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Der Totalitarismusbegriff im Wandel | Linksextremismus | bpb.de

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Der Totalitarismusbegriff im Wandel

Clemens Vollnhals

/ 14 Minuten zu lesen

Der Begriff "totalitär" sollte die neuartige Herrschaftsform von Faschismus und Bolschewismus kennzeichnen. Während die klassischen Totalitarismuskonzepte auf Terror und Vernichtung beruhen, heben neuere Ansätze die totale Kontrolle hervor.

Mao Zedong (© AP)

Konservative und liberale Mussolini-Gegner erfassten sehr früh, dass Faschismus und Bolschewismus mit den herkömmlichen Kategorien der Herrschaftstypologie nicht zu fassen waren. Es war der Liberale Giovanni Amendola, der den Faschismus erstmals als "sistema totalitario" bezeichnete, das "absolute und unkontrollierte Herrschaft" anstrebe. Und nach der Machteroberung Mussolinis im Januar 1925 erklärte er, es gebe nunmehr zwei politische Konzeptionen, die "die mehr alshundertjährigen Grundlagen des modernen politischen Lebens umzustürzen drohen, Kommunismus und Faschismus, beide eine totalitäre Reaktion auf Liberalismus und Demokratie". Ähnlich urteilte Ex-Ministerpräsident Francesco Nitti: "Fascismus und Bolschewismus (...) bedeuten die Verleugnung derselben Grundsätze von Freiheit und Ordnung, der Grundsätze von 1789". Die Substantivierung des Adjektivs "totalitario" nahm der Sozialist Lelio Basso vor, als er den Faschismus als Antistaat charakterisierte, in dem zum Machterhalt einer einzigen Partei alles erlaubt sei.

Einen wesentlichen Beitrag zur konzeptionellen Weiterentwicklung leistete der katholische Pfarrer und Gründer des Partito Populare Italiano Luigi Sturzo. Er beschrieb im Londoner Exil den Faschismus als "Strömung der Intransigenz und Intoleranz, das, was man heute das Totalitätssystem nennt (totalitarismo)". Sturzo bezeichnete die kommunistische Diktatur als "Linksfascismus", während der Faschismus eine "konservative Diktatur oder ein Rechtsbolschewismus" sei. 1935 deutete er in "El Estado Totalitario" den faschistischen, nationalsozialistischen und bolschewistischen Totalitarismus als Erscheinungsform der modernen Massengesellschaft. Die Schrift enthielt fast alle Elemente späterer Konzeptionsbildungen: "das Einparteiensystem, die diktoriale personale Spitze, die Unterdrückung aller bürgerlichen Freiheitsrechte, die Verwaltungszentralisierung und Ausschaltung aller autonomen (...) Elemente, die Ausschaltung und Inhaftierung in Lagern aller (...) Oppositionellen, die terroristische Einschüchterung der Bevölkerung durch Geheimpolizeien, die Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens, die Monopolisierung der Jugenderziehung, die Propagierung von jeweils nationalspezifischen pseudoreligiösen Ideologien, die permanente Mobilisierung und Indoktrinierung der Massen durch die als Monopol verwalteten Massenmedien".

Ein anderer Traditionszweig zur Konzeptualisierung des Totalitarismusbegriffs resultiert aus der Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit der bolschewistischen Diktatur Lenins. Für die Sozialisten, so Karl Kautsky bereits 1918, bedingten sich Demokratie und Sozialismus gegenseitig; eine "kommunistische Wirtschaft" ohne Demokratie müsse in Despotie münden. Der Bolschewismus sei in Theorie und Praxis reaktionär, er werde nichts als "Ruinen und Flüche" hinterlassen. Anlässlich des 1. Mai 1923 nahm er eine Gleichsetzung vor: "Noch sind in Italien, Ungarn, Russland die arbeitenden Menschen geknebelt durch eine unerhört brutale und willkürliche Diktatur einer Partei, durch weißen oder roten Fascismus." Zwei Jahre später urteilte er, die kommunistische Diktatur sei "schlimmer sogar als das infame Regime Horthys in Ungarn oder Mussolinis in Italien". Die Verteidigung der Demokratie als notwendiger Voraussetzung des Sozialismus führte Kautsky zu dem Diktum: "Der Faschismus ist aber nichts als das Gegenstück des Bolschewismus, Mussolini nur der Affe Lenins." Für demokratische Sozialisten, die wie Kautsky, Otto Bauer, Rudolf Hilferding oder Alexander Schifrin am Marxismus geschult waren, stellte der Bolschewismus eine terroristische Diktatur dar, die ihre Wurzeln in der sozioökonomischen Rückständigkeit Russlands sowie im diktatorischen Parteimodell Lenins hatte.

