Das mobile Netz ist dank der weiten Verbreitung von Smartphones fast allgegenwärtig. Die Beliebtheit von sogenannten Messenger-Apps wie WhatsApp, Facebook Messenger und dem chinesischen Dienst WeChat steigt weltweit. Die Kehrseite dieser Entwicklung: Es findet ein Rückzug aus den öffentlichen Zonen statt. Im Vergleich zum Vorjahr haben Externer Link: Facebook-Nutzer schon im Jahr 2016 rund 30 Prozent weniger eigene Inhalte öffentlich geteilt. Dazu zählen alle möglichen Postings von Ferienfotos über Katzenvideos bis zu Medienartikeln. Insbesondere jüngere Social-Media-Nutzer haben begonnen, sich von Facebook zurückzuziehen. Andere wenden sich "geschlossenen Gruppen" innerhalb von Facebook zu. Doch könnte diese Entwicklung für Marc Zuckerberg in einem kommerziellen Desaster enden. Denn die "populärsten Messenger (Messenger und WhatsApp) gehören zum Facebook-Imperium, jedoch lässt sich mit ihnen aktuell noch nicht annähernd das erwirtschaften, was Facebook mit seinem guten alten News Feed verdient", kommentiert der Externer Link: Digitalexperte Martin Giesler den anhaltenden Trend. Die Überlegung ist einleuchtend: Im persönlichen Chat wäre dauernde Werbeunterbrechung irritierend. Gleichzeitig schrumpft das Publikum der Netzwerke, in denen Werbekampagnen eingeblendet werden könnten. Dies könnte früher oder später die zahlreichen Werbekunden verärgern. Doch was bedeutet die "Messengerisierung" unserer zwischenmenschlichen Kommunikation im politischen Kontext?
Reaktion auf das Klima der politischen Diskussion
Diese "Rückzugsmanöver" sind eine Antwort auf die Auswüchse in den Kommentarspalten und Social Media. Dort wurde in den letzten Jahren der Nährboden für diese Gefechte gesät: Falschnachrichten, menschenähnliche Roboterprofile und ein aufgeheiztes Diskussionsklima führen dazu, dass sich immer mehr Nutzer in ihren sozialen Komfortzonen nun nicht mehr wohlfühlen. Die Newsfeeds wurden in den letzten Jahren regelrecht politisiert. Eine Externer Link: Studie des Pew Research Center zeigte, dass eine Mehrheit der Social-Media-Nutzer während des US-Wahlkampfs 2016 unter der aggressiven Stimmung in ihren Netzwerken gelitten hatte. Die User nahmen Facebook und Konsorten als politische Kampfzone wahr. 83 Prozent der Befragten in den USA möchten jedoch nicht mit politisch konträren Sichtweisen oder aggressiven Äußerungen konfrontiert werden, wenn sie durch ihren Feed scrollen. Sie versuchen diese Postings weitgehend zu ignorieren. Über die Hälfte der befragten Nutzer empfinden die Gespräche auf Social Media als gehässiger, weniger respektvoll und weniger zivilisiert als andere Formen des politischen Dialogs. Und ein Drittel begann seinen Newsfeed aufgrund der angezeigten politischen Inhalte zu kuratieren: Bei Freunden mit pointierten politischen Aussagen, die der eigenen Haltung widersprechen, greifen diese Personen auf die Einstellungsoption "Weniger davon" zurück. Nur eine Minderheit der befragten Nutzer geht freiwillig auf konträre Standpunkte ihres Freundeskreises ein. Es zeigt sich, dass der Facebook-Newsfeed langfristig immer weniger als Plattform der politischen Auseinandersetzung taugt, weil Meinungsverschiedenheiten immer weniger toleriert werden. Eine Verlagerung auf WhatsApp und Facebook Messenger könnte aus einer normativen und politisch-philosophischen Perspektive noch fatalere Folgen haben. Konträre Sichtweisen zu einem Thema werden so unsichtbar. Der Öffentlichkeit wird die Meinung entzogen. In geschlossenen Anwendungen könnten politische Monokulturen gedeihen. Hier ist man unter seinesgleichen. Der digitale öffentliche politische Diskurs stirbt dadurch.
