Warum Linksextremismus? Mit dieser Frage machte Hanne Wurzel von der Bundeszentrale für politische Bildung gleich zu Beginn des Fachtags deutlich, dass es sich um ein belastetes Thema handelt. Schnell stehe der Vorwurf im Raum, dass die Relevanz anderer gesellschaftlicher Themen durch die – als scheinbar überflüssig wahrgenommene – Beschäftigung mit dem Linksextremismus verharmlost werde. Allerdings laute der klare Auftrag der politischen Bildung, die Demokratie zu stärken. Eine Befassung mit kontroversen Ideologien sei daher notwendig. Die grundlegenden Kategorien zur Beschreibung von Linksextremismus ließen sich als ein überdehnter Gleichheitsbegriff, die Ablehnung von Rechtsstaatlichkeit, eine Verherrlichung von undemokratischen Regimen und der unbedingte Wunsch nach der Formung eines neuen Menschen verstehen. Die Ausübung von Gewalt komme hinzu: Die Demos gegen die Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main, Ausschreitungen in Leipzig und die aktuelle Berliner Hausbesetzerszene wiesen darauf hin, dass auch linksextreme Gewalt ein offenkundiges Problem darstelle. Wenn Linksextremismus also als ganzheitlicher Begriff problematisch zu sein scheine, müssten umso mehr spezifische linke Formen der Demokratiefeindlichkeit in den Blick genommen werden. Auch um eine rein quantitative Aufrechnung rechtsextremer und linksextremer Gewalt zu vermeiden.
Im folgenden Eröffnungsvortrag stellte Prof. Dr. Hans-Gerd Jaschke, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, zu Beginn eine einfache Behauptung auf: Niemandem ist daran gelegen, ein Extremist zu sein. Mit diesem einleuchtenden Credo wies Jaschke darauf hin, dass es sich bei dem Begriff „Linksextremist/-in“ zuallererst um eine Zuschreibung und meist abwertende Etikettierung handele. Das Vokabular dieses „Linksextremismus“ spiele im öffentlichen Sprachgebrauch allerdings eine untergeordnete Rolle: Nach dominanten Aufrechnungsmechanismen von Links und Rechts in den polarisierten 1960er und 1970er Jahren der Bundesrepublik werde der Begriff heute zurückhaltend verwendet. Hauptsächlich spiele der Begriff in der behördlichen Sicherheitsarchitektur eine Rolle. Da die wissenschaftliche Diskussion um politischen Extremismus ohnehin als spezifisch deutsches Phänomen verstanden werden müsse, sei zudem die Anschlussfähigkeit an internationale, wissenschaftliche Debatten gering. Dennoch sei, so Jaschke, eine Radikalisierungsforschung in diesem Bereich, vor allem bei Jugendlichen, sinnvoll, solange sie offen und nicht durch extremistische Deutungskategorien verbrämt arbeite.
Zur Fundierung der Debatte hob Jaschke im Anschluss auf historische Wurzeln und ideologische Grundlagen des Linksextremismus ab: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das waren die Parolen der französischen Revolution, die zur Entstehung der Klassengesellschaft im 19. Jahrhundert geführt haben. Die Soziale Frage wurde evident: Wenn Kapitalismus mit der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen einhergeht, wird die Erschaffung einer herrschaftsfreien Gesellschaft erstrebenswert. Das ist der Grundbaustein linken Denkens. Er zeigt sich in Forderungen nach Klassenkampf, Revolution oder einer Reform des Kapitalismus.
Doch der Marxismus-Leninismus mit seiner dominanten Rolle der kommunistischen Partei innerhalb der Parteientheorie Lenins kann als eigentliche Grundlage des Linksextremismus gelten, wie Jaschke verdeutlichte. Weitere Formen wie der Stalinismus, der Trotzkismus und der Maoismus wirkten ideengeschichtlich in der heutigen linksextremen Szene fort. Insbesondere der Anarchismus im Anschluss an Bakunin sei bis heute attraktiv: „Die Tat entscheidet, nicht die Analyse“, so die zugehörige Maxime.
Zurück im Hier und Jetzt summierte Jaschke kurz das Spektrum linksextremer Parteien: Die DKP als nostalgischer SED-Traditionsverein, die MLPD und linksradikale bis linksextreme Strömungen im Umfeld der Partei DIE LINKE nahm Jaschke kurz in den Fokus. Um deren Beobachtung durch den Verfassungsschutz gebe es eine berechtige Debatte, denn die Integrationsfunktion der Parteien für Radikalisierte sei wichtig und nicht zu verleugnen.