Unter den deutschen Staatsrechtlern unterschied als erster der Sozialdemokrat Hermann Heller zwischen autoritärer und totalitärer Diktatur. Letztere vernichte nicht nur den Rechtsstaat, sondern unterwerfe jede Lebensregung dem Staat. Deshalb seien "Fascismus und Bolschewismus Zwillingsbrüder". Im Unterschied zu Carl Schmitt, Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber, den Apologeten des "totalen Staates", sprach sich Heller gegen Ende der Weimarer Republik für einen "autoritären Staat" aus, um die Demokratie verteidigen zu können. Den Begriff "Totalitarismus" als Kennzeichnung von Bolschewismus und Faschismus benutzte im deutschsprachigen Raum erstmals Waldemar Gurian, ein katholischer Publizist jüdischer Herkunft. Der faschistische Staat in Italien sei allerdings "lange nicht so total wie der bolschewistische", denn mit der Anerkennung des Konkordats räume er der Kirche einen Freiraum ein, der totalitären Systemen widerspreche. Gurian machte die Massengesellschaft und die Säkularisierung für das Aufkommen totalitärer Systeme verantwortlich und deutete sie als säkularisierte Heilserwartung, als politische Religion.

Zur ersten wissenschaftlich-systematischen Beschäftigung mit dem Totalitarismusbegriff kam es 1935 in Minneapolis. Der amerikanische Publizist Max Lerner unterschied drei Typen der Diktatur: die konstitutionelle, die konterrevolutionäre und das neue Grundmuster, das durch die kommunistische und faschistische Diktatur repräsentiert werde. Beide Regime wiesen Gemeinsamkeiten auf, etwa in der Phase der Machtergreifung durch eine Bewegung, deren Ideologie von einem "Führer" bestimmt werde. Anschließend erfolge die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie durch eine Terrorherrschaft, die durch die Verschmelzung von Partei und Staat sowie der totalen Kontrolle aller Kommunikationsmittel und des Erziehungswesens gekennzeichnet sei. Die neue Herrschaftsform basiere auf dem Führerprinzip und setze neben Terror moderne Massenpropaganda ein.

Im Mittelpunkt der Analysen standen der totale Herrschaftsanspruch und die Herrschaftstechniken, während ideologischen Differenzen weniger Bedeutung zugemessen wurde. Dies mag erklären, weshalb der Antisemitismus und Rassismus der NS-Ideologie noch kaum thematisiert wurden. Zudem kam der eliminatorische Antisemitismus des Regimes erst während des Krieges zur Geltung, so dass die frühen antijüdischen Maßnahmen noch nicht als fundamentale Differenz zum italienischen Faschismus erkannt wurden. Der Hitler-Stalin-Pakt schien die Wesensverwandtschaft zu bestätigen. Diese Deutung verlor rasch an Überzeugungskraft, zählte die Sowjetunion doch bald zu den Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition. Die Analysen, die Ernst Fraenkel und Franz Neumann im amerikanischen Exil zum Nationalsozialismus verfassten, stellten keinen Bezug zum Bolschewismus/Stalinismus her. Lediglich Sigmund Neumann unternahm einen empirisch fundierten Diktaturvergleich. Er benannte fünf Grundmerkmale totalitärer Diktaturen: das Versprechen wirtschaftlich-sozialer Sicherheit, der Vorrang von Aktion vor Programm, quasidemokratische Begründungen, eine Kriegspsychologie und das Führerprinzip.

