Angesichts der Herausforderungen unserer Zeit müssen wir erfinderisch sein. Genau darum geht es bei Futures Literacy.
Spielen für die Zukunft Können Videospiele uns dabei helfen, die Zukunft in Zeiten der Klimakrise neuzuschreiben?
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Games können die Spielenden zum Engagement gegen die Klimakrise animieren. Für den Transfer von der digitalen in die reale Welt braucht es allerdings neben Zukunfts- auch (kritische) Spielkompetenzen.
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- Audrey Azoulay, Generaldirektorin der UNESCO (2020; Übersetzung)
Spielerisch in die Zukunft
Es war im Hochsommer 2022. In vielen Regionen weltweit erreichten die Temperaturen neue Höchstwerte. Europa litt unter so nie dagewesenen Waldbränden. Allein in Frankreich verbrannten bis Ende August 2022 über 62.000 Hektar Vegetation (Imbach, Romain und Breteau, 2022). Derweil engagierten sich Spieler*innen von Riders Republic (Ubisoft Annecy, 2021), einem Multiplayer-Sport-Game
Das Event Riders Republic Rebirth, mit der digitalen Aufforstung als zentraler Mission, wurde im Sommer 2022 für zwei Wochen gehostet. Es gipfelte in der ersten Klimademonstration in einem Game überhaupt. Die Spieler*innen erhielten hierfür virtuelle grüne T-Shirts, Transparente, Megaphone und Trommeln, um ihr Engagement für das Klima kreativ zum Ausdruck zu bringen. Das Konzept zu diesem Projekt wurde 2021 während eines Green Game Jams entwickelt, der von der Externer Link: Playing for the Planet Alliance, einem Umweltprogramm der Vereinten Nationen, organisiert worden war. Boris Maniora, Gameplay Director von Riders Republic, glaubt, dass grüne Initiativen wie Rebirth zeigen, wie Games die Spieler*innen bestärken, Hoffnung wecken und Ihnen Fähigkeiten vermitteln können, die sie offline in die reale Welt übertragen können (Sandifer, 2022).
Das oben beschriebene Projekt Rebirth ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie kommerzielle Games die Klimakrise, eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, zum Thema machen können. Um aber vollends verstehen zu können, wie Games und der Akt des Spielens die Lebensrealitäten um uns herum verändern können, sollten wir über die überschwänglichen Interviews mit den Entwickler*innen, die positive Berichterstattung der Presse und das Engagement der Spieler*innen in Spielen mit bestimmten Inhalten hinaussehen. Entscheidend ist, dass wir nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen des Spielens mit einer technologischen Natur betrachten. Die eigentliche Frage ist nämlich: Können Videospiele die Klimaschutzbestrebungen wirksam unterstützen, indem sie Futures Literacy, eine der Kernkompetenzen für das 21. Jahrhundert, vermitteln? Begeben wir uns auf die Suche nach möglichen Antworten.
Futures Literacy als Zukunftskompetenz
Historisch wurde der Begriff Literacy
Die Futures Literacy ist eine universelle Kompetenz, die auf der Fähigkeit des Menschen aufbaut, die Zukunft – bzw. verschiedene Zukünfte – zu antizipieren und das eigene Verhalten an diese Vorstellungen anzupassen. So beinhaltet das Konzept auch die Fähigkeit durch die Veränderung der Gegenwart auf wünschenswerte Zukünfte hinzuarbeiten. Laut der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization), „fördert Futures Literacy die Vorstellungskraft und stärkt unsere Fähigkeit, uns angesichts von Veränderungen vorzubereiten, uns zu erholen und uns neu zu erfinden“ (UNESCO, o.D.a; Übersetzung).
