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Weltbilder auf Karten | Themen | bpb.de

Weltbilder auf Karten

Dr. Ute Schneider Ute Schneider

/ 14 Minuten zu lesen

Karten speichern Wissen. Die Auswahl der Informationen spiegelt aber oft auch die vorherrschenden Diskurse ihrer Zeit.

Das Bild der Welt

Karte einer Studentin

Eine Gruppe Studierender sollte die Welt zeichnen; das Ergebnis löste bei allen großes Erstaunen aus, denn die Zahl verschiedenartiger Welten entsprach der Anzahl der Seminarteilnehmer. Die abgebildete Darstellung fiel durch ihre Farbigkeit und weitere Merkmale auf. Hatten andere die Welt eher auf eine Fläche projiziert, so hatte sich diese Zeichnerin für den Globus entschieden. Deshalb konnte sie nicht alle Länder abbilden, zeichnete aber Teile von Nord- und Südamerika, Europa und Afrika; Asien fehlt ebenso wie Grönland im Norden. Der Blick des Betrachters fällt auf Europa, das Zentrum der Karte. Damit entspricht diese Darstellung den europäischen Abbildungen der Welt, wie wir sie aus Atlanten und anderen Medien kennen.

Die Studierende hat eine weitere Information in ihre Abbildung aufgenommen. Statt wie gewohnt Gebirge, Städte, Flüsse oder Seen zu zeichnen, zeichnete sie Menschen. Sie verweisen vielleicht auf bewohnte Regionen, bedeuten aber womöglich noch mehr. Die Menschen sind keineswegs gleichmäßig verteilt: Afrika und Südamerika sind stark bevölkert, die anderen Länder und Kontinente eher dünn. Intuitiv und unaufgefordert hatte die Studierende Wissen und Vorstellungen über die Welt und die Probleme unterschiedlicher Bevölkerungsdichte in ihre Zeichnung eingefügt. Inwieweit sie dabei die Problematik von Überbevölkerung und Ernährung im Kopf hatte, ist der Abbildung nicht zu entnehmen.

Das Phänomen Karte

Karten speichern Wissen, enthalten auf den Raum bezogene Informationen, die aber nicht auf geographische Aspekte beschränkt sein müssen. Das Speichern von Wissen ist bis heute meistens an Institutionen wie Kirche und Staat oder an Personen der gesellschaftlichen Elite gebunden. Damit sind Karten immer auch Mittel und Ausdruck von Macht, wie es der amerikanische Geograph Brian Harley einmal formuliert hat. In einem gewissen Rahmen hängt darüber hinaus die Auswahl der Informationen von den Entscheidungen der Kartographen ab. Und weil auch sie Kinder ihrer Zeit sind, fließen unwillkürlich vorherrschende Diskurse und Weltsichten in ihre Karten ein. Karten bilden damit nicht die Realität in einem "objektiven" Sinne ab, sondern im Sinne zeitgenössischer Deutungen, Normen und zeitgenössischen Wissens. Wie Texte haben Karten eine Oberfläche und so genannte Subtexte, die sich nur erschließen, wenn man die Karten im Kontext ihrer Entstehungszeit betrachtet. [Abb. 2, Ritter; Abb. 3, Stiehler]

Das Entschlüsseln kartographischer Botschaften setzt auch bei Zeitgenossen die Fähigkeit voraus, Karten lesen zu können. Das erscheint uns heute wie selbstverständlich, wurde aber wahrscheinlich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer allgemeinen Kulturtechnik. Bisher wissen wir sehr wenig über die Verbreitung und den Gebrauch von Karten in der Bevölkerung. Es scheint aber, als hätten Militär und Schule, die in Europa seit dem 19. Jahrhundert zu allgemeinen Pflichten wurden, auch zur Verbreitung von Karten und damit des Kartenlesens beigetragen.