Carl J. Friedrich und Hannah Arendt

Die klassische Formulierung der Totalitarismusmerkmale stammt von dem in Harvard lehrenden Carl J. Friedrich: "1. eine offizielle Ideologie, bestehend aus einem offiziellen, alle Hauptaspekte des menschlichen Lebens umfassenden Lehrsystem, woran sich jedes Mitglied dieser Gesellschaft mindestens passiv zu halten hat; im Mittelpunkt dieser Ideologie stehen (...) chiliastische Forderungen für eine vollkommene Endgesellschaft der Menschheit. 2. eine einzige Massenpartei (...); dabei ist die Partei gewöhnlich unter einem einzigen Führer streng hierarchisch und oligarchisch organisiert und (...) der staatlichen Bürokratie entweder übergeordnet oder völlig mit ihr verflochten. 3. ein technisch bedingtes, fast vollkommenes Monopol der Kontrolle (...) über alle entscheidenden Kampfmittel. 4. ein ähnlich technisch bedingtes, fast vollkommenes Monopol der Kontrolle (in denselben Händen) über alle entscheidenden Massenkommunikationsmittel (...). 5. ein System terroristischer, in seiner Wirkung auf den Punkt 3 und 4 beruhender Polizeikontrolle, die sich bezeichnenderweise nicht nur gegen erwiesene Feinde des Regimes, sondern gegen willkürlich herausgegriffene Gruppen der Bevölkerung richtet". Die Rolle der Geheimpolizei wurde in dem mit Zbigniew K. Brzezinski publizierten Standardwerk "Totalitarian Dictatorship and Autocracy" stärker akzentuiert und als sechstes Kriterium die zentrale Lenkung der Wirtschaft aufgenommen.

Dieses Klassifikationsschema kam der empirisch-positivistisch ausgerichteten amerikanischen Politikwissenschaft entgegen. Friedrich betonte, dass zwischen den totalitären Systemen "in bezug auf Zeit und Ort bedeutende Variationen" bestehen; sie seien lediglich "basically alike". Waren alle sechs genannten Kriterien erfüllt, so handelte es nach Friedrich um eine totalitäre Diktatur. Dieses Schema, dem der Maßstab einer liberal-demokratischen Gesellschaft zugrunde liegt, erlaubte die Subsumierung von Sowjetkommunismus, italienischem Faschismus und Nationalsozialismus unter den Totalitarismusbegriff. Gleichwohl entwickelte der italienische Faschismus keinen vergleichbaren Terror, auch waren die imperialen Ambitionen Mussolinis mit den visionären Endzielen Hitlers und Stalins nicht vergleichbar. Selbst eine kritischere Sicht auf rassistische Komponenten und die barbarische Kriegsführung in Abessinien lassen diesen Schluss kaum zu. Nicht zuletzt gab es im Faschismus - wie im Nationalsozialismus - keine staatlich gelenkte Wirtschaft. Insofern bliebe bei strikter Anwendung des Kriterienkatalogs nur der Bolschewismus übrig.

Aus der Gemeinsamkeit des Herrschaftsinstrumentariums lässt sich keine Identität der ideologischen Zwecke folgern. Der Nationalsozialismus beruhte auf Rassismus und dem unbedingten Willen zum Krieg, sein Ziel war die rassisch fundierte Herrschaft über Europa, was die Vernichtung des europäischen Judentums mit tödlicher Konsequenz einschloss. Insofern war der Holocaust zwar nur im Krieg zu verwirklichen, aber militärischen Kriegszielen gleichrangig. Die sozialistische Utopie hingegen war humanistisch und universal angelegt. Der Terror Lenins und Stalins ist eng mit dem Marxismus, insbesondere dem Glauben an objektive Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, verbunden, doch er war keine notwendige Konsequenz, wie die politische Praxis der Sozialdemokratie zeigt. Hitlers sozialdarwinistische Weltanschauung hingegen ist ohne antisemitischen Rassismus, Gewalt und Krieg als ewigem Lebensgesetz des Rassenkampfes nicht vorstellbar. Ende der sechziger Jahre urteilte Friedrich, die terroristischen Diktaturen Hitlers und Stalins stellten nicht den Normalfall totalitärer Diktatur dar, sondern "rather extreme aberrations".

