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Das trotzkistische Spektrum im Linksextremismus

Rudolf van Hüllen

/ 7 Minuten zu lesen

Trotzkisten sind gläubige Exegeten einer Doktrin, die für die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gedacht war. Ihre organisatorische Zersplitterung versuchen sie zu kompensieren, indem sie sozialistische Parteien, Jugendorganisationen und Gewerkschaften instrumentalisieren.

Trotzki im Jahr 1940. (© picture-alliance/AP)

Das trotzkistische Spektrum im Linksextremismus

Trotzkisten sind gläubige Exegeten einer Doktrin, die für die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gedacht war. Ihre organisatorische Zersplitterung versuchen sie zu kompensieren, indem sie sozialistische Parteien, Jugendorganisationen und Gewerkschaften instrumentalisieren.

Als "Trotzkisten" unter den revolutionären Marxisten werden die Anhänger Leo Trotzkis (eigentlich Leo Bronstein, 1878-1940) bezeichnet. Der Weggefährte Lenins unterlag in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts im innersowjetischen Machtkampf Josef Stalin; er wurde 1928 ins Exil gezwungen und 1940 in Mexiko von einem Sowjetagenten ermordet.

Seine heutigen Anhänger verstehen sich als einzig legitime Wahrer des Leninschen Erbes. In der Tradition eines von Trotzki 1938 formulierten Programms zielen sie weiterhin unbeirrt auf die gewaltsame Errichtung einer weltweiten "Diktatur des Proletariats" aus "Arbeiterräten" ab. Die Stalinsche Lehre vom "Aufbau des Sozialismus in einem Lande" lehnen sie ab. Zudem kritisieren sie die innere Ordnung realsozialistischer Regime als "bürokratisch entarteter Sozialismus", bei dem eine Funktionärsschicht die Arbeiter unterdrücke. Neben dem Stalinismus ist für Trotzkisten der zweite, nahezu ebenso verhasste Hauptfeind die "reformistische Sozialdemokratie", der Verrat an den Interessen der Arbeiterschaft vorgeworfen wird.

Ursprünglich verstanden sich die Anhänger Trotzkis als "linke Opposition" innerhalb der 1919 gegründeten "III Internationale" (Komintern). Nach ihrem Ausschluss bildeten sie 1938 eine eigene "IV. Internationale"; diese "Weltpartei der sozialistischen Revolution" gliederte sich in nationale "Sektionen". Im Unterschied zu orthodoxen Marxisten-Leninisten gestatten Trotzkisten in ihren Gruppen kontroverse Diskussionen und die Bildung von "Tendenzen". Da aber kommunistisches Politikverständnis nicht auf einen Pluralismus gleichberechtigter Meinungen, auf Ausgleich und Kompromiss zielt, sondern nur eine einzige ideologisch korrekte "Linie" akzeptiert, führt der scheinbar symphatische Zug einer "innerparteilichen Demokratie" bei Trotzkisten zu erbitterten Auseinandersetzungen, die in ständige Spaltungen der Gruppen und in die Gründung immer neuer, einander bekämpfender "Internationalen" mündet. Derzeit existieren weltweit fast zwanzig trotzkistische Dachverbände, von denen aber nur eine Handvoll nach Größe und Stabilität von einiger Bedeutung ist.

Trotzkisten suchen durch die Taktik des "Entrismus" ihre von organisatorischer Zersplitterung verursachte Schwäche zu kompensieren. Dabei treten sie größeren Formationen der politischen Linken bei, etwa sozialistischen Parteien, Jugendorganisationen, Gewerkschaften oder auch gesellschaftlichen Protestinitiativen. Das Verfahren will entweder die infiltrierte Organisation unter Kontrolle bringen oder aber in ihr soweit als möglich trotzkistische Positionen verankern bzw. trotzkistische Kaderkerne aufbauen. Niemals geht es um Akzeptanz des politischen Programms der als Wirt missbrauchten Organisation. Entrismus existiert in zwei Varianten: als konspirative, langfristig angelegte Unterwanderung ("deep entrism") oder aber als Beitritt ohne Leugnung der trotzkistischen Ausrichtung ("open entrism").