Die Weltkarte steht für die Welt

Karten sind ein faszinierendes Medium, mit dem jeder spätestens in der Schule in Kontakt kommt, mit dem Diercke-Atlas etwa und dem Historischen Weltatlas von Putzger. Einige Menschen erinnern sich sogar spontan an bestimmte Lieblingskarten, an deren Farben, Länderumrisse oder an dicke schwarze Pfeile. Bei diesen Karten im Kopf sprechen wir von "mental maps" oder "kognitiven Karten", die allerdings auch wesentlich mehr sein können als Repräsentationen topographischer Gegebenheiten.

Briefmarke der Deutschen Post (© Deutsche Post)

Kognitive Karten sind tückisch, weil sie ihre eigenen weißen Flecken und Verzerrungen haben, derer wir uns im Allgemeinen nicht bewusst sind. Kein Einzelfall ist das Beispiel der Designerin dieser Briefmarke. Sie war völlig überrascht, als sie vom Protest gegen ihre Marke aus Island und Grönland hörte, und dass sogar das Einstampfen gefordert wurde. Sie hatte nämlich nicht bemerkt, dass auf ihrer Karte Grönland und Island fehlten. Ihr Erklärungsversuch, dass es bei einer Weltkarte auf die einzelnen Länder nicht ankäme, verweist auf die individuelle Struktur ihrer kognitiven Karte und deren spezifische Blindheiten.

Organisationsprinzipien

Eine wichtige Voraussetzung für das Verstehen realer Landkarten sind Organisationsprinzipien und Standards, die uns erlauben, eine Karte ähnlich wie ein Buch zu lesen. Sieht man einmal von Sprachkenntnissen und geringfügigen Unterschieden in der Projektion ab, so können wir uns in einer chinesischen, afrikanischen oder südamerikanischen Weltkarte gleichermaßen orientieren, ähnlich wie wir Piktogramme verstehen können, ohne die Sprache ihrer Zeichner auch nur zu kennen. Dass uns das Lesen von Karten heutzutage relativ wenige Probleme bereitet, ist ein Ergebnis verschiedener Entwicklungen in der Frühen Neuzeit. Dies veranschaulicht ein Blick auf mittelalterliche, europäische Weltkarten. Wir können sie nicht lesen, bevor wir nicht ihre Organisationsprinzipien kennen.

Paradies, Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte (© uni-lueneburg.de)

Im Gegensatz zu den uns vertrauten Karten organisierten mittelalterliche Weltkarten, die so genannten mappae mundi wie die berühmte Externer Link: Ebstorfer Weltkarte, nicht nach topographischen, sondern nach heilsgeschichtlichen Kriterien. Im Fall der Ebstorfer Karte wird dies bereits am Rahmen deutlich, denn es ist Christus, der die Welt gewissermaßen mit seinem Körper trägt. Im Zentrum, dem Nabel der Welt, befindet sich das irdische Jerusalem, das immer aber auch das himmlische Jerusalem zeigt. Im Gegensatz zu heutigen Standards ist die Karte nicht genordet, sondern nach Osten ausgerichtet, weil die mittelalterlichen Menschen das Paradies im Osten vermuteten. Wenn wir schließlich noch wissen, dass es für die Anordnung der drei bekannten Kontinente Asien, Afrika und Europa bereits im Mittelalter Standards gab, dann wird diese Karte lesbar. Es ist das so genannte T-O Schema, dem zahlreiche mittelalterliche Karten folgen.

Karte nach dem T-O Schema (© Burgerbibliothek Bern)

Diese Repräsentationsform gibt es seit dem Frühmittelalter und einer verbreiteten Deutung zufolge steht sie für orbis terrarum, die Erdkugel. Das in den Erdkreis eingeschriebene T trennt die drei Kontinente voneinander, die auf zahlreichen Karten außerdem die Namen der Söhne Noahs, Sem, Japhet und Cham, tragen. Der Ozean umfließt die Kontinente und bildet den Rand des Erdkreises. Neben der T-O Karte findet sich ein anderer Typus, die so genannte Klimazonenkarte. Sie teilt die Welt in fünf oder mehr Zonen ein, von denen nur die gemäßigte von Menschen bewohnt werden kann.

