Das Gedenken an den "Großen Vaterländischen Krieg", wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, bewahrt nicht nur die Erinnerung an die Niederlage des Faschismus, sondern auch an das Überleben der vom Untergang bedrohten Nation. Er ist das bedeutendste heroische und einigende Geschehen in der jüngeren russischen Geschichte und wird heute aktiv genutzt, um den Nationalstaat zu festigen. So wurde das "Erbe des Zweiten Weltkrieges" von der russischen Regierung instrumentalisiert, um die Annexion der Krim (2014) zu rechtfertigen. Das Narrativ – die Ukraine sei ein neonazistischer Staat, der die russischsprachige Bevölkerung bedrohe – ist in den vergangenen acht Jahren nicht verschwunden: Dieselben
Die Instrumentalisierung des "Großen Vaterländischen Krieges"
Die Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde von der Mehrheit der russischen Bevölkerung unterstützt
Die russische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg weist eine Reihe von Besonderheiten auf. Erstens ist der Kampf gegen den Faschismus eng mit der nationalen Identität Russlands als "Großmacht" und als "Befreier Europas" verknüpft. Diese Erinnerung wird vor allem im Zusammenhang mit der internationalen Ordnung, die sich mit dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hat, hochgehalten. Auch im Kontext der Emotionen, die mit dem vermeintlichen Statusverlust nach dem Untergang der Sowjetunion einhergehen, wird sie gepflegt. Zweitens sind die Kraft und die Bedeutung des russischen kollektiven Gedenkens an den Krieg zum Teil das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit von Ideologen. Diese wirkten schon in der Sowjetzeit, doch sie verstärkten ihre Bemühungen in der jüngeren Vergangenheit, um aus der wachsenden Popularität des "Tages des Sieges" Kapital zu schlagen
Der Krieg gegen die Ukraine in den russischen Massenmedien 2014/15
Die Darstellung des russischen Krieges gegen die Ukraine im Fernsehen ist von besonderer Bedeutung angesichts der Tatsache, dass sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung als Hauptinformationsquelle auf die Nachrichtensendungen des staatlichen Fernsehens verlässt. Soziologischen Umfragen vom Juni 2014 zufolge beziehen 94% der russischen Bevölkerung den Großteil ihrer Informationen über die Welt aus dem Fernsehen.
Das vielleicht auffälligste Merkmal der russischen TV-Berichterstattung über die Proteste in der Ukraine war die Betonung der Rolle der rechtsradikalen Euromaidan-Aktivisten. Dass diese Gruppe als "Faschisten" bezeichnet wurde, kann als Versuch gesehen werden, die kollektive Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg" wachzurufen und zu instrumentalisieren. Besonders auffällig war dies in den Nachrichtenbeiträgen des Perwyi kanal,
Die Art der Fernsehberichterstattung änderte sich nach der Annexion der Krim und dem Beginn der "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Regierung im Südosten der Ukraine. Die russische Regierung versuchte, den Krieg im Donbas zu legitimieren, indem sie mit dem Begriff "Neurussland" (Noworossia) den Sprachgebrauch der Zeit Katharinas der Großen wiederbelebte und historische Aufstände gegen eine westliche Bedrohung damit in Verbindung brachte.
Bereits vor Russlands Angriffskrieg 2022 gab es in der Ukraine Proteste gegen russisch-sprachige TV-Sender. (© picture-alliance, NurPhoto | Dominika Zarzycka)
Bereits vor Russlands Angriffskrieg 2022 gab es in der Ukraine Proteste gegen russisch-sprachige TV-Sender. (© picture-alliance, NurPhoto | Dominika Zarzycka)
Diese Narrative sollten die Verbindung zwischen dem Donbas und Russland festigen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch die Unterstützung der "Separatisten" als Ziel kommuniziert wurde. Gleichzeitig wurden die ukrainischen Streitkräfte immer wieder (und oft fälschlicherweise
Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbas (2014/15) in den russischen Sozialen Medien
Anfang der 2000er Jahre war Zhivoi Zhurnal (Livejournal.com) die wichtigste Blogging-Plattform, aber Mitte der 2010er Jahre überholten Soziale Netzwerke die Blogs, und das "Liken" und "Teilen" von Beiträgen wurde zur gängigsten Methode der Online-Kommunikation.
Russischsprachige pro-ukrainische Kommentatoren in den Sozialen Medien zogen dagegen häufig eine Parallele zwischen Putin und Hitler und beschuldigten Putin, ein "Faschist" zu sein - ein Vorwurf, der auch für den russischen Oppositionsdiskurs seit langem charakteristisch ist, in dem Putin oft als "Putler" bezeichnet wird und kremlnahe Jugendorganisationen (wie "Naschi", "Molodaia Gvardiia Yedinoi Rossii" und "Idushchie vmeste") oft als "Putinjugend" bezeichnet werden.