Förderung des Filterblasentrends
Historisch gesehen bildete sich eine frühbürgerliche Öffentlichkeit in den Salons und Kaffeehäusern des 18. Jahrhunderts heraus. In den darauffolgenden Jahrhunderten stellten vorwiegend die Massenmedien Öffentlichkeit her, wobei das Publikum in der Mehrzahl aus passiven Lesern bestand. Der Siegeszug von Blogs, Suchmaschinen und sozialen Medien im 21. Jahrhundert läutete das Zeitalter der digitalen Netzwerkmedien ein. Sie brachten eine Auflösung von Publikationshierarchien mit sich, da nun jeder zum potenziellen Inhaltsproduzenten avancieren konnte. Netzaktivisten hofften, eine kritische Internet-Gegenöffentlichkeit heranbilden zu können. Doch die normativen Ideale der Öffentlichkeit wie eine breite Beteiligung der Bevölkerung oder die Kraft des besseren Arguments haben sich auf Facebook, Twitter und anderen Plattformen nur unzureichend durchgesetzt. Der Diskurs ist fragmentiert: Es gibt verschiedene Profil- und Kommentaröffentlichkeiten. Dabei profitieren diejenigen Exponenten, die am meisten Lärm machen. Doch immerhin vermochte sich die interessierte Öffentlichkeit so ein Stimmungsbild zu gewissen Themen zu verschaffen und kann auch die Überlegungen des twitteraffinen US-Präsidenten live mitverfolgen. Der gegenwärtige Trend zur "Messengerisierung" würde diese Errungenschaften wieder zunichtemachen, denn er verletzt eine gemäß dem Philosophen Jürgen Habermas unabdingbare Voraussetzung für die Herstellung von Öffentlichkeit: das Prinzip der Schrankenlosigkeit. Niemand darf prinzipiell vom Diskurs ausgeschlossen werden. Ebenso wäre ein weiteres konstituierendes Merkmal von Öffentlichkeit nicht mehr erfüllt: dass ein Sprecher mit einem Publikum kommuniziert, dessen Grenzen er nicht bestimmen kann. Auf den Messenger-Plattformen schottet man sich indes bewusst ab und kennt seinen Empfängerkreis. In einer geschlossenen Gruppe auf Facebook müssen Nutzer einen Antrag auf Aufnahme stellen. Der Vorteil dabei ist, dass die Administratoren die Kontrolle über ihre Mitglieder und die Regeln der zwischenmenschlichen Kommunikation definieren können. Dies begünstigt die Durchsetzung von einfachen Regeln und Netiquette. Doch die geschlossenen Gruppen befördern auch die Homogenisierung und Separierung von anderen politischen Communities. Wesentliches Merkmal ist die Abschottung nach außen. In einer eigenen Gruppe werden kritische Voten vielleicht geduldet. Doch meist sortieren sich politisch andersdenkende Personen selber aus, indem sie auf Facebook eine geschlossene Gruppe, die ihrer Meinung widerspricht, gar nicht erst aufsuchen. Oder sie erhalten dermaßen viel Gegenwind auf ihre Beiträge, dass sie sich innerhalb kurzer Zeit selbst verabschieden. Kurz: Die "Messengerisierung" befördert den Filterblasentrend der sozialen Medien sowie die zunehmende Personalisierung der politischen Kommunikation. Im Schutzraum dieser Apps kann man sich ungestört mit Gleichgesinnten austauschen. Es gelten eigene Konventionen und Regeln. Kein Algorithmus sortiert vor oder filtert eingehende Beiträge aus. Verbale Angriffe von unbekannten Nörglern sind per se ausgeschlossen. Die privaten Gespräche sind dann vielleicht auch politischer Natur. Doch sie bleiben privat. Indem der Öffentlichkeit die Meinung entzogen wird, stirbt auch der Traum der Internetpioniere: das Netz als freie und vitale Arena für Debatten. Das Ideal des virtuellen Markplatzes, wo sachlich und beratend politische Meinungen nach dem Vorbild der Antike debattiert werden, rückt damit in weite Ferne. Medien, Politologen und andere Beobachter haben hier keine Chance, geäußerte Standpunkte nachzuvollziehen, da diese verborgen bleiben.