Die klare Festlegung Hannah Arendts war konsequenter. Sie schrieb 1966 im neuen Vorwort zum Abschnitt "totale Herrschaft", dass man die Sowjetunion seit Stalins Tod "im strengen Sinne des Wortes" nicht mehr totalitär nennen könne. "Auf dem sowjetischen Volk lastet heute nicht mehr der Alptraum eines totalitären Regimes, es leidet nur noch unter den vielfältigen Unterdrückungen, (...) die eine Einparteiendiktatur mit sich bringt." Es sei eine moderne Form der Tyrannis, eine illegitime Macht, die wieder auf die Stufe der totalen Herrschaft zurückfallen könne, "und doch kann man mit gleichem Recht feststellen, dass die totale Herrschaft, die furchtbarste aller modernen Regierungsformen, (...) mit dem Tod Stalins in Russland nicht weniger ihr Ende gefunden hat als in Deutschland mit dem Tod Hitlers". Da für Arendt der Terror das zentrale Wesen totaler Herrschaft darstellte, war es konsequent, dass sie diese Periode auf die NS-Diktatur und für die Sowjetunion auf die Zeit des Stalinismus (mit Unterbrechung der Kriegsjahre) begrenzt wissen wollte und dafür plädierte, "mit dem Wort totalitär sparsam und vorsichtig umzugehen".

"Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", das die 1933 emigrierte jüdische Philosophin und Publizistin bekannt machte, besitzt eine komplizierte Entstehungsgeschichte. Ursprünglich wollte Arendt eine ideengeschichtliche Analyse des Nationalsozialismus verfassen, wovon die ersten beiden, zwischen 1944 und 1948 entstandenen Teile zeugen ("Antisemitismus" und "Imperialismus"). Sie sollten folgerichtig in einen dritten Teil ("Rassen-Imperialismus") münden, womit der Expansionsdrang ebenso wie der rassenideologische Charakter des Nationalsozialismus prägnant benannt gewesen wäre. Stattdessen entschied sie sich 1948/49 unter dem erschütternden Eindruck der Augenzeugenberichte über die NS-Konzentrations- und Vernichtungslager sowie von Emigranten über den sowjetischen Gulag, den dritten Teil der "totalen Herrschaft" als einer völlig neuen Staats- und Herrschaftsform zu widmen. Hieraus resultiert der konzeptionelle Bruch des Werkes, dessen letzter Teil in keiner überzeugenden Beziehung zu den ersten beiden steht. Als das Werk 1951 in einer amerikanischen und einer englischen Ausgabe erschien, eskalierten die Spannungen des Kalten Krieges im Koreakrieg. Arendt, eine Schülerin Martin Heideggers und Karl Jaspers', war eine glänzende Essayistin, deren existenzialphilosophischer Ansatz leidenschaftlich die Freiheit und Würde des Individuums verteidigte. Besondere Wirkung erzielte vor allem der 1955 der deutschen Ausgabe beigefügte Essay "Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform", der die bisherigen "Concluding Remarks" ersetzte. Es ist dieser theoretische Essay, der zumeist zitiert wird, während die historisch beschreibenden Ausführungen zu Antisemitismus und Imperialismus kaum rezipiert wurden.

Wie andere konservative Zivilisationskritiker sieht auch Arendt die Voraussetzung für die Entstehung der totalitären Diktaturen im Untergang der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts und der daraus folgenden Atomisierung der "Massen". Kennzeichen der totalitären Staatsform sind Ideologie und Terror sowie die Behauptung, den Ablauf der Geschichte zu kennen. Der sozialdarwinistischen Berufung der Nationalsozialisten auf "Gesetze der Natur" zur Rechtfertigung der Vernichtung "minderwertiger Rassen" entspreche, so Arendt, der Glaube der Bolschewisten an die "objektiven Gesetze der Geschichte", der die Vernichtung absterbender Klassen legitimiert. Dient die totalitäre Ideologie der geistigen Beherrschung der Massen, so der Terror ihrer ständigen Mobilisierung: "Totalitäre Herrschaft wird wahrhaft total in dem Augenblick (...), wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt. Dadurch zerstört sie einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, dass die also völligIsolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echten politischen Handeln) wieder eingesetzt werden können." Ziel des Terrors sei es, "Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, sondern nur im Singular". Der Terror sei kein zeitlich befristetes Mittel zur Herrschaftssicherung, vielmehr stelle er das Wesen totaler Herrschaft dar. "Die Lager dienen nicht nur der Ausrottung und Erniedrigung der Individuen, sondern auch dem ungeheuerlichen Experiment, unter wissenschaftlichen Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird." Die Lager seien somit das "richtungsgebende Gesellschaftsideal" der totalitären Diktatur, deren Ziel die Veränderung der menschlichen Natur sei.

