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Contra Extremismusmodell: "ein inhaltsleerer Kampfbegriff" | Linksextremismus | bpb.de

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Contra Extremismusmodell: "ein inhaltsleerer Kampfbegriff"

Christoph Butterwegge

/ 6 Minuten zu lesen

Die Extremismustheorie erlebt in der Bundesrepublik eine überraschende Renaissance. Doch Sozialisation und die Motive eines Gewalttäters zu würdigen, müsse auch eine Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche Bewertung politischer Strömungen, Parteien und Bewegungen sein, meint Christoph Butterwegge.

(© picture-alliance/dpa)

Momentan erlebt die Extremismustheorie in der Bundesrepublik, wo sie während des Kalten Krieges und der Hochzeit des Antikommunismus zusammen mit der Totalitarismustheorie geradezu als westdeutsche Staatsdoktrin fungiert hatte, eine überraschende Renaissance. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in Ost- und Mitteleuropa hatte nicht mehr der Kommunismus (als wirkmächtigste Erscheinungsform des Linksextremismus), sondern der Neofaschismus (als militanteste Erscheinungsform des Rechtsextremismus) vorübergehend im Blickpunkt ihrer Befürworter gestanden, zuletzt aufgrund der Morde des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) sowie des Strafprozesses gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten. Dies änderte sich jedoch mit den Gewaltexzessen am Rande des G20-Gipfels, der vom 2. bis 8. Juli 2017 in Hamburg stattfand, und mit der Erinnerung an die Attentate der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) im „Deutschen Herbst“ wegen des sich unmittelbar anschließenden 40. Jahrestages der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer. Nunmehr geriet der Linksextremismus wieder in den öffentlichen und medialen Fokus, während der Rechtsextremismus – selbst in seiner aggressiven Ausprägung teilweise als „Rechtspopulismus“ verharmlost – erneut in den Hintergrund trat. Hier soll gefragt werden, ob die Extremismustheorie einen geeigneten Rahmen zur Erklärung politischer Phänomene, Entwicklungsprozesse und Strukturzusammenhänge abgibt und ob „Linksextremismus“ ein sinnvoller Begriff ist, um ein ganzes (partei)politisches Spektrum abzuqualifizieren.

Die falsche Gleichung der Extremismustheorie

„Extremismus“ dient laut Uwe Backes und Eckhard Jesse als Sammelbezeichnung für politische Gesinnungen und Bestrebungen, die den demokratischen Verfassungsstaat sowie dessen Grundwerte und formale Regeln ablehnen, sei es, weil sie das Prinzip der Gleichheit aller Menschen negieren (Rechtsextremismus), sei es, weil der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt und somit die individuelle Freiheit relativiert (Kommunismus), oder sei es, weil jede Form von Staatlichkeit als freiheitsgefährdend verworfen wird (Anarchismus).

Statt einer Definition bieten Extremismustheoretiker nur eine Addition von Merkmalen; sie klassifizieren bloß, erklären aber nichts, weder die Ursachen einer politischen Strömung noch die Handlungsmotivation von deren Akteuren oder dahinter stehende Macht- und Herrschaftsinteressen. Todfeinde wie Faschisten und Kommunisten befinden sich nunmehr „im selben Boot“, wohingegen ihrer Herkunft, ihren geistigen Wurzeln und ihrer Ideologie nach eng mit dem Rechtsextremismus verwandte Strömungen wie Deutschnationalismus und Nationalkonservatismus einer anderen Strukturkategorie zugeordnet werden. Grau- bzw. „Braunzonen“, ideologische Grenzgänger und inhaltliche Überschneidungen zwischen (National-)Konservatismus und Rechtsextremismus, wie sie bei den Themen „Zuwanderung“, „demografischer Wandel“ und „Nationalbewusstsein“ offen zutage treten, werden nicht thematisiert oder sogar tabuisiert.

Inhaltsleerer Kampfbegriff und Diffarmierungsinstrument

Aus diesem Grund ist „Extremismus“ ein völlig inhaltsleerer Kampfbegriff, welcher als Diffamierungsinstrument gegenüber der politischen Linken fungiert. Nur wer noch in den politisch-ideologischen Schützengräben des Kalten Krieges liegt, kann beispielsweise auf die Idee kommen, eine linksradikale und eine rechtsextreme Partei hätten mehr miteinander zu tun als eine rechtsextreme und eine rechtspopulistische. So stimmen der Kernforderung nach einer „Obergrenze“ bei der Flüchtlingsaufnahme Rechtspopulisten, Rechtsextremisten und Neofaschisten gemeinsam zu, während Parteien mit einem dezidiert linken Selbstverständnis das Gegenteil vertreten.