Das heutige aktivistische Spektrum sei maßgeblich durch das Entstehen neuer sozialer Bewegungen nach 1977 geprägt. Die Friedensbewegung angesichts atomarer Hochrüstung, die Frauenbewegung und die Umweltbewegung seien hier nur die wichtigsten Vertreter. Die früheren „Spontis“ entwickelten sich zu autonomen, subkulturellen Gruppen, die das richtige Leben in der konkreten Gegenwart einfordern und Hierarchien ablehnen. Zentral sei heute die Einbindung dieses Protests in konkrete Aktions- und Erlebniskulturen. Jaschke sprach von einem „Anlass-Bezug“: Die Castor-Transporte, Räumungen besetzter Häuser, Ausschreitungen zum 1. Mai und die G8/G20-Gipfel seien hier nur die prominentesten Beispiele.
Gefahrenpotential sieht Jaschke in der Verfestigung von Radikalisierung. Defensive Gewalt als Strategie und Antwort auf Staatsgewalt sei nur eine Facette. Denn gerade offensive Strategien und geplante Gewalt bei Großveranstaltungen nehmen in den letzten Jahren zu. Hier beklagte Jaschke Legitimationsverluste der Politik in zentralen Lebensbereichen: Das Wohnen sei durch Gentrifizierung und Verdrängung geprägt, was die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit zur Folge habe – ein potentieller Nährboden für Extremismus. Zudem seien Fehler beim Sicherheits- und Veranstaltungsmanagement beobachtbar: Da sich Gewalt von links überwiegend in urbanen Räumen ereigne, sei es zum Beispiel nicht nachvollziehbar, den G20-Gipfel genau dort stattfinden zu lassen. Weiterhin werde auf Online-Plattformen wie Indymedia mitunter zu Straftaten aufgerufen. Eine aktuelle Website zum bevorstehenden G20-Gipfel in Hamburg werbe mit dem Slogan „Welcome to Hell“ und zeichne sich in ihrem Vokabular durch eine starke Militanz aus.
Jaschke empfahl daher, primäre, allgemein vorbeugende Prävention in politischer Bildung, Berufsbegleitung und Jugendhilfe zu stärken. Sekundäre, anlassbezogene Prävention, z. B. zum G20-Gipfel sei ebenso sinnvoll. Doch gerade die tertiäre Prävention müsse mehr in den Blick genommen werden. Der Rückfallgefahr von Inhaftierten müsse verstärkt mit sozialpädagogischer Betreuung entgegengetreten werden.
Das Plädoyer für eine konsequente Verfolgung von Straftaten stellte Jaschke abschließend in den Mittelpunkt: Es gebe hier ein klares Vollzugsdefizit. Im Prozess der Radikalisierung müssen zudem Eltern, Schule, Sozialarbeit und politische Bildung einbezogen werden. Einschlägige „Aussteigerprogramme“ können von NGOs angeboten werden, aber nicht von staatlichen Einrichtungen, da hier keine Akzeptanz seitens der Zielgruppen zu erwarten sei. Abschließend mahnte Jaschke nochmals eine vorsichtige Anwendung des Begriffs Linksextremismus an und forderte, lieber einzelne existierende Milieus analytisch beschreibbar zu machen.
In der anschließenden Diskussion wurde beklagt, dass der Begriff Linksextremismus aus dem Umfeld der Sicherheitsbehörden heraus entstanden sei und keine soziale Entsprechung habe. Gerade daher sei ein sensibler Umgang mit Internetforen wie Indymedia unbedingt nötig. Überdies wurde die Frage laut, ob identische Ansätze in der Prävention bei unterschiedlichen extremistischen Erscheinungsformen zielführend sein können. Generell wurde der Wunsch aus dem Plenum geäußert, Extremismusprävention weniger als spezifische Kriminalprävention und mehr im Bereich genereller primärer Prävention im jugendlichen Alter zu fördern. Die von den Sicherheitsbehörden erfasste politisch motivierte Kriminalität (PMK) sei vor allem das Ergebnis von beobachteter Gewalt bei Demonstrationen. Doch neuartiger Gewalttourismus kaum mehr eingrenzbarer Herkunft wie beim Hamburger Schanzenfest weiche jede begriffliche Schärfe auf. Ist der PMK-Begriff hier noch präzise? In jedem Fall gebe es ein Dunkelfeld und der Eventcharakter führe bei vielen Anlässen zu einer regelrechten Fankultur: „Rechts-Links-Demos“ und die Entstehung autonomer Nationalisten seien nur zwei prominente Beispiele.