Völker Gog und Magog, Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte (© uni-lueneburg.de)

Mittelalterliche Kartographen beschränkten sich nicht auf die Abbildung der Topographie in Gestalt von Kontinenten, Städten, Flüssen und Gebirgen. Auf ihren Karten fand zusätzlich die Geschichte Platz, und zwar von der Schöpfung bis zur unmittelbaren Gegenwart. Deshalb sind auf der Ebstorfer Karte die Völker Gog und Magog ebenso dargestellt wie die Arche Noah.
Auch wurden Inseln

Insel, Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte (© uni-lueneburg.de)

und Gebirge nach ihren heils- und weltgeschichtlichen Bezügen oder ihrer Bedeutung für den Kartographen platziert. Der heutige Betrachter wundert sich deshalb gelegentlich über die Größe und Lage mancher Inseln oder Städte. Auf der Ebstorfer Karte gilt das für das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, dem vermutlichen Entstehungsort der Karte, der im Verhältnis zu anderen Städten und Regionen besonders deutlich hervorgehoben ist.

Die Legende von der Scheibe

Die Anordnung der Kontinente und des Ozeans, der den Erdkreis umfließt, scheinen auf den ersten Blick ein gängiges Vorurteil zu bestätigen. Aber der mittelalterliche Mensch glaubte nicht, dass die Erde eine Scheibe sei. Diese Meinung entstand in der Neuzeit, um sich vom "unwissenden", "christlichen" und "abergläubischen" Mittelalter abzugrenzen. Tatsächlich war die Kugelgestalt der Erde seit der Antike bekannt und ist in zahlreichen Quellen und Wissenssammlungen überliefert. Allerdings hatten die Mönche und Kleriker, die Karten zeichneten, ein ähnliches Problem wie spätere Kartographen: die Gestalt der "Sphaera" auf einer Fläche darzustellen. Leider ist die Sphaera, der Globus, von dem Notker von St. Gallen (ca. 950-1022) berichtet, nicht überliefert. Er war in dem schweizer Kloster hergestellt worden und verzeichnete die "Wohnorte aller Völker". Überliefert aber ist in Architektur und bildender Kunst der Reichsapfel, der in zahlreichen Fällen eine Weltdarstellung trägt.

Es waren im Wesentlichen drei Prozesse, die die Legende von der Scheibenvorstellung ausbildeten und beförderten: Zum einen die Abbildungen in den Handschriften, die, ohne dass der zugehörige Text gelesen wurde, als Belege für die Scheibengestalt gedeutet wurden. Zum anderen wurden mit dem Buchdruck nur noch solche Texte und Abbildungen verbreitet, die den Eindruck einer Scheibe verstärkten. Und schließlich kam ein Begriffswandel hinzu, der die Bedeutung von "orbis", das ursprünglich für "Scheibe" und "Kugel" stand, auf "Kreis" reduzierte.

Allgemeine Verbreitung fand die Legende vom mittelalterlichen Glauben an die Erdscheibe erst mit der Französischen Revolution und im 19. Jahrhundert. Denn mit dem Fortschritt der eigenen Erkenntnisse, dem "sich erweiternden Horizont", wie der Geograph Friedrich Ratzel [1844-1904] ausgangs des 19. Jahrhunderts schrieb, "rückte die Vorstellung von der kugelförmigen Erde immer näher".

Der offene Raum

Menschenfresser, Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte (© uni-lueneburg.de)

Ein genauer Blick auf die Ebstorfer Weltkarte kann mit der Legende vom Glauben an die Erdscheibe aufräumen: Im Ozean finden sich zahlreiche Inseln, von denen einige, wie z.B. die Hesperiden, bewaldet sind, andere von Menschenfressern bewohnt werden.