Wie aber erreicht man diese Befähigung? Die UNESCO schlägt zehn Teilkompetenzen vor, die Individuen entwickeln sollten, um ihre Futures Literacy zu erlangen. Dazu gehören unter anderem die Fähigkeit, variierende Herangehensweisen an Risiken zu entwickeln (
Die Fähigkeit, sich die Zukunft in verschiedenen Varianten vorzustellen und zu deuten, um darauf aufbauend die Gegenwart zu ändern, könnte eine der anspruchsvollsten Fähigkeiten sein, die wir über nationale sowie soziale, Bildungs- und Kulturgrenzen sowie berufliche Hintergründe hinweg entwickeln müssen. Wichtiger noch: Diese Art von Kompetenz ist viel mehr als die bloße Fähigkeit, Dinge vorherzusehen. Es geht nicht nur darum, sich auf potenzielle Krisen vorzubereiten, sondern auch, sich von der Illusion der lösen, die Zukunft sei vorbestimmt und dadurch unveränderbar (UNESCO, o.D.b).
Aber wie entwickelt, kultiviert und nutzt man schließlich diese Fähigkeiten auf kritische und innovative Weise? Und wie stellt man sich verschiedene Varianten der Zukunft vor und handelt nach diesen Vorstellungen systemisch, insbesondere im Kontext der Klimakrise?
Mit Spielkompetenz zur Futures Literacy?
Wir leben in einem Zeitalter der Beschleunigung, schreibt Kulturtheoretiker Paul Virilio in Speed and Politics (Virilio, 2006). Eine der schwerwiegendsten Auswirkungen der Geschwindigkeit, mit der der technologische Fortschritt des Menschen voranschreitet, ist die Klimakrise. Dieses Phänomen ist so komplex, dass seine Auswirkungen auf unsere Zukunft von einem individuellen Standpunkt aus schwer vorstellbar sind und das ohne einen systemischen Ansatz, der über nationale und wirtschaftliche Interessen hinausgeht, nicht wirksam angegangen werden kann.
Wir leben auch in einem Zeitalter von Spielen, schreiben der Spieleentwickler Eric Zimmerman und die Journalistin Heather Chaplin. In ihrem Manifesto for a Ludic Century (2013) skizzieren sie das 21. Jahrhundert als die Zeit flexibler digitaler Netzwerke und dynamischer (Informations-)Systeme. Im „Ludischen Jahrhundert“ oder „Jahrhundert der Games“ sind Informationen zu Spielsteinen geworden (Zimmermann und Chaplin, 2013). Zu spielen erlaubt es uns, auf neue Arten zu denken und zu handeln, innovativ und kreativ zu sein. Wie Zimmerman und Chaplin herausstellen, „erfordert Literacy im ‚Jahrhundert der Games‘ auch eine Spielkompetenz“ (ebd.; Übersetzung) , das heißt die Fähigkeit, sich auf dynamische Informationssysteme einzulassen, mit ihnen zu spielen und Systeme als Räume für Möglichkeiten zu entwickeln.
Eine Verbindung von Futures Literacy mit ebendieser Spielkompetenz, wie Zimmermann und Chaplin sie fordern, könnte uns vor Augen führen, welche Antworten spielerisches und antizipierendes Denken auf die zunehmende gesellschaftliche Angst vor der Klimakrise geben können.
Denn: Bei vielen Menschen auf der ganzen Welt löst die Klimakrise Angst vor einer Zukunft aus, die unsicherer als je zuvor erscheint. In unserem täglichen Leben fühlen sich viele von uns hilflos gegenüber den überwältigenden wissenschaftlichen Fakten und den unzureichenden politischen Antworten darauf. Die Zukunftskompetenz kann und soll strategisches politisches Handeln nicht ersetzen. Sie könnte jedoch benötigte Orientierungshilfen liefern, um mit der Angst vor der Zukunft umzugehen, indem aktiv in der Gegenwart nach Lösungen gesucht wird – sowohl in den lokalen Gemeinschaften als auch auf globaler Ebene. Kurz gesagt, befähigt Futures Literacy Individuen dazu, aktiv zu werden und die Geschehnisse um sie herum zu beeinflussen.
