Als am 20. April 1998 bei der Nachrichtenagentur Reuters ein acht Seiten umfassendes Schreiben der RAF eintraf, in dem es ultimativ hieß, "Heute beenden wir dieses Projekt", herrschte zunächst einmal Ungläubigkeit vor, doch schon bald legte sich das über Jahrzehnte angewachsene Misstrauen und wich der Erleichterung, dass der "Spuk" nun offenbar vorüber war.
Bei genauerer Lektüre des Papiers, deren oder dessen Verfasser auch den Behörden bislang unbekannt geblieben sind, stellte sich bei den ersten Kommentatoren jedoch Verwunderung über die stellenweise immer noch deutliche mentale Starrheit und weiter anhaltende ideologische Verblendung ein. Einerseits war der vielleicht nachvollziehbare Gestus, zwar geschlagen, aber mit erhobenem Haupt den Platz des Geschehens verlassen zu wollen, unübersehbar, andererseits jedoch überwogen Passagen einer ungebrochen phrasenhaften Subjekt- und Befreiungsrhetorik.
Die RAF, so heißt es, vom Ton her fast an den antinapoleonischen Duktus preußischer Partisanen erinnernd, hätte "den Befreiungskrieg in der Bundesrepublik aufgenommen". Der Tenor des gesamten Papiers folgt der gespaltenen Maxime: Sich einerseits zwar verabschieden, andererseits aber doch nicht ganz aufhören zu wollen.
In dem Abschnitt "Wir stehen zu unserer Geschichte" heißt es etwa: "Die RAF war der revolutionäre Versuch einer Minderheit. [...] Wir sind froh, Teil dieses Versuchs gewesen zu sein. Das Ende dieses Projekts zeigt, daß wir auf diesem Weg nicht durchkommen konnten. Aber es spricht nicht gegen die Notwendigkeit und Legitimation der Revolte. Die RAF ist unsere Entscheidung gewesen. [...] Für uns ist diese Entscheidung richtig gewesen. [...] Wir haben die Konfrontation gegen die Macht gewollt. Wir sind Subjekt gewesen, uns vor 27 Jahren für die RAF zu entscheiden. Wir sind Subjekt geblieben, sie heute in die Geschichte zu entlassen. Das Ergebnis kritisiert uns. Aber die RAF – ebenso wie die gesamte bisherige Linke – ist nichts als ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Befreiung." Ganz nach dem von Ernst Bloch ein ums andere Mal aus den Bauernkriegen zitierten Motto: "Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechtens besser aus." Konkret stellt die Erklärung zwar eine Aufgabe, abstrakt jedoch immer noch ein Kontinuitätsbegehren dar.
Eingeständnisse von Fehlern kommen vor, doch sie fallen weitgehend taktisch aus. So sei die Schleyer-Entführung zwar richtig gewesen, um "die Gefangenen aus der Folter zu befreien", jedoch nicht die sich daran anschließende Entführung der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu; so hätten die bewaffneten Aktionen "die politischen und gegenkulturellen Prozesse" unterbewertet; so sei es insgesamt ein strategischer Fehler gewesen, "neben der illegalen, bewaffneten keine politisch-soziale Organisation" aufgebaut zu haben. Aus diesem Hauptfehler resultiert das Eingeständnis, dass das RAF-Konzept künftig "in den Befreiungsprozessen keine Gültigkeit mehr" für sich beanspruchen könne.
Manches hätte zwar anders gemacht werden können, es sei jedoch trotz der eingeräumten Fehler "grundsätzlich richtig gewesen, [...] die Kontinuitäten der deutschen Geschichte mit Widerstand zu durchkreuzen". Nach Faschismus und Krieg hätte die RAF etwas Neues in die Gesellschaft gebracht, "das Moment des Bruchs". Einen Sieg will sich die RAF, wie sie ganz unmissverständlich zum Ausdruck bringt, im Moment ihrer Niederlage nicht nehmen lassen: "Die RAF hat nach dem Nazi-Faschismus mit diesen deutschen Traditionen gebrochen und ihnen jegliche Zustimmung entzogen." Das ist vermessen und klingt, als habe die RAF persönlich für eine neue Gesellschaftsordnung gesorgt.
Durch "alle Härten und Niederlagen hindurch", heißt es das eigene Durchhaltevermögen belobigend weiter, hätte sie mit Entschiedenheit gezeigt, dass sie "im Gang der Geschichte unkorrumpierbar" geblieben sei. Kein Wort über die Aussteiger, über die politischen Frontenwechsler wie Horst Mahler etwa, keines über die als "Verräter" denunzierten Kronzeugen und vor allem keines über die Opfer – kein Wort an deren Angehörige, keine Geste der Entschuldigung, kein Bitten um Vergebung, rein gar nichts.
Und – als sollten letzte Zweifel ausgeräumt werden, wer allein für Tod und Terror verantwortlich gewesen sein kann – heißt es: "Der tatsächliche Terror besteht im Normalzustand des ökonomischen Systems." Damit ist alles wieder im Lot. Alle Eingeständnisse sind mit diesem einen Satz nivelliert.