Bei der Insel Malichu erfährt der Betrachter, dass manche in Anlehnung an spätantike Quellen glaubten, dass das ganze Meer schiffbar sei und nennen auch die Zwischenstationen und die Entfernungen vom Indischen Vorgebirge Deparnum her.

Diese Möglichkeit, den Raum als offen zu betrachten,

Insel Malichu, Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte (© uni-lueneburg.de)

in Verbindung mit der Kugelgestalt der Erde hat schließlich Kolumbus verleitet, den Weg nach Indien über das offene Meer zu suchen. Ihm war ein neuer Kartentyp von Nutzen, der im 13. Jahrhundert in den seefahrenden Staaten am Mittelmeer entstanden war. Sowohl auf der iberischen Halbinsel als auch im osmanischen Herrschaftsgebiet entstanden Karten, die im Gegensatz zu den mittelalterlichen Weltkarten dem unmittelbar praktischen Gebrauch dienten. Sie wurden nicht mehr in Klöstern, sondern von Seefahrern in Zusammenarbeit mit kartographischen Werkstätten erstellt. Die spezifische Funktion dieser als "Portulan" bezeichneten Karten schlägt sich auf der Darstellungsebene nieder.

Portulankarte des Vesconte Maggiolo (1541) (© copyright frei )

Portulane, die auf wetterunempfindliche Tierhäute gezeichnet und in gerollter Form auf die Reise mitgenommen werden konnten, verzeichnen den Küstenverlauf, während das Landesinnere nur mit einzelnen signifikanten Merkmalen wie Gebirgen, Städten oder biblischen und

Karte Norditaliens von Andrea Benincasa (© copyright frei )

legendäre Gestalten wie etwa der Arche Noah gefüllt wurden. Das Landesinnere war für den Seefahrer nicht von praktischer Relevanz, gab aber geschichtliche und nützliche Informationen, und aus Angst vor der Leere, dem "horror vacui", wollte man die Karte nicht weiß belassen. Im Küstenverlauf jedoch zeichnet sich der Portolan von Andrea Benincasa, Sohn einer berühmten Kartographenfamilie in Ancona durch eine bestechende Genauigkeit aus. Für den Seefahrer war hier jede kleinste Information unter Umständen von lebenswichtiger Bedeutung.

Einnordung und Nullmeridian

Weil die Seefahrer ihre Position mit Hilfe des Kompasses bestimmten, der bekanntlich auf den magnetischen Nordpol weist, wurden mit seiner Hilfe auch die Portulane auf den Nordpol ausgerichtet. Diese Orientierung ist seit der Frühen Neuzeit auf Weltkarten zu finden. Allerdings ist die Ausrichtung nach Norden keineswegs die Regel. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden ebenso Karten hergestellt, die auf die anderen Himmelrichtungen ausgerichtet sind. Wer heute mit Karten wie der Externer Link: Hobo-Dyer-Projektion konfrontiert wird, die die Welt förmlich auf den Kopf stellt, kann sich auf den ersten Blick nicht orientieren. Die vertraute Einnordung setzte sich am Ende des 19. Jahrhunderts als Standard durch. Sie war das Ergebnis europäischer Macht, die sich in der Hochphase des Imperialismus auf weite Teile der Erde erstreckte. Um noch einmal an die Worte Brian Harleys zu erinnern: Wer die Macht hat, setzt auch die kartographischen Standards und Prinzipien. Die Art, wie dieser Kartentyp die Welt präsentiert und auf sie blicken lässt, stand damals nicht einmal zur Debatte und wird erst seit wenigen Jahrzehnten in jenen Ländern thematisiert, die bei der herkömmlichen Darstellung "auf dem Kopf stehen". Noch eine weitere, kartenrelevante Entscheidung fiel am Ausgang des 19. Jahrhunderts: Im 18. war es endlich gelungen, die Längengrade zu bestimmen, und nun entschied man, den Nullmeridian durch Greenwich zu legen, ein Zentrum europäischer Seefahrt seit der Frühen Neuzeit.