In diesen kraftvollen Passagen kommt das Erschrecken über den Zivilisationsbruch zum Ausdruck, doch liegt hier auch eine metaphysische Sinndeutung vor. Denn der industrielle Massenmord in den NS-Vernichtungslagern diente keinem anderen Zweck als der Verwirklichung eines definierten Zieles, der Vernichtung des europäischen Judentums. Der Holocaust lässt sich deshalb nicht mit dem Lagersystem des Gulag gleichsetzen, das mit Zwangsarbeit die Industrialisierung der Sowjetunion forcieren sollte. Entsprechend ihrem anthropologischen Ansatz interpretierte Arendt den Totalitarismus als Versuch zur Vernichtung des genuin Politischen, nämlich der Pluralität und Spontaneität des Menschen. Darauf gründete sich ihre Hoffnung, dass die totalitären Diktaturen den "Keim des Verderbens" in sich trügen.

Die empirische Forschung wusste mit Arendts anthropologisch-existenzialphilosophischer Deutung wenig anzufangen. In der angelsächsischen und amerikanischen sowie in der westdeutschen Kommunismus- bzw. NS-Forschung wurde ihre Totalitarismustheorie kaum rezipiert. Die Erforschung des Holocausts wurde nicht durch Arendt inspiriert, sondern durch die Arbeiten Raul Hilbergs, die sich an der Strukturtheorie Franz Neumanns orientierten. Auch die normativen Wurzeln und Implikationen der klassischen Totalitarismuskonzepte stießen (neben Zustimmung) auf scharfe Kritik. Sie war teils politisch motiviert, so bei Autoren, die mit dem Kommunismus sympathisierten und jede Wesensverwandtschaft mit dem Faschismus bzw. Nationalsozialismus entschieden ablehnten. Kritik kam auch aus den Reihen der wissenschaftlichen Kommunismusforschung, die den Kriterienkatalog Friedrichs als allzu schematisch und statisch befand, um die Veränderungen in der Sowjetunion erfassen zu können. Der Verdacht ideologischer Blindheit war ein Argument, das von empirisch orientierten Kommunismusforschern gegen die klassischen Totalitarismuskonzepte geltend gemacht wurde. Im Bereich der NS-Forschung spielten sie ohnehin keine Rolle, hier übten die Arbeiten Fraenkels und Neumanns stärkeren Einfluss aus.

Totalitarismus ohne Terror?

Andere Totalitarismuskonzepte heben das Primat einer ideologisch definierten Politik hervor. So unterschied Martin Drath zwischen dem Primärphänomen des Totalitarismus - dem "Ziel, ein neues gesellschaftliches Wertungssystem durchzusetzen, das bis in die Metaphysik hinein fundiert wird" - und der herrschaftstechnischen Umsetzung dieses Anspruchs. In diesem dynamischen Entwicklungskonzept besitzt der Massenterror keine konstitutive Bedeutung, da er lediglich als Sekundärphänomen für die Herrschaftsdurchsetzung und -konsolidierung verstanden wird. Ähnlich argumentierten Richard Löwenthal und andere im Hinblick auf die poststalinistische Sowjetunion. Diese Konzepte stellen einen Typus der Totalitarismustheorie dar, der nicht mehr die extreme Gewalt und Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt stellt. Die einprägsamste Formulierung dieser Kriterien totaler Kontrolle stammt von Peter Graf Kielmansegg: 1. die Monopolisierung von Entscheidungsmacht in einem Führungszentrum; 2. die unbegrenzte Reichweite der Entscheidungen des politischen Systems; 3. die prinzipiell unbegrenzte Intensität der Sanktionen (einschließlich des Terrors).