Arbeitsgruppen
In den anschließenden Arbeitsgruppen wurden diese Phänomene in kleinerem Kreis erfahrbar gemacht.
Zu linksextremen Parteien in Deutschland gaben Prof. Dr. Eckhard Jesse, Technische Universität Chemnitz, und Dr. Isabelle-Christine Panreck, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, einen Überblick. Die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates mache laut Jesse deren wesentliche Gemeinsamkeit aus. In kurzen Schlaglichtern wurden vier Parteien dargestellt. Die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) besteht seit 1968 und zählte in den 1970er Jahren bis zu 40.000 Mitglieder. Sie vertritt gegenüber der etablierten Partei DIE LINKE eine ambivalente Position und will bei den Bundestagswahlen 2017 wieder antreten. Sie hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands) verabschiedet, der beide Parteien voneinander zu differenzieren scheint. Im Vergleich sei die MLPD auch deutlich konspirativer organisiert. Es werde ein regelrechter Proletarierkult gepflegt, so Jesse. Ein interessanter Aspekt bestehe darin, dass die MLPD sich durch Erbschaften und Spenden finanziere. Jesse ging darüber hinaus auf die Sozialistische Gleichheitspartei ein, die als trotzkistische Partei gegen Kapitalismus und Sozialismus antrete und die permanente Revolution fordert. Ihre Mitglieder unterwanderten andere Parteien, teilweise treten sie aber auch offen auf. Zuletzt sei die KPD zu nennen, eine bolschewistische Partei, die sich unter anderem auf Nordkorea als ideologisches Vorbild beruft. Ein zentrales Problem für die Parteien sei es heute, Nachwuchs finden. Proletariat oder Prekariat? Gerade für diese gesellschaftlich relevante Frage seien linksextreme Parteien nicht offen. Denn aufgrund ihrer Abschottung nach Außen gebe es wenig Wissen, z. B. über die MLPD und ihre inneren autoritären Strukturen. Die Anziehungskraft sei daher mittlerweile für Außenstehende sehr gering. Jesse bezeichnete die MLPD als völlig ungefährlich, sie sei eine in sich abgeschlossene, sektenhafte Organisation. In eine ähnliche Richtung ging der abschließende Konsens: Von linksextremen Parteien gehe keine Gefahr aus, auch da es keine Verbindungen zum autonomem Spektrum gebe. Spannender für die Analyse seien ohnehin soziodemographische Befunde in den Grauzonen zwischen Linksextremismus und Demokratie.
In der zweiten Arbeitsgruppe „Bewegungsorientierter Linksextremismus – Die Autonomen aus Sicht der Sicherheitsbehörden“ stellte James Braun, Leiter des Bereichs „Politisch motivierte Kriminalität – links“ des LKA Berlin in seinem Vortrag die aktuelle Lage in Berlin sowie die Debatte im Vorfeld des G20-Gipfels dar. Schon ein Mobilisierungsvideo aus der linken Szene zeigte, wie gewaltgeprägt sich die derzeitige Situation darstellt. Neben theoretischen Informationen, z. B. zur PMK links oder aktuellen Entwicklungsstatistiken, brachte Braun auch immer wieder praktische Beispiele wie die Rigaer Straße 94 oder den anstehenden G20-Gipfel in Hamburg ein. Christian Pfenning vom niedersächsischen Verfassungsschutz ergänzte anschließend kurz aktuelle Entwicklungen, die die Entstehung der „Postautonomen“ begünstigen. Diese seien in ihrer Herangehensweise besonders interessant, da sie offen am politischen Diskurs teilnehmen und trotzdem Gewalt befürworteten. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass es keinerlei gesicherte empirische Daten über Autonome gebe. Auch seien Linksextreme in den letzten Jahren viel realistischer geworden und wüssten, dass eine Revolution in der heutigen Gesellschaft unwahrscheinlich und auch unrealistisch sei. Stattdessen werde versucht, die Machtstrukturen der Gesellschaft mit vielen kleineren Aktionen (wie z. B. gegen den G20-Gipfel) aufzurütteln und zu irritieren. Die Frage, wie weit linker Protest gehen dürfe, beantwortete Braun insoweit, dass er eine aufgeschlossene, kritische und auch widerständige Jugend für wünschenswert halte. Die Grenze sei allein bei Straftaten überschritten.