Wo Falschmeldungen munter gedeihen
Mit der "Messengerisierung" wird die Polarisierung im sozialen Netz weniger sichtbar. Extreme Meinungen verlagern sich in dunkle Ecken. Messenger-Apps und Facebook- Gruppen sind auch Sammelbecken für Personen, die ihre teils extremen Ansichten aufgrund verschiedener Normen nicht öffentlich äußern mochten. Beispielsweise organisierten sich Trump-Anhänger im Netz, um den französischen Präsidentschaftswahlkampf "aufzumischen". Über eineExterner Link: Chat-Gruppe bei Discord tauschten sie Anleitungen und Materialien für gezielte Falschnachrichten und Memes gegen die etablierten Parteien aus. Ihr Ziel ist es, weltweit Chaos mittels digitaler Desinformation zu stiften.
Falschnachrichten gedeihen in diesem Umfeld noch mehr, sie werden im geschützten Kokon nun auf privatem Weg übermittelt. Besonders beliebt sind alternative Nachrichtenquellen und Blogs von Verschwörungstheoretikern. "Quellen der ‚etablierten Medien‘ gelten dann als Lügen, wenn sie den eigenen Vorstellungen widersprechen", Externer Link: schreibt ein Reporter bei Vice, der während mehrerer Wochen in rechtsextremen Facebook-Gruppen mit anderen Mitgliedern im Rahmen eines Experiments interagierte und deswegen anonym bleiben wollte. Er beschreibt im Text den Propagandarausch, in den die Mitglieder der Gruppe durch gegenseitiges Liken und Bestärken hineingeraten. Medien haben keine Chance, hierher vorzudringen und die frei erfundenen propagandistischen Geschichten zu dekonstruieren. Die Maßnahmen der Plattform gegen Desinformation greifen hier nämlich nicht. Fact-Checking-Organisationen können lediglich Inhalte überprüfen, die auf Profilen und Pages öffentlich geteilt wurden. Sie sind dabei auf die Mithilfe der Community angewiesen. Wird ein Posting von vielen Usern als "Falschnachricht" deklariert, so nehmen sich Facebook und die Partnerorganisationen dieses Tatbestands an. Im geschlossenen Raum aber sind Gleichgesinnte "unter sich". Es ist eher unwahrscheinlich, dass User in diesem Umfeld die Inhalte von anderen Gruppenmitgliedern als Falschnachrichten deklarieren.
Der Trend zur Personalisierung der politischen Wahlkampfwerbung und zur Filterblasenbildung in den sozialen Medien wird derzeit verstärkt durch eine weitere Entwicklung, die "Messengerisierung" der Kommunikation: Es könnte sein, dass wir immer mehr politische Fragen auf bilateralem Kommunikationsweg verhandeln. Kommentarspalten und öffentliche soziale Netzwerke dienten Medien und Forschern bislang noch als Stimmungsbarometer für gesellschaftliche Trends. Diese virtuellen "Labor-Biotope" trocknen immer mehr aus. Setzt sich der gegenwärtige Trend fort, wird in Zukunft vermehrt in geschlossenen Kanälen gechattet. Die Vielfalt von bestehenden Meinungen und Argumenten zu einem Thema würde dadurch nicht mehr sichtbar. Nur noch die beliebtesten und frechsten Memes werden an die Oberfläche gespült. Doch für das Funktionieren der Demokratie brauchen wir eine gemeinsame öffentliche Kommunikationssphäre, und wir brauchen Kenntnis aller vorhandenen politischen Positionen. Nur so gelangen wir überhaupt zu einem gemeinsamen Problemverständnis und wissen über die Diversität der Meinungen zu einem Thema Bescheid. Das sind Voraussetzungen, die zentral sind für eine freie Demokratie.
Bearbeiteter Beitrag aus dem von der Autorin herausgegebenen Sammelband "Smartphone-Demokratie" Copyright © 2017 by NZZ Libro