Das Zentrum der Karte

Eine Karte, bei der Süden oben liegt, bricht mit unseren etablierten Sehgewohnheiten, aber nicht allein wegen der Vertauschung der Pole. Wir sind es nicht gewöhnt, Europa am unteren rechten Rand einer Karte zu suchen, dort, wo sich auf unseren Karten Australien befindet. Üblicherweise sehen wir Europa fast im Zentrum einer Karte und können uns von dort in der Welt orientieren.

Sinozentrisches Weltbild in einem koreanischen Atlas (© Stiftung preussischer Kulturbesitz )

Dieser Eurozentrismus ist ebenfalls Ausdruck europäischer Macht und geht auf Mercator (1512-1594) zurück, der 1569 eine Weltkarte vorlegte, die die Orientierung auf See erleichterte und den Seeleuten die Angst vorm Verirren nahm. Mercator hatte ein Gitternetz entwickelt, das ihm eine Projektion der Kugelgestalt auf die Fläche erlaubte. Diese, später mathematisch berechnete und weiterentwickelte Mercatorprojektion, fand zusammen mit den europäischen Karten globale Verbreitung. Kritik an ihrem Eurozentrismus kam erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf und führte zu neuen Projektionsformen, wie etwa der nach dem Historiker und Kartographen Arno Peters (1916-2002) benannte Externer Link: Peters-Projektion.

Die Motive Mercators für die Lokalisierung Europas im Zentrum der Karte kennen wir nicht, er scheint aber einer menschlichen Intuition gefolgt zu sein. Ein Vergleich mit Karten anderer Kulturen zeigt nämlich, dass die zentrale Lokalisierung des eigenen Kontinents keineswegs auf die Europäer beschränkt ist. Die Chinesen, die im 17. Jahrhundert von den Jesuiten die Mercatorkarte übernahmen, platzierten das Reich der Mitte ins Zentrum der Karte, und in amerikanischen oder japanischen Schulbüchern finden sich Weltkarten mit dem jeweils eigenen Land in der Kartenmitte. Ethnozentrismus erleichtert anscheinend die Orientierung.

Machtbereiche und Weiße Flecken

Die rasche Verbreitung des uns heute vertrauten Kartentyps, der die Welt nach topographischen Kriterien organisiert, ist eng mit dem Prozess der Staatenbildung in der Frühen Neuzeit verbunden. Die Monarchen entwickelten ein Interesse an ihrem Territorium und führten zahlreiche Kriege zu seiner Ausdehnung.

Ausschnitt aus der Schmettauschen Karte (© copyright frei )

Dafür benötigten sie Informationen über das Land und seine Größe, und sie ließen es nun systematisch vermessen. Die Karten, die dabei entstanden, unterlagen striktester Geheimhaltung und waren der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Weil Friedrich der Große etwa Sorge hatte, dass die Karten mit all ihren Informationen seinen Feinden in die Hände fallen könnten, musste die Landesaufnahme im Geheimen erfolgen. Das Schmettausche Kartenwerk blieb aus Gründen der Geheimhaltung in den Händen des Generalstabs. Die Kupferplatten dieser so genannten Kabinettkarte brachte Napoleon nach dem Sieg über Preußen als Kriegsbeute mit nach Paris.