Und hier schließt sich im Übrigen der Kreis. Ideologisch ist man dort wieder angelangt, wo man 1972 mit der Erklärung "Dem Volke dienen" aufgehört hat. Was man selbst getan hat, waren offenbar nichts anderes als Akte "revolutionärer Gewalt", Akte, die lediglich von ihren Feinden durch die Etikettierung "Terror" stigmatisiert und denunziert worden sind. Das kapitalistische System als solches ist demnach terroristisch und nicht diejenigen, die es stürzen wollten.
Zum Schluss heißt es in derselben Rhetorik fortfahrend: "Wir denken an alle, die überall auf der Welt im Kampf gegen Herrschaft und für Befreiung gestorben sind. Die Ziele, für die sie sich einsetzten, sind die Ziele von heute und morgen – bis alle Verhältnisse umgeworfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Ihr Tod ist schmerzlich, aber niemals umsonst. Sie leben in den Kämpfen und der Befreiung der Zukunft weiter. Wir werden die GenossInnen der palästinensischen PFLP nie vergessen, die im Herbst 1977 in internationaler Solidarität beim Versuch, die politischen Gefangenen zu befreien, ihr Leben ließen."
Mit anderen Worten: Jene palästinensischen Terroristen, die die Lufthansa-Maschine mit den Mallorca-Urlaubern an Bord entführt hatten, waren nun doch nichts anderes als Märtyrer, die letztlich für eine gute Sache gestorben sind. Im christlichen Kulturraum ist der Märtyrer, wie der Historiker Manfred Hettling einmal betont hat, eine Konkretisierung des Opfers, das die Zuversicht, ja Sicherheit auf eine zukünftige Erlösung einschließt: "Während das Opfer mehr die Bereitschaft zur Hingabe zum Ausdruck bringt, ist im Begriff des Märtyrers sowohl die gegenwärtige Niederlage als auch die Gewißheit der künftigen Heilsgewinnung enthalten." Dieses transzendente Moment in der Figur derjenigen, die bereit sind, sich im Kampf selbst zu opfern, ist damit jedenfalls von jenen in Anspruch genommen worden, die die RAF beerdigt haben.
Die Auflösungserklärung endet schließlich mit der Auflistung jener 26 Namen, die im Laufe der 28 Jahre andauernden Existenz ihrer Organisation als RAF-Angehörige ihr Leben verloren haben, ohne jedoch irgendein Wort über die von ihr selbst verursachten Opfer zu verlieren. Zuletzt folgt ein trotzig zitierter Ausspruch Rosa Luxemburgs, der bereits wie ein utopisches Motto über ihrem eigenen, tragisch geendeten Leben gestanden hatte: "Die Revolution sagt: ich war, ich bin, ich werde sein!"
Rosa Luxemburg wollte mit diesem Satz auf die Niederlage ihrer eigenen revolutionären Bewegung reagieren. Nach der Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes hatten die Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Gustav Noske erklärt, dass nun in Berlin diese Ordnung wieder hergestellt sei. Luxemburg hielt ihnen in einem letzten, am Abend vor ihrer Ermordung verfassten Artikel entgegen, dass ihre Ordnung in Wirklichkeit auf Sand gebaut sei. Nach ihrem Tod wurde die Zeile "Ich war, ich bin, ich werde sein" unter Kommunisten zu einer Art Vermächtnis. Sie sollte mit dem Verweis, dass die Revolution auch weiterhin eine historische Notwendigkeit sei, in aussichtslos erscheinenden Situationen – wie beispielsweise der NS-Zeit– Zuversicht bieten und Trost spenden.
In diesen durch die Ikone der undogmatischen Linken gestifteten, seit Jahrzehnten von Parteigängern des Kommunismus strapazierten und durch dessen Totalitarismus beschädigten und in sich gebrochenen Traditionszusammenhang klinkt sich die RAF bedenkenlos ein. Indem sie ihr eigenes Ende in dem Rosa Luxemburgs spiegelt, versucht sie zum Schluss deren moralisch unbestechlichen Ruf zu okkupieren und sich damit noch einmal mythisch zu erhöhen. Mit dieser Verlautbarung hat sich die RAF selbst ein Denkmal zu setzen versucht. Die Sätze sind von einem unerträglichen Pathos der Selbstgerechtigkeit getragen und wirken petrifiziert, fast wie in Stein gehauen.
Nirgendwo sonst ist das manichäische, existenziell aufgeladene Weltbild der RAF so deutlich hervorgetreten wie in ihrem Opferverständnis. Dem Kult um die eigenen Opfer, der unablässigen Heroisierung ihrer zu Tode gekommenen Aktivisten, wurde die Verachtung der fremden Opfer und ihre weitgehende Tabuisierung entgegengesetzt. Ein ehemaliges RAF-Mitglied, Klaus Jünschke, ein RAF-Mann der ersten Generation, kommentierte die Erklärung in einem Interview ernüchtert mit den Worten: "Das alte Tabu – kein Wort über die Opfer – wird nicht gebrochen."
Die strikte Selektivität der Opferwahrnehmung hörte also auch nach der Einstellung des bewaffneten Kampfes keineswegs auf. Das extreme Missverhältnis zwischen Fremdopfer und Selbstopfer dürfte zudem grundlegend dafür gewesen sein, dass sich innerhalb der deutschen Linken der Mythos RAF über so viele Jahre hat erhalten und ein derartiges Echo hat erzeugen können.