Legt man diese Kriterien zugrunde, lassen sich die poststalinistische Sowjetunion wie die realsozialistischen Ostblockstaaten einschließlich des SED-Regimes als totalitär bezeichnen. Denn an der parteistaatlichen Kontrolle und geheimpolizeilichen Durchdringung aller Lebensbereiche besteht kein Zweifel, ebenso wenig an der Monopolisierung der Entscheidungsmacht und der prinzipiell unbegrenzten Intensität der Sanktionen. Allerdings steht das Totalitarismuskonzept der totalen Kontrolle in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis zu den klassischen Konzeptionen. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Ansätze, so dass, wer den Begriff "totalitär" für die DDR benutzt, gut daran tut, ihn zu definieren. Aus Sicht der klassischen Konzeptionen Friedrichs und Arendts lassen sich die kommunistischen Regime poststalinistischer Prägung nur als posttotalitär bezeichnen, da sie keinen vergleichbaren ideologischen Furor und Terror mehr aufwiesen.

Als Resümee gilt, dass eine theoretisch befriedigende, die historischen Unterschiede nicht verwischende Totalitarismustheorie noch nicht gefunden ist. Die begriffliche Unschärfe teilt sie mit anderen Begriffen wie Demokratie, Modernisierung oder Imperialismus. Unverzichtbar erscheint mir der Totalitarismusbegriff für die seit Aristoteles klassische Lehre der Herrschaftsformen: Er bezeichnet einen Typus moderner Diktatur, die man auch als Weltanschauungsdiktaturen mit totalem Herrschaftsanspruch bezeichnen kann. Insofern unterschiedet sich dieser Typus grundlegend von autoritären Diktaturen, die keine umfassende Kontrolle über alle Lebensbereiche anstreben und begrenzten gesellschaftlichen Pluralismus zulassen. Vom Standpunkt der liberalen Demokratie können die totalitären Regime auf gleiche Distanz gebracht werden, jedoch sagt die herrschaftstypologische Einordnung nichts über den politisch-ideologischen Herrschaftszweck aus, weshalb aus dem totalen Herrschaftsanspruch keine Identität der totalitären Regime abgeleitet werden kann. Die Wertgebundenheit des Totalitarismusbegriffs stellt jedoch keine analytische Schwäche dar, sondern markiert den fundamentalen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur.

Text aus: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 39/2006)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Giovanni Amendola, Maggioranza e minoranza, in: Il mondo vom 12.5. 1923, zit. nach Jens Petersen, Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Hans Maier (Hrsg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Paderborn 1996, S. 15 - 35, hier S. 20.

  2. Ders., La nuova democrazzia, Neapel 1951, S. 240, zit. nach ebd., S. 22.

  3. Francesco Nitti, Bolschewismus, Fascismus und Demokratie, München 1926, S. 53.

  4. Vgl. Prometeo Filodemo (i.e. Lelio Basso), L'antistato, in: La Rivoluzione Liberale vom 2.1. 1925, zit. nach J. Petersen (Anm. 1), S. 21.

  5. Luigi Sturzo, Italien und der Fascismus, Köln 1926, S. 201f. und S. 225.

  6. So J. Petersen (Anm. 1), S. 24. Vgl. auch Michael Schäfer, Luigi Sturzo als Totalitarismustheoretiker, in: H. Maier (Anm. 1), S. 37 - 47.

  7. Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, S. 4 f.

  8. Ders., Von der Demokratie zur Staats-Sklaverei, Berlin 1921, S. 125.

  9. Ders., Maifeier und Internationale, in: Vorwärts vom 1.5. 1923.

  10. Ders., Die Internationale und Sowjetrussland, Berlin 1925, S. 175.

  11. Ders., Der Bolschewismus in der Sackgasse, Berlin 1930, S. 102.

  12. Vgl. Uli Schröder, "Despotischer Sozialismus" oder "Staatssklaverei"?, Münster 1991; Jürgen Zarusky, Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell, München 1992. Vgl. demnächst Mike Schmeitzner (Hrsg.), Totalitarismuskritik von links, Göttingen 2007.

  13. Hermann Heller, Europa und der Fascismus, Berlin 1929, Neudruck: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leiden 1971, S. 463 - 609, hier S. 515.

  14. Waldemar Gurian, Der Bolschewismus, Freiburg i. Br. 1931, S. VI f. Vgl. Heinz Hürten, Waldemar Gurian und die Entfaltung des Totalitarismusbegriffs, in: H. Maier (Anm. 1), S. 59 - 70.