Um punktuelle Gemeinsamkeiten zwischen zwei Vergleichsgegenständen – Linksextremismus und Rechtsextremismus – besonders akzentuieren zu können, blenden Extremismustheoretiker deren zentrale Differenz aus: Während der Rechtsextremismus die Beseitigung der Demokratie anstrebt, geht es dem Sozialismus um die Überwindung des Kapitalismus und eine Verwirklichung oder Vervollkommnung der Demokratie, die hierzu-lande stark darunter leidet, dass sich Arme im Gegensatz zu Reichen kaum noch an Wahlen beteiligen. Daraus folgert Richard Stöss, dass der Rechtsextremismus prinzipiell, also von seiner Idee her und den Zielen nach, antidemokratisch, der Sozialismus/Kommunismus aber nur dann als „Linksextremismus“ zu verstehen sei, d.h. gegen die Demokratie gerichtet ist, wenn er im Sinne einer „Diktatur des Proletariats“ oder des Politbüros einer KP missbraucht oder pervertiert wird, sich also gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richtet.

Systemfrage vs. Zerstörung der Demokratie

Was die Extremismustheoretiker nicht zur Kenntnis nehmen: Unter den von ihnen benutzten Schlüsselbegriffen verstehen die als „Linksextremisten“ apostrophierten Marxisten, Sozialisten und Kommunisten einerseits sowie die Rechtsextremisten andererseits etwas völlig Unterschiedliches: Während ein Linker mit dem Stellen der „Systemfrage“ die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien und die Verstaatlichung der Banken meint, versteht ein Rechtsextremist darunter die Zerstörung der Demokratie. Bei den Nationalsozialisten war das die Weimarer Republik der „Novemberverbrecher“. Während jemand zumindest idelogisch betrachtet durch "linksextreme" Maßnahmen zunächst seinen Besitz verliert, muss jemand, der für rechtsextreme Nationalisten einer „falschen“ Rasse angehört, vertrieben oder vergast, ausgebürgert oder ausgerottet, zumindest aber jenseits der Grenzen „entsorgt“ werden. Menschenrechtlich macht beides einen fundamentalen Unterschied, den Extremismustheoretiker aufgrund ihrer politischideologischen Scheuklappen ignorieren.

Statt „Links-“ und Rechtsextremisten in einen Topf zu werfen, wie es die Extremismustheoretiker tun, sollte man zwischen drei Personengruppen unterscheiden: Menschen, die den Finanzmarktkapitalismus ablehnen und grundlegende Veränderungen der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anstreben, was nicht verfassungswidrig sein muss, sondern aus meiner Sicht dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit entspricht; Menschen, die den Staat zerschlagen oder das parlamentarische Repräsentativsystem durch plebiszitäre Entscheidungsverfahren oder ein Rätesystem ersetzen wollen, was mit dem Grundgesetz schwerlich vereinbar ist; Menschen, die jede Form der Demokratie bekämpfen, weil sie das Heil von einem Führer, einer autoritären Herrschaftsform oder einer Diktatur erwarten. Erstere kann man als verfassungstreue Antikapitalisten, demokratische Sozialisten oder linke Demokraten, die zweite Gruppe als Ultralinke, Linksradikale oder Anarchisten und Letztere als Rechtsextremisten oder Neofaschisten bezeichnen.

Gewaltanwendung – ein ungeeignetes Abgrenzungskriterium

Rechte wie linke Strömungen definieren sich primär über ihre politischen Ziele, nicht über die Mittel zu deren Erreichung. Während die Rechten heute traditionelle Werte erhalten und konservative Ordnungsvorstellungen verwirklichen möchten, wobei sie teilweise mit autoritären Strukturen liebäugeln, streben die Linken hauptsächlich nach mehr sozialer Gleichheit, weil politische Gleichheit ihres Erachtens allein nicht ausreicht, um allen Gesellschaftsmitgliedern dieselbe Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen. Demokratie bedeutet für Linke mehr, als dass man alle vier oder fünf Jahre zu einer Wahlurne geht – die geplante Verlängerung der Legislaturperiode im Bund führt insofern übrigens zu weniger Demokratie. Demokratie heißt für sie, dass alle Wohnbürger auf der Grundlage materieller Sicherheit über die künftige Entwicklung des Landes entscheiden können.