Im dritten Workshop „Für Demokraten anschlussfähige Inhalte als linksextreme Mobilisierungsthemen“ stellte Referent Martin Ziegenhagen, Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., das bereits 2014 eingestellte Projekt „Dialoge fördern“ vor, zu dem ein Internetportal gehörte. Dieses sollte durch konstruktiven Austausch zu Perspektivwechseln bei Linksextremen anregen. Auf der Website wurden gesellschaftlich relevante Themen sozial-räumlicher Trennungen, verurteilende Kommunikationsmuster und gewaltvolle Auseinandersetzungen behandelt: Die Vorstellung authentischer Geschichten von Aussöhnungen und sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehenden Seiten sollte zu Reflexion und Perspektivwechsel anregen. Als Beispiel auf der Ebene gewaltvoller Auseinandersetzungen stellte Ziegenhagen das Kreuzberger „Myfest“ anlässlich des 1. Mai vor: Nach Jahren militanter Ausschreitungen in Berlin wurde ein beispielgebendes Deeskalationskonzept entwickelt, das Aktivisten und Anwohner/-innen eingebunden hatte, Schulungen für die Polizei sowie ein neues Konzept eines Straßenfestes vorsah. Als Fazit hielt Ziegenhagen fest, dass das Projekt „Dialoge fördern“ keinerlei Feedback oder Resonanz erhalten habe. In der anschließenden, teils aufgeheizten Diskussion wurde differenziert, dass es sich beim „Linksextremismus“ um ein heterogenes Phänomen handele, dessen Themen – beispielsweise soziale Gerechtigkeit oder Gentrifizierung – in die Mitte der demokratischen Gesellschaft hinein reichten. Konsens war, dass die Anwendung von Gewalt als „rote Linie“ anzusehen sei. Ziegenhagen betonte abschließend noch einmal, dass auch in extrem linken Kreisen das Verhältnis zu Gewalt sehr kontrovers diskutiert werde.
„Linksextremismus ist nicht mehr hip“, stellte Dr. Rudolf van Hüllen im vierten Workshop, „Prävention von Linksextremismus und linker Gewalt“, zu Beginn fest. Das mache die Prävention aber nicht unbedingt einfacher. Denn Linksextremismus werde gesellschaftlich nicht geächtet, sei weder karriereschädigend noch bedeute er den sozialen Tod. „Dadurch kann die Prävention keinen direkten, warnenden oder diskreditierenden Zugang wählen – sie muss Umwege gehen.“ Mögliche Umwege könnten sein: die allgemeine Gewaltprävention; eine historische Annäherung; das Aufzeigen der Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, um den Linksextremismus normativ zu diskreditieren sowie statt Warnungen eher auf das Vermitteln von demokratischen Normen zu setzen. Es brauche viel Zeit, Linksextremismus zu erklären. Diese Zeit fehle schon lange an Schulen, mittlerweile sogar an den Universitäten, resümierte van Hüllen. Diese Aufgabe werde daher mehr und mehr im außerschulischen Bereich übernommen. Grit Fenner stellte Ansätze von „Minor - Projektkontor für Bildung und Forschung“ vor, das versucht, einige dieser beschriebenen Umwege zu gehen: Durch künstlerische, mediale und kulturelle Aktivitäten sollten linksaffine Jugendliche zur kritischen Reflexion angeregt und in einen gesellschaftspolitischen Diskurs eingebunden werden.
Abschlussdiskussion: Linksextremismus – ein unbestimmtes Phänomen?
Lässt sich Linksextremismus konkret eingrenzen? Oder wabert er als unbestimmbare Analysekategorie durch den wissenschaftlichen Diskurs? Diesen Fragen wurde die abschließende Podiumsdiskussion gewidmet, moderiert von Dr. Julia Gerlach von der Evangelischen Akademie Meißen.
Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Brühl, machte zu Beginn deutlich, dass die entscheidende Differenz von Rechts und Links die abweichende Vorstellung von Gleichheit ausmache. Zwischen gemäßigter und extremer Linke hingegen divergierten vorrangig die Vorstellungen von Freiheit.
Dr. Alexander Leistner, Deutsches Jugendinstitut, Halle (Saale), betonte, dass die Umsetzung dieser Begrifflichkeiten in die pädagogische Praxis voller Hindernisse stecke. Vor allem die Verwendung des Linksextremismusbegriffs als Kampfbegriff mache produktive Diskussionen unmöglich. Leistner warb dafür, stattdessen bewegliche Gesellschaftsbilder über das Geordnete und das Abweichende in die Diskussion mit einzubeziehen.
Dr. Gero Neugebauer, Freie Universität Berlin, sah die begriffliche Gefahr vor allem in der grassierenden Beliebigkeit bei der Beschreibung linksextremer Parteien. Auch die Wahlforschung habe bisher stets erfolglos versucht, hier funktionierende Instrumente zu entwickeln.