Trotzkismus in Deutschland

In Deutschland haben trotzkistische Ideen niemals größere Resonanz gefunden. In der DDR galten ihre Anhänger den in stalinistischen Traditionen stehenden Regimen Ulbrichts und Honeckers als Staatsfeinde. In der Bundesrepublik waren sie in den 50er und 60er Jahren so schwach, dass sich die wenigen Aktivisten in Entrismustaktik flüchteten. Vom Aufschwung einer "Neuen Linken" seit Ende der 60er Jahre profitierten auch Trotzkisten, ihre Gruppen vereinten in der ersten Hälfte der 70er Jahre nach Verfassungsschutzangaben bis zu 1.200 Mitglieder, diese Zahl sank in den folgenden Jahren auf nahezu die Hälfte. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus verzeichneten sie wiederum Zulauf. Sie profitierten einerseits von ihrer Kritik des nunmehr diskreditierten Stalinismus, andererseits von Antifaschismus-Kampagnen, die ihnen vor allem junge Menschen zuführten.

Die Verfassungsschutzbehörden registrierten 1999/2000 einen Höhepunkt mit 2.350 Anhängern. Anfang 2014 hatte sich die Zahl auf 1.400 in 20 Gruppen eingependelt. Darunter befinden sich zahllose kleine oder kleinste Splittergruppen und Zirkel ohne nennenswerte Außenwirkung. Nur ein Teil der trotzkistischen Organisationen öffnet sich gesellschaftlichen Protestthemen. Andere - so genannte "propaganda fighting groups" - sind dogmatisch derart erstarrt, dass sie ihre Hauptaufgabe in der unbeirrten Wiederholung ideologischer Phrasen sehen, meist verbunden mit der routinierten Beschimpfung konkurrierender trotzkistischer Strömungen als "Renegaten", "Revisionisten" oder "politische Banditen".

Im Folgenden werden die in Deutschland wichtigsten trotzkistischen vorgestellt.

International Socialist Tendency: Netzwerk Marx 21

Die seit längerem größte Formation des deutschen Trotzkismus hat britische Wurzeln: Ihre bis 2008 als "Linksruck" bekannten Trotzkisten gehören zur "International Socialist Tendency" (IST; Internet: www.internationalsocialist.org) aus London. Deren ideologischer Kopf, Tony Cliff (1917-2000) hatte sich schon 1950 vom Mainstream der Trotzkisten abgespalten. IST reklamiert heute rund 30 Sektionen, die meisten davon in Europa;. Die Sektionen des Dachverbandes werden straff und autoritär angeleitet; sie haben keine nennenswerte eigene Entscheidungsbefugnis. Bei vielen konkurrierenden Linksextremisten, besonders im autonomen Spektrum, sind die deutschen IST-Anhänger wegen ihres rücksichtslosen Machtgehabes denkbar unbeliebt: Sie vereinnahmen durch massiertes Auftreten fremde Initiativen, bringen Protestbündnisse unter ihre Kontrolle, dominieren durch einheitliche Plakatparolen optisch Demonstrationen und verbreiten holzschnittartige Agitation auf dem Niveau von Boulevardblättern. Auch intern herrschen autoritäre Prinzipien: Abweichungen von der in London vorgegebenen Linie werden nicht geduldet.

