Es mutet an wie eine Filmszene: Mehrere Vermummte attackierten am 3. November 2019 die Mitarbeiterin einer Leipziger Immobilienfirma und schlugen die junge Frau in ihrer Wohnung zusammen. Kurz darauf tauchte ein Bekennerschreiben auf, das die Tat mit dem zunehmenden Bau von Luxuswohnungen in der Stadt rechtfertigen sollte. Ist dieser Vorfall der Ausdruck einer militanten linken Szene? Gibt es diese auch in anderen Großstädten? Welche Milieus sind involviert und unter welchen Voraussetzungen ergibt es überhaupt Sinn, von linker Militanz als Begriff zu sprechen?
Linke Militanz ist mehr als jugendliche Delinquenz
Mit diesen Fragen begrüßte Hanne Wurzel, Leiterin des Fachbereichs "Extremismus" in der bpb, die Teilnehmenden der Fachtagung "Linke Militanz – Phänomene, Grundlagen, pädagogische Praxis" in Bamberg. Sie stellte zunächst heraus, dass die Wissenslage beim Thema Linke Militanz besonders diffus sei. Männlich, jung und gruppenbezogen – dieses Täterprofil unterscheide sich nicht von Profilen im Kontext herkömmlicher Kriminalität. Trotzdem gebe es Anlass davon zu sprechen, dass linke Militanz mehr sei als ein Phänomen von zur Delinquenz neigenden jungen Männern. Gerade die Polizei habe hier ein großes Interesse daran, die Hintergründe des gewaltsamen Protests zu verstehen, betonte Wurzel. Andererseits bestehe die berechtigte Frage nach pädagogischen Ansätzen im Umgang mit linker Militanz.
Diskurse und Dialog schaffen
Thomas Heppener, Leiter des Referats für Demokratieförderung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, pflichtete Wurzel dahingehend bei, dass weder ausreichend empirische Forschung noch pädagogische Fachpraxis vorhanden sei. Die Einrichtung der Bundesfachstelle Linke Militanz in 2017 sei jedoch ein positives Signal.
Gleichzeitig zeigte sich Heppener besorgt, ob "Militanz" nicht eine zu große begriffliche Verengung darstellt. Man müsse zwar die Hinwendung zur Gewalt verstehen lernen, aber solange Prävention nur von einem zu behebenden Missstand ausgehe, sei sie pädagogisch fragwürdig und schwierig umsetzbar. Besser sei es, die Betroffenen in Diskurse einzubeziehen und sie zum Beispiel in bewussten Dialog mit der Zivilgesellschaft wie zum Beispiel Kirchen und Gewerkschaften zu bringen. Gleichzeitig seien neue Projekte zu schaffen und zu fördern, Heppener verband dies mit einem eindringlichen Appell an die Träger, Projekte zu entwickeln und für Förderungen einzureichen.
Linke Militanz – ein auszudeutender Begriff
Das erste wissenschaftliche Schlaglicht der Tagung lieferte Dr. Matthias Micus, Leiter der Bundesfachstelle Linke Militanz am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Der Politologe stellte zunächst zwei Eckpfeiler des Begriffs Linksextremismus vor: Die Ablehnung von Teilen des Verfassungsstaates sowie das Streben nach sozialer Gleichheit. Die Spielräume zur Interpretation seien groß, semantisch festgeschrieben werde der Begriff Linksextremismus aber nach Max Fuhrmann durch die Deutungshoheit liberal-konservativer Extremismustheoretiker und des Verfassungsschutzes.
Vortrag von Dr. Matthias Micus, Leiter der "Bundesfachstelle Linke Militanz"
Das Streben nach sozialer Gleichheit an sich sei natürlich nicht verfassungsfeindlich, das machte Micus deutlich. Es stelle sogar einen positiven Wert dar, gerade im Gegensatz zu den Ungleichheitsvorstellungen des Rechtsextremismus. Ob man dann überhaupt von Linksextremismus sprechen könne, sei fraglich.
Linke Militanz hingegen sei als Alternative auf der Handlungsebene zu betrachten. Kämpferische Haltung, tatbetonende Strategie, radikale Ziele – damit werde versucht, inhaltliche Positionen wie die Ablehnung bürokratischer Institutionen in die Tat umzusetzen. Das Gewaltverständnis Linksradikaler und speziell Autonomer ziele darauf, vorgebliche physische, staatliche, strukturelle, symbolische und sprachliche Abhängigkeitsverhältnisse zu beenden. "Die" Autonomen gebe es jedoch nicht, der Begriff bezeichne wenn schon ein Mischprodukt sozialer Bewegungen, für deren Anhänger der physische Kampf identitätsstiftend wirke und zum Selbstzweck bis hin zu einem Gewaltfetisch werde. Disziplin, Hierarchie und Männlichkeitsformen in diesen Gruppen stünden im Widerspruch zum propagierten Antiautoritarismus. Den gängigen Gewaltalarmismus rund um den G20-Gipfel bezeichnete Micus jedoch als ahistorisch, tatsächlich sei seit Jahren ein Rückgang des Gewalthandelns beobachtbar, ziviler Ungehorsam in Form von Blockaden sei stattdessen beliebter geworden.
