruiert wird, hilft, um die richtigen Fragen nach diesem sozialen Grund zu stellen.