Die deutsche IST-Sektion wechselte häufig das Erscheinungsbild. Zwischen 1963 und Anfang der 90er Jahre nannte sie sich "Sozialistische Arbeitergruppe" (SAG). Bei ihrer Beteiligung an "antifaschistischen", auch militanten, Aktionen kam die SAG indessen über Gebühr mit anarchistischem Gedankengut in Berührung. Die Zentrale in London ordnete eine "Säuberung" und einen Strategiewechsel an: Künftig hatten die jüngeren SAG-Mitglieder als "Linksruck-Netzwerk" Entrismus bei den Jungsozialisten zu betreiben. Später entdeckte sie in der aufkommenden globalisierungskritischen Bewegung den Keim einer "neuen Linken"; "Linksruck" wandte sich - inzwischen mehr als 1.000 Mitglieder stark - diesem Themenfeld zu und schickte seine Kader in das globalisierungskritische Netzwerk "Attac". 2003 wandten sich IST und "Linksruck" mit einer die Kampagne gegen die Irak-Intervention; dabei wurden - wie in Großbritannien - auch islamistische Kräfte als Bündnispartner nicht verschmäht. 2007 traten "Linksruck"-Kader unbeanstandet der Partei "Die Linke" bei. Sie arbeiteten dort zunächst im innerparteilichen Zusammenschluss "Sozialistische Linke" mit. Ihre rund 400 Mitglieder bildeten ein "neues" Netzwerk "Marx 21" (Internet: www.marx21.de) und sind inzwischen in der Partei "Die Linke" als eigener Zusammenschluss aktiv.

"Marx 21" hat wie sein Dachverband den Trotzkismus abgewandelt. Altmeister Trotzki und seine Ideen finden kaum noch Erwähnung. Den Kern der Aktivitäten macht ein weitgehend nahtloser "antiimperialistischer" Schulterschluss mit Islamisten unterschiedlicher Couleur aus. Damit ist "Marx 21" unter deutschen Linksextremisten zum herausragenden Vertreter eines als "Antizionismus" verbrämten Antisemitismus geworden. Die Gruppe unterstützt Islamisten wie die Hamas weitgehend bedenkenlos und rechtfertigt deren Antisemitismus als Reaktion auf einen angeblichen israelischen Imperialismus. Zu der Demonstration des Zentralrats der Juden gegen Antisemitismus am 14. September 2014 in Berlin verfasste ein Leitungsfunktionär von "Marx 21" einen Beitrag "Es gibt keine Welle des Antisemitismus". Er wird auf der Homepage der Gruppe unter der Kategorie "Islamophobie" angeboten und endet mit der Forderung, die Linke solle "ihre Kritik an der rassistischen Apartheidpolitik des Staates Israel schärfen und ihre Solidarität mit den kämpfenden Palästinensern verdoppeln"

Committee for a Workers International: SAV

Das 1974 gegründete "Committee for a Workers International" (CWI, rund zwei Dutzend Sektionen, Internet: www.socialistworld.net) mit Sitz in London war als "Militant Tendency" berüchtigt für seinen Entrismus in der Jugendorganisation der britischen Labour Party gewesen. Seine deutsche Sektion unternahm als "VORAN zur sozialistischen Demokratie" zwischen 1973 und 1994 vergleichbare, aber weit weniger erfolgreiche Versuche gegenüber den Jungsozialisten in der SPD. Größeren Zulauf hatte die Gruppe mit ihrer Vorfeldorganisation "Jugend gegen Rassismus in Europa" (JRE, seit 1992). Seit 2005 bemüht sich die deutsche Sektion des CWI unter dem 1994 angenommenen Namen "Sozialistische Alternative Voran" (SAV) um Entrismus bei der "Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit" (WASG). Sie steht jedoch nach der Fusion der WASG mit der "Linkspartei.PDS" Regierungsbeteiligungen in den neuen Bundesländern ablehnend gegenüber und arbeitet in der Partei "Die Linke" bevorzugt innerhalb des Zusammenschlusses "Antikapitalistische Linke" mit. Die heute nur noch "Sozialistische Alternative" genannte SAV stehe für die "Ablehnung jeglicher Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien". SAV hat seit Jahren stabil um die 400 Mitglieder; ihre Zeitschrift heißt "Solidarität".