Eine weitere historische Verschiebung bestehe darin, dass früher soziale Marginalisierung und Militanz zusammen gehört hätten, so Micus. Heute setzten sich Interventionistische Linke (IL) und so genannte Antifa-Gruppen hauptsächlich aus Kindern bürgerlicher Elternhäuser zusammen und diese hätten ein eher zögerliches Verhältnis zur Gewalt. Jugendlichkeit und Militanz hätten zwar auch inhaltliche Gemeinsamkeiten, doch die komplexe Organisationsstruktur in diesen Gruppen wirke als Faktor der Mäßigung. Auch das Bündnis mit der Geschichte habe sich mit der Zeit aufgelöst, die Szene sei heute isoliert, besetzte Häuser im gentrifizierten Berlin-Friedrichshain wirkten für Micus fast wie monolithische Relikte aus einer vergangenen Zeit. Begriffe wie "Post-Autonome" könnten hier aber lediglich Begriffshilfen sein, um Phänomene sozialen Ungehorsams zu fassen. Viele dieser Erscheinungsformen seien auch nicht spezifisch links – linke Militanz könne demnach nicht als feststehender Begriff verstanden werden. Er erlebe hin und wieder Konjunkturen wie rund um den G20-Gipfel, eine Debatte über Linkssein und Gewalt werde aber nicht kontinuierlich geführt.
Die ästhetische Aufladung des Protests
Der Protestforscher und -chroniker Dr. Wolfgang Kraushaar rekapitulierte in seinem Anschlussvortrag die wichtigsten Schlaglichter linker Militanz seit dem Zweiten Weltkrieg, zunächst mittels einer Annäherung an den Begriff: Wer militant ist, der agiert zwischen Gewalt und Terror, jedoch nicht aus dem Hinterhalt und nicht gegen Unbeteiligte, so Kraushaar. Stolz, Selbstbewusstsein und Entschlossenheit sowie eine ästhetische Aufladung des Protests erweckten eine romantische Aura, die jede Vermittlung und Aushandlung unmöglich mache. Die Plötzlichkeit der Gewalt sei zudem essentiell, um zu deren revolutionärem Subjekt zu werden. Ohne die Aufmerksamkeit der Medien wäre linke Militanz zudem lange nicht so sichtbar, sagte Kraushaar. Gewissermaßen werde die Gewalt durch die Medien honoriert, es komme zu einem Bündnis zwischen Medien und Militanten. Das sorge weiterhin dafür, dass es innerhalb der Gruppe zu einer Profilierung durch Gewaltakte komme, da nur diese einen wirklichen, revolutionären Unterschied machten.
Von der "Schlacht am Tegeler Weg" zu den Übergriffen am Neuen Pferdemarkt
Vortrag von Dr. Wolfgang Kraushaar, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur
Als Urszene der autonomen Bewegung und des so genannten Schwarzen Blocks beschrieb Kraushaar dann im chronologischen Stil erstens die Proteste gegen die Festnahme Horst Mahlers am 4. November 1968 am Berliner Landgericht mit 130 verletzten Polizisten und zweitens die Gewaltaktionen der sogenannten "Lederjackenfraktion" aus Soziologiestudenten im Januar 1969 in Frankfurt am Main. Sie bestand unter anderem aus dem späteren Außenminister Joschka Fischer sowie dem späteren Welt-Verleger Thomas Schmid und entwickelte sich als "Putztruppe" zum Epizentrum einer gewaltbereiten Hausbesetzerszene. Rund um die entstehende Anti-AKW-Bewegung und im Häuserkampf hätten die Autonomen daraufhin in weiteren Großstädten Gehör gefunden, bis am 2. November 1987 zwei Polizisten beim Protest gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens von einem Autonomen erschossen wurden. Ein gravierender Einschnitt für die Szene, der laut Kraushaar zu einer Zersplitterung sozialer Bewegungen und auch der Gewaltbereitschaft geführt habe.
Der "Schwarze Block" agiere aus scheinbar friedlichen Demonstrationen heraus, er nutze sie mithin als Schutzschild, um situativ Gewalt auszuüben. Eine konkrete politische Begründung gebe es hier gar nicht mehr, ebenso wenig wie sichtbare Führungsfiguren. Die Gewalt rund um die G-Gipfel sei größtenteils zu einem Selbstzweck geworden, so Kraushaar.