Gaming, aber auch Spielen oder spielerisches Handeln im Allgemeinen erfordert eine Reihe von Fähigkeiten, die denen der Futures Literacy weitgehend ähneln. Nehmen wir die Teilkompetenzen Innovation, Strategie und Entdeckung als Beispiele. Beim Gaming finden wir uns häufig in einer Situation wieder, in der wir Herausforderungen mit innovativen Lösungen überwinden müssen, die wir strategisch einsetzen, um ein Problem, vor dem wir stehen, zu bewältigen. In vielen Games können die Spieler*innen die Eigenschaften der Spielewelt auf verschiedene Arten kombinieren, die von den Entwickler*innen häufig nicht vorhergesehen wurden. Eines meiner Lieblingsbeispiele, The Legend of Zelda: Breath of the Wild (Nintendo EPD und Monolith Soft, 2017; sowie der neuste Titel The Legend of Zelda: Tears of Kingdom (Nintendo EPD und Monolith Soft, 2023)) veranschaulicht dieses Prinzip sehr gut. Physik- und Chemie-Engines im Game eröffnen große Handlungsspielräume. So könnten wir z.B. irgendwann feststellen, dass Link, die Hauptfigur, vom Blitz getroffen wird, wenn er Gegenstände aus Metall mit sich führt. Dieses Prinzip kann auch dazu genutzt werden, Gegner*innen zu besiegen, indem man dafür sorgt, dass sie Metallobjekte aufheben, die wir für sie platzieren. So könnten wir einen kreativeren Weg zum Sieg finden, indem wir die Gesetze der umgebenden Spielwelt nutzen, statt direkt den Kampf mit dem Schwert aufzunehmen (einer Standardwaffe in den Zelda-Spielen).
Diese Fähigkeit von Games, etablierte Verhaltensmuster infrage zu stellen und neue Lösungswege zu finden, kann zu einer entscheidenden Maßnahme für die Futures Literacy der jüngeren Generationen werden, die einen erheblichen Teil ihres sozialen Lebens in virtuellen Welten verbringen. Für solche Spieler*innen können Games potenziell zu Handlungsplattformen werden. Diese Erkenntnis war auch der Grundgedanke für das Team des anfangs genannten Riders Republic, eine Klimademonstration im Game zu organisieren. Boris Maniora (Gameplay Director bei Ubisoft Annecy) hoffte, dass eine virtuelle Klimademonstration und die Möglichkeit, sich emotional in eine gemeinsame Sache einzufühlen, dazu führen könnte, dass ein ähnlicher Aktivismus in die reale Welt übertragen würde: „Zuerst musst Du handeln. Das ist ein guter Start. Tu etwas” (Fizek, Frings, Haggis-Burridge, Clavero, Kolek, Hubert, Garda und Koskinen, 2023, S. 62; Übersetzung).
Im nächsten Abschnitt sehen wir uns näher an, wie Gaming in bzw. das Spielen mit einer technologischen Natur die Futures Literacy fördern könnte.
Digitale Natur spielerisch erleben
Die beiden Beispiele, die ich hier einbringen möchte, eröffnen neue Perspektiven auf Beziehung zwischen Mensch und Natur. Das erste ist Terra Nil (Free Lives, 2023), ein Strategiespiel und ein sogenanntes umgekehrtes Städtebauspiel. Das zweite, Externer Link: Pollinator Pathmaker (Alexandra Daisy Ginsberg Ltd., 2021), ist ein lebendes Kunstwerk mit KI-Unterstützung.