Weiße Flecken - unentdeckte Gebiete: Eine Afrika-Karte aus dem 19. Jarhundert

Indem die Europäer begannen, die Welt kennenzulernen und zu erobern, blieben entfernte und unzugängliche Gebiete zunächst unvermessen, so dass auf den Karten "weiße Flecken" entstanden. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren diese Flecken zahlreich. Gelesen wurden sie keineswegs nur als Unkenntnis, sondern viel ausgeprägter als Aufforderung, hier Raum zu gewinnen und zu beherrschen. So erging es auch Kapitän Marlow, dem Held in Joseph Conrads (1857-1924) Roman Herz der Finsternis: "Zu jener Zeit gab es noch viele weiße Flecken auf der Erde, und wenn ich einen sah, der auf der Karte besonders einladend wirkte (aber das tun sie alle), legte ich den Finger darauf und sagte: Wenn ich groß bin, fahre ich dorthin" (J. Conrad, Herz der Finsternis, München 2005, S. 12). Cecil Rhodes (1853-1902), einer der Vertreter des britischen Imperialismus, träumte sogar davon, weite Teile der Karte Afrikas in Rot zu malen, denn das Empire stellte gewöhnlich seinen territorialen Besitz auf Karten in Rot dar.

Karten und Militär

Mit dem territorialen Ausbau ging der Aufbau stehender Heere einher, die für eine veränderte Kriegsführung Karten benötigten. Mit Hilfe der Karten wurden die Feldzüge geplant und die Armeen im Gelände bewegt. Für manche Befehlshaber des 20. Jahrhunderts fanden die Kriege überhaupt nur in dem virtuellen Raum der Karten statt; von der Realität des Krieges bekamen sie nichts mit.

Napoleon (1769-1821) war sich der Bedeutung guter Karten sehr bewusst. Nach der Schlacht bei Jena sagte er zu Goethe (1749-1832), dass die Truppe eine gute Karte haben müsse, denn eine gute Karte sei der halbe Sieg. Wie wichtig sie sind, hatte auch Ernst Jünger (1895-1998) im Ersten Weltkrieg erfahren: "Es galt, um 3:40 Uhr nach einer Artillerie- und Minenvorbereitung von fünf Minuten Dauer den so genannten Muldengraben vom Rotpunkt K bis zum Rotpunkt Z1 aufzurollen. In diesen wie in vielen anderen Annäherungsgraben hatte sich der Gegner eingefressen und hinter Barrikaden festgesetzt. Leider war das Unternehmen, für das Leutnant Voigt von der Sturmkompanie mit einem Stoßtrupp und ich mit zwei Gruppen bereitgestellt waren, offensichtlich nach der Karte befohlen, denn der Muldengraben, der sich in einem Grunde entlangschlängelte, war von vielen Orten bis auf die Sohle einzusehen" (Ernst Jünger, In Stahlgewittern, Stuttgart 1978, S. 298-299).

Gute Karten sind aber nur eine Voraussetzung. Sie nützen wenig, wenn die Soldaten sie nicht lesen können. Beides ist bis heute nicht immer selbstverständlich. So berichteten amerikanische Soldaten aus dem Irakkrieg von den Schwierigkeiten der lokalen Bevölkerung, Karten zu lesen und zu verstehen. Verständlicher seien ihnen einfache Zeichnungen.

Karte als Vertrag

Problematisch sind schlechte Karten und schlechte geographische Kenntnisse nicht nur bei der Orientierung im Feld, sondern auch nach dem Krieg. Karten waren und sind nämlich in fast allen Fällen mit einer Neuordnung des Raumes verbunden, da diese kaum jemals vor Ort stattfindet. Stattdessen finden sich die Sieger an einem Kartentisch ein, um über politische Neuordnungen zu entscheiden. Dies geschah beispielsweise 1878 auf dem Berliner Kongress, der die politischen Verhältnisse in der Balkan-Region neu ordnete. Graf Peter Schuwalow (1827-1889), einer der beiden russischen Gesandten, berichtet in diesem Zusammenhang von seinem Kollegen Fürst Gortschakow, "dass er mit geographischen Karten sozusagen auf Kriegsfuß stand. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass er (...) nicht in der Lage war, auch nur ungefähr auf der Karte die verschiedenen Balkanstaaten zu zeigen (...)".