Das Narrativ vom "ukrainischen Faschismus" passt zusammen mit verschiedenen Verschwörungstheorien, die derzeit in den Sozialen Medien Russlands kursieren und oft auch von staatlichen Fernsehsendungen befeuert werden.
Kontinuität und Wandel - Sprachliche Kriegsführung 2022
Während der Kreml 2014 die scheinbar unblutige Übernahme der Krim feierte und in Russland T-Shirts verkauft wurden, auf denen Putin als "höflicher" Präsident einer "höflichen" Armee zu sehen war, müssen sich 2022 selbst die größten Unterstützerinnen und Unterstützter der "Militärischen Spezialoperation" eingestehen, dass es auf (pro-)russischer Seite zivile und militärische Opfer gibt. Im Jahr 2014 hat die russische Regierung jegliche Beteiligung russischer Soldaten in der Ukraine abgestritten, was zu Euphemismen wie "ikhtamnety" (die nicht Anwesenden) oder "höfliche Männer" führte.
2014 bemühte sich die russische Regierung noch, die Erzählung zu verbreiten, dass ukrainischen Faschisten versuchen würden russischsprachige Menschen in der Ukraine zu töten. Acht Jahre später hat sich das Narrativ in mehrfacher Hinsicht geändert. Die erste Änderung betraf das Wort "faschistisch". 2022 hat die russische Regierung konsequent den Begriff "Nazi" und die Wendung "Entnazifizierung der Ukraine" verbreitet.
Eine Narrativ, das ebenfalls kontinuierlich auftaucht, ist die Erzählung der EU als "Viertes Reich". Als die Ukraine 2014 das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnete, sprach die russische Propaganda von einer weiteren "erzwungenen europäischen Integration" und illustrierte die Aussage mit einem Foto aus dem Jahr 1944, auf denen deutsche Kriegsgefangene in einem befreiten Kiew vorgeführt werden.
Der größte Unterschied zu 2014 liegt aber darin, dass 2022 mehr Länder als "Nazi"“ bezeichnet werden. Während 2014 Obama seine "blutigen Hände von Noworossia" lassen sollte, werden 2022 die Kritiker von Russlands Invasion als Nazis etikettiert, die gleichen Nazis, die 1941 gegen die Sowjetunion kämpften und 2022 gegen Russland. Das knüpft an das Narrativ der Russenphobie an, welches nahelegt, dass der gesamte Westen seit hunderten von Jahren in Angst und Schrecken vor Russland gelebt habe.
Um die Unterstützung der "Spezialoperation im Donbas" eine breitere Basis zu verschaffen, hat sich der Kreml 2022, Gerüchten zufolge in Zusammenarbeit mit der Chefredakteurin von Russia Today Margarita Simonyan
Bei den Paraden zum "Tag des Sieges" 2022 ist das "Z" als Zeichen der Unterstützung für Putins Krieg gegen die Ukraine mit dabei. (© picture-alliance, dpa/TASS | Sergei Fadeichev)
Bei den Paraden zum "Tag des Sieges" 2022 ist das "Z" als Zeichen der Unterstützung für Putins Krieg gegen die Ukraine mit dabei. (© picture-alliance, dpa/TASS | Sergei Fadeichev)
Kontinuität in der Rhetorik gab es hingegen bei dem sogenannten Gayropa-Narrativ, das das Bild einer Bedrohung Russlands durch den vereinten Westen erzeugen soll. Ein Hauptargument 2013/14 gegen die europäische Integration der Ukraine war die Verbreitung der Erzählung, dass die Europäische Union schwule Männer in Kindergärten einsetzen und den Ukrainerinnen und Ukrainern die gleichgeschlechtliche Ehe aufzwingen würde. Dies geschah insbesondere, nachdem Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen hatte. Die russische Propaganda zeigte sich entsetzt darüber, dass eine nicht-binäre Person den ersten Platz erreichen konnte.
Auch 2022 wird das Gayropa-Narrativ verbreitet, um zu zeigen, dass nach Ansicht der russischen Propaganda Europa im Niedergang begriffen sei. Meist sind es die nordeuropäischen Länder, die als Vorboten dekadenter westlicher liberaler Werte gelten.
Von Propaganda zu Unterdrückung
Einige Expertinnen und Experten haben festgestellt, dass die unterschiedlichen Narrative, die den Krieg gegen die Ukraine rechtfertigen sollen, inkonsistent und fehlerhaft sind.
Übersetzung vom Englischen ins Deutsche: Sabine Peschel