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Historische Identitäts- und Feindbilder

Jean Coert

/ 14 Minuten zu lesen

Historische Personen und Gruppen werden häufig als Feindbilder in digitalen Spielen repräsentiert. Damit werden bisweilen Wertvorstellungen, Vorurteile und Illusionen über frühere Zeiten verstärkt.

Cover des DLCs „Sniper Elite V2 - Kill Hitler + 2 Rifles“ (© Valve: Steam Shop. Sniper Elite V2 - Kill Hitler + 2 Rifles. )

„Kill Hitler!“ – historische Identitäts- und Feindbilder in Videospielen

„Kill Hitler!“ – dieser offensive Werbespruch animiert dazu, am heimischen Bildschirm Nationalsozialisten zu erschießen. Der Spruch bewirbt das Computerspiel „Sniper Elite V2“ (Rebellion Developments, 2012). Derartige Marketingstrategien sind kein Einzelfall in der Videospielbranche. Viele Spiele mit historischen Inhalten leben von Feindbildern, deren aktive Bekämpfung moralisch vertretbar ist, und von Freundbildern, mit denen sich Spielerinnen und Spieler problemlos identifizieren können. Der NSDAP-Kosmos dient als solches Feindbild für viele Videospiele. Die Spielerinnen und Spieler befinden sich meist in der positiv besetzten Rolle der Alliierten. Vergleichbare historische Identitätspaarungen prägen zahlreich die Darstellung vergangener Epochen. Dazu zählen der grausame mittelalterliche Monarch, der im Konflikt mit seiner geplagten Bevölkerung steht, oder der Kampf zwischen sogenannten Hochkulturen und Barbaren im Altertum. In diesem Text wird veranschaulicht, mit welchen Absichten derlei historische Identitäten in Videospiele implementiert werden. Damit verbunden wird aufgezeigt, welche Auswirkungen die Nutzung von historischen Personen und Kollektiven auf die Handlung, Spielmechanik sowie die audiovisuelle Gestaltung von digitalen Spielen mit historischen Inhalten haben. Abschließend wird anhand dieser Teilbetrachtungen analysiert, inwiefern historische Identitäten in Videospielen verzerrt dargestellt werden.

Die Ermordung des Diktators Caesar in „Assassin’s Creed Origins“ (© Eigener Screenshot aus Ubisoft: Assassin’s Creed Origins, 2017)

Obwohl diverse Formen von Gewalt in vielen Videospielen auf beiden Seiten Anwendung finden, sind vor allem damit verbundene Erzählungen entscheidend für die Kategorisierung dieser Taten als „gut“ und „böse“. Oft führt die „gute“ Partei ihren Kampf unter nobel geltenden Idealen. Hierzu zählen Ziele wie Freiheit, Gerechtigkeit, Schutz der Heimat oder manchmal auch einfach Rache. Sie alle legitimieren, dass die Spielerinnen und Spieler in Strategiespielen kaltblütig taktieren oder in Rollenspielen durch Waffengewalt ihre Ziele vorantreiben. Verfeindeten Personen, deren Handlungen sich von denen der Helden oft kaum unterscheiden, verleiht man hingegen niederträchtige Ambitionen. Sie sind von Herrschsucht, Gier, Grausamkeit, Ungerechtigkeit und andersartigen Moral- und Wertvorstellungen geprägt, die häufig mit unseren heutigen westlichen Vorstellungen unvereinbar sind. Ihre Bekämpfung wird somit legitim und die Spielerinnen und Spieler empfinden kein Unbehagen, wie es bei der Tötung unschuldiger Zivilisten der Fall sein würde. Diese Schablone wird mehrfach in Computerspielen angewandt.