Da es zwischen Gewalt und Gewalt gewaltige Unterschiede gibt, taugt sie nicht als Abgrenzungskriterium zwischen „extremistischen“ und „nichtextremistischen“ Positionen. Zu vielfältig sind ihre Erscheinungsformen – es gibt personale und strukturelle, militärische und zivile oder physische, psychische und verbale Gewalt –, aber auch die ihr zugrunde liegenden Interessen, Intentionen und Handlungsmotive. Selbst alle politisch motivierten Gewalttaten darf man nicht über einen Kamm scheren: Dass die Befreiungskämpfer des Afrikanischen Nationalkongesses (ANC) unter Leitung des späteren Friedensnobelpreisträgers Nelson Mandela in Südafrika gezielte Sprengstoffanschläge auf Einrichtungen des Apartheidsregimes und deutsche Rassisten nächtliche Brandanschläge auf Flüchtlingswohnheime verübt haben, ist unvergleichlich. Ein anderes Beispiel: Gewaltexzesse des Schwarzen Blocks oder von rechten Hooligans müssen verurteilt, strafrechtlich verfolgt und hart bestraft werden; die Hitler-Attentate der Widerstandskämpfer Georg Elser und Schenk Graf von Stauffenberg waren dagegen höchst ehrenvoll, auch wenn ihnen der Erfolg leider versagt blieb.

Sozialisation und die Motive eines Gewalttäters zu würdigen

Das staatliche Gewaltmonopol ist heute meines Erachtens zwar eher durch die Gründung zahlloser privater Sicherheitsdienste als durch das Wüten enthemmt wirkender Autonomer im Hamburger Schanzenviertel gefährdet, muss aber von diesen ebenso wie von anderen Gruppierungen als Kerninstitution demokratischer Rechtsstaaten und als Grenze eigener Handlungsoptionen akzeptiert werden. In einem demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik ist „linke“ Gewalt nie progressiv, wie ihre wenig reflektierten Fürsprecher behaupten, sondern genauso reaktionär wie rechte Gewalt, weil sie die Regierung zur Verschärfung der Antiterrorgesetzgebung, zur Aufrüstung der staatlichen Sicherheitsorgane sowie zum Abbau von Bürgerrechten und Datenschutz verleitet. Da „linke“ Gewalt ungewollt oder bewusst fördert, was Rechte und Rechtsextremisten seit jeher fordern, nämlich die Untergrabung der Demokratie, kann sie nicht einmal im engeren Sinne links genannt werden. Vielmehr hat kaum etwas den Ausbau des Überwachungsstaates in Westdeutschland so stark begünstigt wie die Mordserie der RAF. Das bis heute nicht wieder aufgehobene Kontaktsperregesetz ist ein schlimmer Beleg für diese These.

Für die Extremismustheoretiker ist es gleichgültig, von wem und aus welchen Gründen ein Mensch zum Gewaltopfer gemacht wird. Die von ihnen eingenommene Opferperspektive ist jedoch wenig geeignet, ein politisch-inhaltlich und fachlich qualifiziertes Urteil zu fällen. Aus guten Gründen sitzen keine Gewaltopfer (bzw. deren Hinterbliebene), sondern unabhängige Richter und nicht unmittelbar betroffene Geschworene bzw. Schöffen über mutmaßliche Straftäter zu Gericht. Was aber im Strafprozess selbstverständlich ist, nämlich die Lebenssituation, die (politische) Sozialisation und die Motive eines Gewalttäters zu würdigen, also nicht bloß das Resultat der inkriminierten Handlung, muss auch eine Grundvoraussetzung für die wissenschaftliche Bewertung politischer Strömungen, Parteien und Bewegungen sein.

Fussnoten

Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Armutsforscher. Bis zu seinem Ruhestand 2016 lehrte er Politikwissenschaft an der Uni Köln. Zuletzt erschien im April 2018 zusammen mit Gudrun Hentges und Bettina Lösch sein Buch „Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus“. Weitere Texte des Autors unter Externer Link: www.christophbutterwegge.de