Die Bundesregierung und die meisten demokratischen Parteien fassen unter dem Begriff Extremismus (politische) Strömungen, deren Zielvorstellungen konträr zu den normativen Werten der gegebenen politischen und gesellschaftlichen Ordnung stehen. Dabei wird, vereinfacht gesagt, auf einer eindimensionalen politischen Rechts-Mitte-Links-Achse eine Position der mehrheitlichen Mitte zur (positiven) Norm erklärt, der extreme Positionen als Minderheit gegenüberstehen. Referenzpunkt ist das so genannte ">Hufeisenmodell",
Kritiker behaupten, das Extremismusmodell führe zu einer unzulässigen Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus und zu einer Leugnung der Singularität nationalsozialistischer Verbrechen.
Vergleichen bedeutet nicht Gleichsetzen
Die Kontroversen um das Extremismusmodell sind häufig stereotyp und redundant, weil seine Kritiker offensichtlich nicht begriffen haben, dass "vergleichen" und "gleichsetzen" nicht "das Gleiche" ist. Zudem fühlen sich viele Kritiker offenbar selbst in die extreme Ecke gestellt, da sie die derzeitige gesellschaftliche Ordnung ebenfalls ablehnen. Das wird zumeist nicht offen ausgesprochen, aber implizit deutlich an der Art und Weise, wie vermeintliche Defizite und Leerstellen der Demokratie thematisiert werden. Es handelt sich zumeist um Politiker und Wissenschaftler, die auf der linken politischen Seite verortet werden können.
Wie lässt sich aber "Extremismus" wissenschaftlich angemessen bestimmen, ohne den Begriff auf einen politischen Kampfbegriff zu reduzieren?
Im Nationalsozialismus, aber auch in der DDR galten Personen, die wir heute als freiheitliche Demokraten bezeichnen würden, als feindlich-negative Kräfte, mithin als Extremisten. Vertreter freiheitlich-demokratischer Staaten wie der Bundesrepublik bezeichnen diejenigen als Extremisten, die – aus welchen Gründen auch immer – die offene, pluralistische Gesellschaft bekämpfen und beseitigen wollen. Dies zeigt, dass sich der Begriff Extremismus nur relativ von der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Ordnung aus definieren lässt.
Antidemokratisches Moment als Gemeinsamkeit
Der italienische Philosoph Norberto Bobbio, der sich mit der Dichotomie zwischen "links>" und "rechts" befasst, versteht "links" und "rechts" nicht als absolute, sondern – im politischen und nicht im ontologischen Verständnis – als "relative Begriffe", die in einem antithetischen Verhältnis zueinander stehen. Zwischen beiden befindet sich die (politische) Mitte, deren Analyse genaueren Aufschluss über das jeweilige politische System ermöglicht. Da in der politischen Mitte – dem dritten Weg – gleichermaßen linke wie rechte Positionen Platz finden, bedingt ihre jeweilige Stärke und Dominanz die Links- oder Rechtslastigkeit einer Gesellschaft.
Die alte Links-Rechts-Dyade ergänzt Bobbio durch die Dyade Extremismus-Moderatismus, die sich von dem Gegensatzpaar links-rechts insofern unterscheidet, als sie nicht auf den Gegensatz, sondern ihre Gemeinsamkeit abhebt. Links- und Rechtsextremisten gemeinsam ist sowohl die Ablehnung politisch-gemäßigter Positionen als auch das antidemokratische Moment, denn beide setzen ihre eigene Position absolut. Beide verbindet, dass sie
"die Antidemokratie zwar nicht im Hinblick auf den Teil, den sie innerhalb des politischen Lagers darstellen, sondern nur insoweit, als sie in diesem Lager die äußersten Flügel darstellen. Die Extreme berühren sich."
Eine weitere Gemeinsamkeit des politischen Links- und Rechtsextremismus sieht Bobbio in deren jeweiligen antiaufklärerischen Komponenten, die mit Irrationalismus verbunden sind: Anders als der Moderatismus, der ein gradualistisches evolutionistisches gesellschaftliches Entwicklungsmodell vertritt, entwickelt sich in extremistischen Auffassungen die historische Entwicklung in Brüchen oder in so genannten qualitativen Sprüngen.
Fundamentalbewegungen gegen demokratisches Gesellschaftssystem
(Links- und Rechts-)Extremistische Einstellungen und Bewegungen sind Fundamentalbewegungen gegen das freiheitlich-demokratische Gesellschaftssystem. Beide lehnen westliche Werte und Lebensstile wie z.B. individuelle Verantwortung, prinzipielle Akzeptanz des Andersdenkenden oder den aus der Marktwirtschaft resultierenden Wohlstand mit entsprechenden sozialen Folgen ab, beide haben ein eher taktisches Verhältnis zur Demokratie bzw. zum demokratischen Verfassungsstaat. Beide streben ein anderes politisches System an, das zwar auch als Demokratie (wahre Demokratie, Volksdemokratie, Basisdemokratie etc.) bezeichnet wird, aber – aus der Perspektive des pluralistischen Verfassungsstaats – auf ein diktatorisches System (zum Beispiel die "Diktatur des Proletariats" oder "Führerstaat") hinausläuft. Beide akzeptieren nicht das, was Bobbio für die "Anerkenntnis der unveräußerlichen Singularität eines jeden Individuums" hält.