Kraushaars Fazit, dass linke Militanz hauptsächlich aus Selbstbestätigung, Männlichkeit und Lustgewinn durch Verletzung gespeist werde, wurde im Plenum sehr kritisch aufgenommen. Eine Teilnehmerin bemerkte, dass Kraushaar die Existenz von Frauen in der autonomen Szene gar nicht thematisiert habe. Generell wurde die Unschärfe des Militanzbegriffs kritisiert und es wurden Zweifel laut, ob er für die Seismik heutiger sozialer Bewegungen zwischen Rechtspopulismus und Fridays for future überhaupt noch geeignet sei. Globalisierung, Digitalisierung und die neoliberale Ökonomie hätten die Verhältnisse gravierend verändert, es müsse daher genauer hingeschaut werden, um heutige Protestformen zu beschreiben, die sich für soziale Gerechtigkeit und Gleichheitsvorstellungen einsetzen. Der Begriff der linken Militanz sei hier nicht mehr zielführend, so ein Teilnehmer.
In der folgenden Workshop-Phase konnten sich die Teilnehmenden ein ausgiebiges Bild zum Thema machen und mit Expertinnen und Experten diskutieren:
Vertiefungsangebote
Rechtfertigungen politischer Gewalt
Panel mit Dr. Peter Imbusch, Professor für Politische Soziologie, Bergische Universität Wuppertal
Polizeiliche Strategien im Umgang mit linker Militanz bei Demonstrationen
Panel mit Udo Behrendes, Leitender Polizeidirektor a.D., Köln, Nordrhein-Westfalen
Arbeitsgruppen
Linke Militanz und politische Bildung?
Zum Abschluss der Fachtagung stellte Ulrich Ballhausen vom Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover wesentliche Punkte zum Verhältnis von politischer Bildung und linker Militanz heraus. Kontrovers und emotional aufgeladen sei die Debatte, doch welche Handlungsmöglichkeiten und Bedarfe gebe es tatsächlich in der Praxis? Zunächst benannte Ballhausen die Trägerspezifik: Nur wenige Träger hätten überhaupt ein Interesse daran, sich mit linker Militanz zu befassen. Es gebe also wenig zivilgesellschaftlichen Druck, sich mit dem Thema zu befassen, ganz anders als beim Rechtsextremismus. Die Herausforderungen für die Demokratie seien vielfältig und anderswo größer, sagte Ballhausen und mahnte an, im Einzelfalls zwischen Äußerungen und Handlungen unterscheiden: Prävention sei im Kontext der politischen Bildung nicht der richtige Begriff, weil er einen Verdacht erzeuge, der eine pädagogische Herangehensweise oft unmöglich macht.
Ballhausen stellte dann die konsequente Frage, ob das Wissen über linke Militanz für eine sozialwissenschaftlich fundierte Beschäftigung mit dem Phänomen überhaupt ausreiche. Denn ohne dieses Hintergrundwissen seien Vereinfachungen im pädagogischen Kontext unvermeidbar, vor denen Ballhausen eindrücklich warnte. Es müsse immer klar sein, über wen geredet werde. Oft werde über "die" Antifa vereinheitlicht gesprochen und dabei ignoriert, dass innerhalb der Antifa selbst Debatten über die Legitimation von Gewalt geführt würden. Spätestens hier sei der Extremismusbegriff diskutabel, weil er diese Meta-Ebene nicht abzubilden vermag. Als Alternative sprach sich Ballhausen dafür aus, Prozesse im Sinne eines Community Coachings zu initiieren und keine Diskreditierung gesellschaftlicher Protestbewegungen zu betreiben. Die Verschiebungen von allgemeiner politischer Bildung hin zu phänomenbezogenen Sonderprogrammen gegen Extremismus sah Ballhausen aus dieser Perspektive äußerst kritisch. Sollte man sich mit Linksextremismus oder linker Militanz also noch beschäftigen? Das Akquirieren von Fördermitteln sei in diesem Fall zwar vergleichsweise leicht, aber viele Träger hätten den Eindruck, damit Bildung auf Wunsch der Politik zu betreiben. Im Gegensatz dazu plädierte Ballhause dafür, Chancen und Grenzen der politischen Bildung in einem so selbstkritischen wie selbstbewussten Prozess aufzuzeigen.
Insgesamt wurde bei der Fachtagung mehr als deutlich, dass das Phänomen linke Militanz in der politischen Bildung schwierig zu bearbeiten sei. Zwar ist es möglich, das Phänomen einigermaßen einzugrenzen, doch ergeben sich daraus noch lange keine Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis. Der wissenschaftliche Kenntnisstand ist lamentabel und die soziale Dynamik in steter Veränderung begriffen. Trotzdem konnten einige Projekte und Konzepte vorgestellt und diskutiert werden, die zumindest einen Zugang schaffen können. Besonders für die Polizei stellte sich heraus, dass Handlungsempfehlungen für die polizeiliche Taktik im Umgang mit linker Militanz dringend gebraucht werden und die vielen Polizistinnen und Polizisten unter den Teilnehmenden der Tagung zeigten ein großes Interesse daran, die Beweggründe linker Militanz für ihre praktische Arbeit nachzuvollziehen.
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