Statt in der Spielewelt Ressourcen zu gewinnen, Städte zu bauen und technologisch voranzukommen, haben die Spielerinnen und Spieler in Terra Nil die Aufgabe, Einöden in ökologisch florierende Ökosysteme zu verwandeln. Hierzu müssen sie eine Reihe technologischer Lösungen, z.B. Windgeneratoren, Giftstoffabscheider, Wasserpumpen, Bewässerungseinrichtungen oder einfach nur Bienenstöcke strategisch platzieren. Die Idee dabei ist es, die vergiftete Landschaft mit immer komplexerer Flora und Fauna zu besiedeln. Durch die Kombination all dieser verfügbaren Aktionen können die Spieler*innen verschiedene Biome erschaffen, wie z.B. Feuchtgebiete, Wälder und Wildblumenwiesen. Wenn ein einzelnes Biom wiederhergestellt ist, wird es von Tieren besiedelt. Vögel schwärmen, Bienen summen, Bären und Wild streifen durch die Landschaft und im kristallklaren Pixelwasser tummeln sich die Fische. Wenn die Natur vollständig wiederhergestellt ist, müssen die Spieler*innen sie nur noch verlassen. Dafür recyclen sie alle Gebäude und technologischen Einrichtungen und überlassen die Natur wieder sich selbst. Ein weiterer Eingriff des Menschen ist weder notwendig noch erwünscht. Wenn sie diese Aufgabe erfüllt haben, ist alles, was den Spieler*innen bleibt, sich an der wiederhergestellten Welt zu erfreuen, ohne dass sie weiter darauf einwirken können.
Terra Nil erzählt eine Geschichte von ‚Klimapositivität‘, indem es den Menschen aus dem Mittelpunkt herausnimmt. So schafft das Game eine Vision der natürlichen Welt, die nicht als Ressource für den technischen Fortschritt der Menschheit da ist, sondern nur ohne ihn gedeihen kann. Das Game zeigt eine Perspektive, die man in Videospielen noch nicht oft gesehen hat. Die Entwickler*innen stellen sich gegen die – besonders im Genre der Aufbauspiele – gängige Praxis der Gewinnung natürlicher Ressourcen, um damit die technologisch fortgeschrittene Welt aufzubauen. Das „umgekehrte Städtebauspiel“ (engl. „reverse citybuilder“ (vgl. auch Pache, 2021)) ist also ein Beispiel für eine harmonischere Beziehung zwischen Mensch und Natur.
Das zweite Projekt geht über den Bildschirm hinaus und reicht in die Offline-Welt von lokalen Gemeinschaften hinein. Damit baut es eine potenziell robustere Brücke zwischen spielbaren Technologien und realen Handlungen für eine bessere Zukunft. Pollinator Pathmaker von Alexandra Daisy Ginsberg dreht sich um das Thema gefährdeter Bestäuberinsekten wie Honigbienen, Wildbienen und Schmetterlingen. Durch Industrialisierung, Pestizide und Klimawandel sterben diese massenhaft aus. Ginsbergs Projekt ist ein Versuch, auf der einen Seite die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken und auf der anderen Seite diesem Verlust entgegenzuwirken. Pollinator Pathmaker ist ein „lebendes Kunstwerk“, das auf einem einzigartigen Algorithmus aufbaut, und das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Gartenbauern, Experten für Bestäubung und einem KI-Wissenschaftler (Ginsberg, o.D.).
In dem interaktiven Online-Kunstwerk können die Anwender*innen mit virtuellem Gartenbau experimentieren und dabei perfekte Blumenzusammenstellungen für gefährdete Bestäuberinsekten schaffen. Dafür entscheiden sie über den Ort und die Größe der Gartenparzelle, den Bodentyp sowie dessen pH-Wert, die Lichtbedingungen und die Windexponierung. Außerdem regt Pollinator Pathmaker dazu an, mit dem Algorithmus zu spielen, um so die verschiedensten Gartendesigns zu erschaffen. Wenn der Garten angelegt ist, können wir uns daran erfreuen und sehen, wie er sich in den verschiedenen Jahreszeiten verändert. Die Website gibt uns außerdem die Möglichkeit, Anweisungen zum Bepflanzen zu erstellen, falls wir versuchen sollten, unsere virtuelle Kreation auf einer realen Wiese auszuprobieren. Im Frühjahr 2023 wurde einer der digital erstellten Gärten außerhalb des Museums für Naturkunde in Berlin gepflanzt. Frühere Ausgaben hatte es bereits 2021 in Cornwall und 2022 in London gegeben.