Martin Ziegenhagen, Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Berlin, hingegen sprach aus einer dezidiert pädagogischen Perspektive: Sobald Zielgruppen Demokratie ablehnten, sehe er einen dringenden Handlungsbedarf. In linken Lebenswelten erlebe er allerdings meist enormes Engagement, ein Interesse an der Welt und hohe moralische Ansprüche. Radikalisierung hingegen entstehe allgemein aus einem Anerkennungsdefizit bei jungen Menschen.
Hier äußerte Neugebauer klaren Zuspruch: In ihren soziopolitischen Einstellungen beobachte er generell ein Ja zu Demokratie und Frieden, libertäre Ideale und klares Engagement dahingehend, Strukturdefizite der Demokratie zu verbessern. Dies könne durchaus radikal sein, aber sei trotzdem nicht extremistisch.
Pfahl-Traughber widersprach und warnte vor einem demokratietheoretischen Relativismus: Diese Perspektive führe zur Ausklammerung von Problemen. Wo das Ideal sozialer Gleichheit wichtiger werde als der Respekt gegenüber demokratischen Grundsätzen, sei durchaus extremistisches Potential vorhanden.
Hier hakte Ziegenhagen damit ein, dass doch eine deutliche Grenze zu ziehen sei, und zwar bei der Anwendung von Gewalt. Pfahl-Traugbher pflichtete Ziegenhagen bei. Zudem setze der erste Gewaltakt oft eine Kette von weiteren Straftaten in Gang.
Ist Gewalt in ihrer ewigen Faszination eine so alte wie neue Erlebniskultur? Leistner unterschied hier zunächst Gewalt und die symbolische Inszenierung von Gewalttätigkeit. Hier müssten konkrete Zielgruppen identifiziert werden, was am Beispiel des Linksextremismus mühevoll sei. Es gebe zu wenig konkrete Befunde, gerade im Vergleich zum Rechtsextremismus. Doch Szenediskurse wie zum Beispiel zum Phänomen der Antideutschen seien relevant und bedürften verstärkter Aufmerksamkeit, ebenso wie die europaweite Vernetzung linksextremer Aufrufe zu Demonstrationen und anderen Aktionen.
Neugebauer machte sich an dieser Stelle dafür stark, eine politische Kultur zu schaffen, in der Gewalt prinzipiell abgelehnt werde und gemeinwohlorientierte Ziele positiv formuliert werden. Wir müssen uns fragen, wie Konflikte in unserer Gesellschaft ausgetragen werden. Pfahl-Traughber erbat sich zudem eine Sensibilisierung für gesellschaftliche Protestbewegungen, deren oft ehrenwerte Absichten nicht diskreditiert werden dürften. Im Gegenzug müssen sich Veranstalter von Demonstrationen aber klarer von Gewalt abgrenzen. Angesprochen auf die Prävention warb Leistner neben konkreter Deeskalation vor allem für die Stärkung der lokalen Zivilgesellschaft. Mit einem Plädoyer für Demokratie sei es viel leichter, Zielgruppen zu finden, betonte auch Ziegenhagen.
Im Laufe der Diskussion wurde schließlich klar, dass Linksextremismus ein äußerst weit verzweigtes Phänomen bleiben wird. Er beruht auf einem eher formalen Demokratiebegriff und ist auf diese etwas starren Grenzen auch angewiesen. Weite Teile des Podiums konnten sich darauf verständigen, dass ein offener, positiver Begriff, der sich nicht nur auf die Einhaltung der freiheitlich-demokratische Grundordnung berufe, deutlich mehr Handlungsmöglichkeiten verspreche. Pfahl-Traughber beharrte hier darauf, dass die empirische Messbarkeit aber gerade auf diesen Kategorien beruhe und nicht vorschnell geopfert werden sollte. Neugebauer sah allerdings die Schwierigkeit, in diesem Feld überhaupt an wissenschaftlich überprüfbare Aussagen zu kommen. Zum Abschluss des Fachtags stellte Leistner noch eine offene Frage ans Plenum: Wie lässt sich die politische Mitte in der Diskussion um (Links-)Extremismus thematisieren? Wie sehr ist diese diskussionsbereit und selbstkritisch? Auch darauf müsse die Forschung Antworten liefern, um die fehlende Klarheit der gesamten Thematik Linksextremismus in Zukunft zu weiten und an drängende gesellschaftliche Diskurse anschlussfähig zu machen.