Der russische Diplomat war dabei kein Einzelfall, auch der englische Premier Disraeli, Lord Beaconsfield, (1804-1881) "hatte noch nie eine Karte von Kleinasien gesehen", wie sein Kollege Salisbury (1830-1903) dem Russen anvertraute. (Zu beiden Zitaten vgl. Peter Schuwalow, Der Berliner Kongress, in: Berliner Monatshefte 16, 1938, S. 628-629). Trotz dieser Schwierigkeiten zog der Kongress neue Grenzen, die schließlich auf einer Karte festgehalten wurden.

Grenzverlauf zwischen dem Osmanischen Reich und Armenien (© unbekannt )

Häufig bekräftigten die beteiligten Parteien die neuen Grenzziehungen durch ihre Unterschrift auf oder unter der Karte, wie etwa auch der amerikanische Präsident, der 1920 im Zuge der Verhandlungen über den Friedensvertrag von Sèvres einen Grenzverlauf zwischen dem Osmanischen Reich und Armenien festgelegt hatte. Während der Raum in diesen Fällen unter machtpolitischen Gesichtspunkten strukturiert und hierarchisiert wird – ethische, religiöse oder andere Zugehörigkeiten und das Selbstbestimmungsrecht werden bei diesen Entscheidungen am Kartentisch kaum berücksichtigt – bestimmen ganz andere Hierarchisierungen unseren alltäglichen Kartengebrauch.

Die Hierarchisierung des Raums

Viele kennen die Externer Link: Karte der Berliner U-Bahn (PDF) . Mit Hilfe dieses Plans - im Kopf oder auf dem Papier - kann man sich in Berlin gut fortbewegen. Will man jedoch den Weg zwischen zwei Stationen zu Fuß bewältigen, ist man bei vermeintlich gleicher Länge über die sehr unterschiedlichen Entfernungen erstaunt. Eine überirdische Orientierung ist mit dem Plan überhaupt nicht möglich, weil er nichts über Häuser, Straßenverlauf und anderes sagt. Das ist eben nicht der Zweck dieser Karte, die dem U-Bahnverlauf die größte Priorität einräumt.

Ähnliches gilt für die Karten, die wir am häufigsten gebrauchen: Straßenkarten. Sie hierarchisieren den Raum unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Straßentypen von der Autobahn bis zum Schotterweg. Deutlich wird diese Hierarchisierung auch an den Städten, die auf mehr oder weniger große Punkte verdichtet werden. Ihre reale Größe steht in keinem Verhältnis zu ihrer Repräsentation auf der Karte. Und obgleich jeder Autofahrer, Wanderer oder Radfahrer den Umgang mit diesen Karten kennt, ist man überrascht, wenn man durch eine interessante Landschaft fährt oder durch alte Alleen, die auf der Karte als solche nicht zu identifizieren waren.

Was an der Autokarte besonders augenfällig wird, gilt für alle Karten: Sie bilden die Realität nicht so ab, wie wir sie wahrnehmen, sondern nach bestimmten technischen und anderen Kriterien. Dabei fließen die zeitgenössischen Vorstellungen der Produzenten ebenso ein, wie umgekehrt die Karten unsere Vorstellungen von der Welt prägen. Nicht zuletzt deswegen suchen zahlreiche Menschen bis heute ein Afrika, das sie in ihren europäischen Kinderatlanten kennengelernt haben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

HD Dr. Ute Schneider, Studium der Geschichte und Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Universität Düsseldorf; seit 2003 Hochschuldozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Darmstadt; dort auch Redaktionsleitung der "Neuen Politischen Literatur (NPL)"; mehrere Monographien, darunter "Die Macht der Karten" (Darmstadt 2004);" verschiedene Projekte im Bereich der Kultur- und Sozialgeschichte