Ein frühsommerlicher Garten, erstellt mit Pollinator Pathmaker (© Alexandra Daisy Ginsberg Ltd. / Pollinator Pathmaker / Screenshot)
Ein frühsommerlicher Garten, erstellt mit Pollinator Pathmaker (© Alexandra Daisy Ginsberg Ltd. / Pollinator Pathmaker / Screenshot)
Terra Nil veranschaulicht ebenso wie Pollinator Pathmaker mehrere Potenziale von Games und digitalen Systemen, die spielerisches Ausprobieren ermöglichen: Auf der einen Seite überarbeiten sie alte Narrative (über die räumliche Expansion und über die Gewinnung von Ressourcen) und auf der anderen Seite fördern sie Experimente und Innovation über die digitale Sphäre hinaus.
Pollinator Pathmaker ist ein Beispiel dafür, wie Bürger*innen mit digitaler Technologie zum Handeln angeregt und neue Lösungen zur Bewahrung der Natur veranschaulicht werden können. Es ist kein Game im engeren Sinne, aber der Aspekt des Spielens steht im Zentrum des Konzepts. Dieses Kunstwerk der Citizen Science steht beispielhaft sowohl für Spielkompetenz als auch für Futures Literacy – ausgedrückt in der Fähigkeit, vorauszuschauen und mit Informationen zu spielen, um so die Zukunft zu verändern. Wir können mit den Visualisierungen in Pollinator Pathmaker digital „spielen“, und wer weiß, wie viele von uns dazu angeregt werden, einen kleinen bienenfreundlichen Garten auf unserem Balkon in der Stadt anzulegen?
In Terra Nil können wir spielerisch eine andere Fantasie von Mensch und Natur durchspielen. Diese Thematik der „Klimapositivität“ passt zur Idee der Futures Literacy, also der Fähigkeit, Hoffnung zu wecken, Menschen mit mehr Optimismus zu erfüllen und sie damit zu Handlungen anzuregen, die zu einem Wandel beitragen. Um eine Zukunft aufzubauen, für die es sich zu arbeiten lohnt, müssen wir sie uns vorstellen können. Dieser Satz wird häufig wie ein Mantra wiederholt. Und Terra Nil öffnet die Tür zur Vorstellung einer anderen Welt, die von der Industrialisierung durch den Menschen nahezu unberührt ist.
Die Zukunft beginnt mit …?
„Die Zukunft beginnt mit dem Alphabet“ (Bokova, 2014), sagte Irina Bokova, die frühere Generaldirektorin der UNESCO. Im Jahrhundert der Spiele sollten wir eher sagen, die Zukunft beginnt mit dem Spielen, d.h. der Fähigkeit, mit Vorstellungskraft und Dynamik auf Situationen eingehen und sie so verändern zu können.
Mithilfe von Games können wir Krisenszenarien simulieren, andere Welten modellieren und sichere Räume schaffen, um zu experimentieren oder aus einer krisengeschüttelten Welt zu fliehen. Wir gewinnen die Möglichkeit, eine technologisch vermittelte Natur zu erleben. Videospiele erlauben es uns, Dinge auszuprobieren. Zu üben. Und so selbst unvorstellbare Phänomene wie die Erdgeschichte zu simulieren.
All diese Aspekte zusammengenommen, könnten wir durchaus die Schlussfolgerung ziehen, dass Games geeignete Werkzeuge sind, um die Futures Literacy der Spieler*innen zu fördern.