  15. Vgl. Max Lerner, The Pattern of Dictatorship, in: Guy Stanton Ford (Hrsg.), Dictatorship in the Modern World, Minneapolis 1935, S. 3 - 25. Übs. in: Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968, S. 30 - 48.

  16. Vgl. Franz Borkenau, The Totalitarian Enemy, London 1940.

  17. Vgl. Ernst Fraenkel, The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941 (Der Doppelstaat, Frankfurt/M. 1974); Franz L. Neumann, Behemoth. The Structure and Practise of Nationalsocialism 1933 - 1944, New York 1944 (Behemoth, Frankfurt/M. 1977).

  18. Vgl. Sigmund Neumann, Permanent Revolution. The Total State in a World at War, New York 1942. Vgl. Alfons Söllner, Sigmund Neumanns "Permanent Revolution", in: ders./Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 53 - 73.

  19. Carl J. Friedrich, The Unique Character of Totalitarian Society, in: ders. (Hrsg.), Totalitarianism, Cambridge/Mass. 1945, S. 47 - 60. Übs. in: B. Seidel/ J.Jenker (Anm. 15), S. 179 - 196, hier S. 185f.

  20. Carl J. Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictorship and Autocracy, Cambridge/Mass. 1956 (Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957).

  21. C. J. Friedrich (Anm. 19), S. 187.

  22. Ders., Totalitarianism: Recent Trends, in: Problems of Communism, 17 (1968), S. 32 - 43, hier S. 34.

  23. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 19865, S. 491.

  24. Ebd., S. 479.

  25. Vgl. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt, Frankfurt/M. 1996, S. 285 - 301; Ursula Ludz, Hannah Arendt und ihr Totalitarismusbuch, in: Antonia Grunenberg (Hrsg.), Totalitäre Herrschaft und republikanische Demokratie, Frankfurt/M. 2003, S. 81 - 92.

  26. Zuerst 1953 in der Festschrift für Karl Jaspers zum 70. Geburtstag. Dt. Übersetzung des ursprünglichen Vorworts und der "Concluding Remarks" der ersten engl. Ausgabe in: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953. Aus dem Engl. von Ursula Ludz, Kommentar von Ingeborg Nordmann, Dresden 1998, S. 11 - 31.

  27. H. Arendt (Anm. 23), S. 727.

  28. Ebd., S. 714.

  29. Ebd., S. 676f.

  30. Vgl. hierzu neben B. Seidel/S. Jenkner (Anm. 15) und A. Söllner (Anm. 18) auch Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 1996; Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998; Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien, Darmstadt 1997; Walter Schlangen, Die Totalitarismus-Theorie, Stuttgart 1976.

  31. Vgl. Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, London 1961 (dt. Ausgabe erst 1990).

  32. Vgl. Abbot Gleason, Totalitarianism: The Inner History of Cold War, New York 1995; Achim Siegel, Die Konjunkturen des Totalitarismuskonzepts in der Kommunismusforschung, in: APuZ, (1998) 20, S. 19 - 46.

  33. Vgl. z.B. Ian Kershaw, Der NS-Staat, Reinbek 20023.

  34. Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. Einleitung zu Ernst Richert, Macht ohne Mandat, Köln 1958, S. IX-XXXIV. Neudruck: B. Seidel/S. Jenkner (Anm. 15), S. 310 - 358, hier S. 340.

  35. Vgl. Richard Löwenthal, Totalitäre und demokratische Revolution, in: Der Monat, 13 (1960), H. 146, S. 29 - 40.

  36. Vgl. Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: Fred I. Greenstein/Nelson W. Polsby (Hrsg,), Handbook of Political Science, Bd. 3, Reading/Mass. 1975, S. 175 - 411. Übs. mit neuem Vorwort: Totalitäre und autoritäre Regime, Potsdam 2000. Vgl. auch Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999, S. 61 - 77.

  37. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Krise der Totalitarismustheorie?, in: Zeitschrift für Politik, 21 (1974), S. 311 - 326.

Dr. phil., geb. 1956; Stellvertretender Direktor am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (HAIT) an der TU Dresden und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte. HAIT, Mommsenstraße 13, 01062 Dresden.
E-Mail: E-Mail Link: Clemens.Vollnhals@mailbox.tu-dresden.de