Bobbio: Gegensatz der Werte stärker als der Gegensatz der Methode
Bobbio hält dennoch an wesentlichen Unterschieden zwischen links und rechts auch in der extremistischen Variante fest: Linke Positionen behaupten Gerechtigkeit und Gleichheit und postulieren eine horizontale egalitäre Gesellschaftskonzeption; rechte Positionen gehen von der anthropologischen Ungleichheit aus und proklamieren ein hierarchisches, antiliberales Gesellschaftsbild. Gemeinsam ist beiden die autoritäre, antidemokratische Komponente, mit der sie die Demokratie bekämpfen, der sie nicht nur ihre Existenz verdanken, sondern die sie auch zum Überleben benötigen.
Die Gemeinsamkeit zwischen Links- und Rechtsextremismus, "die extreme Übertreibung der hervorstehenden ideologischen Merkmale, ist ja das, was sie in doktrinärer Hinsicht unversöhnlich, und in praktischer Hinsicht unvereinbar macht. […] In der Gegenüberstellung von Extremismus und Moderatismus wird in erster Linie die Methode in Frage gestellt, in der Antithese zwischen links und rechts werden in erster Linie Werte in Frage gestellt. Der Gegensatz der Werte ist stärker als der Gegensatz der Methode."
Bobbio postuliert eine "positive Ungleichheit" – die Singularität des Einzelnen –, die sich von dem spezifischen Gleichheitsgedanken linker Couleur, aber auch von der anthropologischen Ungleichheit rechter Positionen unterscheidet: "wenn die Gleichheit negativ als Gleichmacherei interpretiert werden kann, kann die Ungleichheit positiv als Anerkenntnis der unveräußerlichen Singularität eines jeden Individuums verstanden werden".
Keine statische "Mitte"
Der innere Zusammenhang zwischen Demokratie, Autoritarismus und Totalitarismus lässt sich mit einem erweiterten, einem dynamischen Extremismusbegriff erkennen.
Als extremistisch gilt, wer wie der Rechtsextremismus von der anthropologischen Ungleichheit ausgeht oder wie der Linksextremismus den Vorrang des Individuums im demokratischen Pluralismus zugunsten einer kollektiven Gleichheitsvorstellung ablehnt. Wenn Vertreter der "Mitte" verfassungskonforme radikale Positionen ausgrenzen und keine Opposition zulassen, sind sie ebenfalls extremistisch. Links- und rechtsextreme Einstellungen und Bewegungen richten sich – mit unterschiedlichen Motiven und Zielen – fundamental gegen das freiheitlich-demokratische Gesellschaftssystem.
Differenzierung zwischen radikaler und extremer Linke
In der konkreten Betrachtung und Charakterisierung sind oftmals die Trennlinien zwischen radikal und extrem schwer zu ziehen. In linken Milieus durchmischen sich gemäßigte, radikale und extreme Linke. Hier schwimmen Linksextremisten – um einen platten Spruch von Mao zu zitieren – wie die "Fische im Wasser". Gleichwohl muss man differenzieren und nicht pauschalisieren. Die radikale Linke, die den Kapitalismus durch Reformen überwinden oder sozial einhegen will, ist Teil des demokratischen Spektrums, die extreme Linke dagegen will den bürgerlichen Staat zerschlagen und die bürgerliche Gesellschaft zerstören und stellt sich bewusst außerhalb des Verfassungskonsenses. Sie akzeptiert weder Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit noch demokratische Verfahrensprinzipien – ihr Gesellschaftsbild ist wie das der Rechtsextremisten – bezogen auf die bürgerliche Gesellschaft und die parlamentarische Demokratie – antipluralistisch. Obwohl extreme Parteien und Gruppen derzeit quantitativ eine nur marginale Rolle spielen, ist gerade das linksextreme Gewaltpotenzial – wie die Krawalle in Hamburg im Zuge des G20-Gipfels im Sommer 2017 zeigten – in den letzten Jahren erheblich angewachsen.
Fazit
Das Extremismusmodell geht davon aus, dass es auf der linken und der rechten politisch-ideologischen Seite extremistische Kräfte gibt, die die Verfassung und die ihr zugrunde liegende freiheitliche Werteordnung ablehnen. Kritiker sehen hierin eine unzulässige Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus. Sie lehnen zumeist den Extremismusbegriff generell ab. Die Kontroverse um das Extremismusmodell hat nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Dimension.
Links- und Rechtsextremismus unterscheiden sich in Theorie und Praxis deutlich voneinander und können nicht in eins gesetzt werden; ihre Gemeinsamkeit besteht jedoch im Kampf gegen eine offene, pluralistische Gesellschaft, um diese und den Einzelnen einer verordneten Weltanschauung zu unterwerfen. Beide Konzeptionen vertreten dogmatische Positionen, denen (vermeintlich) objektiv erkennbare Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen. Extremistische Ideologien erheben Anspruch auf totale Welterklärung und Erfahrungsunabhängigkeit. Die Pluralität der Interessen, das Mehrparteiensystem und das Oppositionsrecht lehnen sie ab und hängen einem Denken in Freund-Feind-Kategorien an. Insofern stehen extreme Positionen konträr zur Werteordnung einer pluralistischen Gesellschaft, die sie durch eine als einzig richtig und wahr definierte Ideologie rechter oder linker Couleur ersetzen wollen.