Allerdings können wir – all der optimistischen Versicherungen der Spieleindustrie, dass Spiele im Zusammenhang mit der Klimakrise Auswirkungen auf die reale Welt haben können, zum Trotz – nicht mit voller wissenschaftlicher Überzeugung bestätigen, dass dem wirklich so ist. Games können zwar – wie andere visuelle und narrative Medien – besonders wirksam Hoffnung wecken und ein kurzlebiges Gefühl des Empowerments fördern. Es ist jedoch eine völlig andere Geschichte, dieses Empowerment mithilfe von Games in reale Handlungen zu übersetzen. Dieser Transfer mag zwar nicht unmöglich sein, lediglich ein paar grüne Anstöße
Außerdem sollten wir zwischen der Entwicklung von Klimaspielen auf der einen Seite und der Auseinandersetzung mit diesen vorgefertigten Visionen auf der anderen Seite unterscheiden. So kann es sein, dass nicht alle Teilnehmer*innen der digitalen Klimademonstration im Game sich ihrer weiteren Bedeutung – über die Teilnahme an einem „coolen“ zusätzlichen Event hinaus – vollständig bewusst sind. Vielleicht wollen sie ihren Avataren nur neue Outfits verpassen und mit einigen neuen Möglichkeiten zur Interaktion mit der Spielwelt experimentieren. Eine Beschäftigung mit Klimathemen erfolgt dann nur oberflächlich. Darüber hinaus ist der Rahmen von Games trotz der Wünsche und Überzeugung der Entwicklerstudios nicht zwangsläufig das wirksamste Mittel, um ein Gemeinschaftsgefühl aufzubauen, das über die Marke des Games selbst hinausgeht. Die Fragen bleiben: Werden die Spieler*innen an einer weiteren Klimademonstration teilnehmen, wenn diese kein vom umweltbewussten Entwicklerteam geschickt vorbereitetes Event im Game ist? Werden sie auch dann noch ihre Wut für diesen guten Zweck hinausschreien, wenn die Konsole ausgeschaltet ist? Wie viel Freiheit zur Gestaltung der Zukunft haben wir eigentlich in Games, die bis ins kleinste Detail durchdesignt, also im wahrsten Sinne des Wortes vorprogrammiert sind? Und schließlich: wie groß ist überhaupt der Anteil der Menschen, der es sich leisten kann, sich virtuell für das Klima zu engagieren, indem er auf PCs, den neusten Spielekonsolen und Mobilgeräten spielt, und das vorzugsweise noch mit einem stabilen Internetzugang?
Stehen Games etwa gar nicht im Zentrum des Puzzles der Zukunftskompetenz? Vielleicht sollten wir eher über Kritisches Spielen (engl. „critical play“) (Flanagan, 2009) diskutieren – Spielen als eine Form des spekulativen Denkens, als öko-kritischer Akt und eine Praxis, die die leidige Krise der Vorstellungskraft herausfordern kann. Im 21. Jahrhundert der Games brauchen wir Fähigkeiten und Werkzeuge, die die Grundfähigkeit des Lesens und Schreibens – der Literalität – unterstützen. Wir müssen in der Lage sein, zu spielen und uns auf Games und andere digitale Systeme, die zum spielerischen Handeln anregen, einzulassen. Spielen eröffnet Möglichkeitsräume. In diesen können wir aus Fehlern zu lernen und uns auf dynamische Systeme einlassen (selbst dann, wenn sie nicht viel mit der realen Entscheidungsfreiheit zu tun haben
Danksagung
Die in diesem Artikel dargestellte Diskussion über Nachhaltigkeit basiert auf der Forschung, die im Rahmen des Projekts "Greening Games. Building Higher Education Resources for Sustainable Video Game Production, Design & Critical Game Studies" (2021-1-DE01-KA220-HED-000029501) durchgeführt wurde. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Erasmus+ Programms der Europäischen Union (KA220-HED - Cooperation Partnerships in Higher Education) gefördert.
Weitere Inhalte
Prof. Dr. Sonia Fizek ist eine Spiel- und Medienwissenschaftlerin. Seit 2020 ist sie an der TH Köln (Cologne Game Lab) als Professorin für Media & Game Studies tätig. In ihrer Monografie Playing at a Distance (2022) untersucht sie die Spielästhetik im digitalen Zeitalter mit den Schwerpunkten Automatisierung, KI und neuen Möglichkeiten der Interaktion mit Technologie. Zurzeit leitet sie als „Principal Investigator“ das internationale, wissenschaftliche Projekt „Greening Games. Building Higher Education Resources for Sustainable Video Game Production, Design & Critical Game Studies“. Seit März 2024 führt Sie als „Scientific Lead“ ein weiteres Projekt: „STRATEGIES. Sustainable Transition for Europe's Game Industries“ (Horizon Europe, 2024-2026).
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