IV. Internationale /Secrétariat Unifié: RSB und isl

Der traditionsreichste und älteste trotzkistische Dachverband ist die "IV. Internationale / Secrétariat Unifié" mit Sitz in Paris. Beim "Vereinigten Sekretariat" handelt es sich um den verbliebenen Kern der 1938 gegründeten Internationalen. Nach eigenen Angaben verfügt es über Sektionen und Resonanzgruppen in 35 Ländern, davon 16 in Europa. In Deutschland rechnen sich ihm zwei Gruppen zu, der "Revolutionär-Sozialistische Bund/IV. Internationale" (RSB, Zeitschrift "Avanti") mit Sitz in Mannheim (Internet: www.rsb4.de) und die "internationale sozialistische linke" (isl, Internet: islinke.de). Beide sind Abkömmlinge einer früheren nationalen Sektion, der "Gruppe Internationale Marxisten" (GIM, 1969 -1986) und zugleich Ausdruck der für Trotzkisten charakteristischen Neigung zu häufigen Spaltungen und Strategiewechseln. Das "Vereinigte Sekretariat" hatte vor mehr als zehn Jahren beschlossen, seine eigenen Sektionen in linkssozialistische und als revolutionär eingeschätzte Parteien hinein aufzulösen. Dabei ist es im Laufe der Jahre vor allem in Europa immer kleiner geworden.

Würdigung

Der implizit erhobene Anspruch von Trotzkisten, einen authentischen, unverbrauchten und "besseren" Marxismus zu vertreten, ist schon deshalb unberechtigt, weil sich alle als Leninisten verstehen und damit auf ein Gewalt- und Unrechtsregime als Vorbild festgelegt haben. Zwar ragt Trotzki unter den marxistischen Theoretikern intellektuell heraus, die Mehrzahl seiner Schriften diente aber der Kritik an späteren "Fehlentwicklungen" des leninistischen Modells, die er selber aktiv mit in Lauf gesetzt hat. Zu einem erheblichen Teil handelt es sich um Rechtfertigungen für eigene Verbrechen: Als Kriegskommissar während des Bürgerkrieges 1918-20 befürwortete Trotzki den "revolutionären Massenterror" und war für zahllose Kriegsverbrechen verantwortlich. Später betrieb er die "Militarisierung der Arbeit", bei der die Gewerkschaften zu Instrumenten der Kontrolle der Arbeiterschaft umgeformt und die Betroffenen einem weit schlimmeren Regime als im "Kapitalismus" ausgesetzt wurden; schon mehrfach verspätetes Erscheinen am Arbeitsplatz konnte zu Todesurteilen führen.

Heutige Trotzkisten sind, selbst wenn sie sich "undogmatisch" geben, Anhänger einer Doktrin, die für die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gedacht war. Die zentralen Schriften Trotzkis gelten ihnen zumeist als unanfechtbar, um so erbitterter verläuft der Streit um ihre "richtige" Auslegung. Endlose Fraktionierungen, Spaltungen und "Umgruppierungen" sind die Folge. Dabei bringen die trotzkistischen Sekten, wie einer ihrer führenden Funktionäre zutreffend anführt, typische "Pathologien von Kleingruppen" hervor. Ihre Stalinismus-Kritik hat Trotzkisten gerade nicht zu einem Eintreten für den demokratischen Verfassungsstaat geführt. Nicht zufällig haben sie deshalb nach dem Bankrott des realen Sozialismus mit dessen verbliebenen, nicht reformierten Anhängern zu einer fast selbstverständlichen Zusammenarbeit gefunden.

Politikwissenschaftler, Studium der Politischen Wissenschaft, neuere Geschichte und Jura in Bonn, Magister Artium 1983, Promotion 1989, 1987 - 2006 Referent / Referatsleiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln, Forschungsschwerpunkte: Links- und Rechtsextremismus.