Damit man stets die passenden Vorlagen für diese Narrative nutzen kann, wird immer wieder auf die gleichen historischen Fraktionen zurückgegriffen. In der antiken Welt nimmt man meist die Rolle der Römer und Hellenen ein und agiert gegen sogenannte Barbaren, wie Perser oder keltische und germanische Stämme. Im Mittelalter sind es in der Regel die christlichen Königreiche und Fürstentümer West- und Mitteleuropas, mit denen sich Spielerinnen und Spieler identifizieren sollen. Als Feindbild müssen oftmals die muslimische Staatenwelt des Orients sowie die einfallenden Mongolen herhalten. Spiele, die das 20. Jahrhundert porträtieren, versetzen den Spieler oder die Spielerin meist in die Rolle der Nationalitäten, die bei den Alliierten oder der NATO vertreten waren. Besonders beliebt sind dafür die USA. Für diese Konstellation dienen meist das Dritte Reich, islamistische Terroristen und die Sowjetunion mit ihrem sogenannten Ostblock als historische Feindbilder. Nicht nur politische und kulturelle Gruppen, sondern auch abstrakte Modelle und Strukturen eignen sich bisweilen als Feindbilder oder auch zur Identifikation. In „Kingdom Come: Deliverance“ (Warhorse Studios, 2018) ist das böhmische Königshaus das Feindbild. Die einfache Bevölkerung, zu der auch der Protagonist des Spiels gehört, ist die Leidtragende im Bürgerkrieg der unfähigen Monarchen. Die barbarisch charakterisierten Kumanen, die den Antagonisten als Soldaten dienen und die Heimat des Spielcharakters terrorisieren, unterstützen in diesem Fall das konstruierte Feindbild. Mit einer ähnlichen Opferrolle identifiziert man sich auch in „A Plague Tale: Innocence“ (Focus Home Interaktive, 2019). Im mittelalterlichen Frankreich sind die Protagonisten mit der Pest als Feindbild konfrontiert, welches die krankheitserregenden Ratten personifizieren, und im weiteren Spielverlauf mit der Inquisition.

In die Rolle der Feinde schlüpfen

Einige Computerspiele versuchen, diese Dualismen der Historie zu überwinden, indem sie die Spielerinnen und Spieler auch mal in die Rolle der feindlichen Macht schlüpfen lassen. Dies geht jedoch fast immer mit Schwierigkeiten einher, wie das Beispiel der NS-Vergangenheit Deutschlands verdeutlicht. Mit den Ideen und Ambitionen des NS-Regimes werden sich zum Glück die wenigsten identifizieren können. Entwicklerstudios müssen also damit rechnen, dass sie mit einem Spiel, dessen Protagonist ein überzeugter Nationalsozialist ist, neben der ethischen Fragwürdigkeit weder einen Kaufanreiz auslösen noch mit gesellschaftlicher Akzeptanz rechnen können. Zustimmung hat jüngst ein Ansatz von „Battlefield V“ (Electronic Arts, 2018) erlangt. Dort spielt man in der Geschichte „The Last Tiger“ den fiktiven deutschen Panzerkommandanten Peter Müller, der in die Kämpfe an der deutschen Westfront involviert ist. Obwohl er unter dem Hakenkreuz dient, können die Spielerinnen und Spieler zu ihm Wohlwollen entwickeln: Peter Müller ist ein Systemzweifler, dessen Handlung darin mündet, dass er fahnenflüchtig und dafür erschossen wird. Eine Person, die zu einer negativ eingefärbten Fraktion gehört, kann sich durch ihr Distanzieren von der eigenen Ideologie zu einer Identifikationsfigur entwickeln. Mit diesem Mittel werden verhasste historische Identitäten spielbar.

Derartige Relativierungen sind aber nicht die Norm, sondern Einzelfälle. Vielmehr prägt eine Schwarz-Weiß-Malerei viele historische Identitäten im Computerkosmos. Üblicherweise werden Personen aus dem Dritten Reich bewusst abgewertet. Sie werden mit einer Vielzahl negativer Eigenschaften dargestellt und über ihre verhasste Rassenideologie profiliert. Während auf diese Weise Nationalsozialisten als böse Antagonisten charakterisiert werden und relativierende Elemente ausbleiben, werden ihre Gegenspieler meist idealisiert und historische Zweideutigkeiten in den Hintergrund gedrängt. Beispielsweise wurde in den USA seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine gesetzlich regulierte Rassentrennung praktiziert, die noch bis in die 1960er-Jahre wirkte und einst auch den NS-Rassismus inspirierte. Diese Form der rassistischen Unterdrückung findet keineswegs solch eine Aufmerksamkeit am Bildschirm. Gleiches gilt auch für die Kriegs- und Kolonialverbrechen anderer europäischer Nationen. Die Berücksichtigung dieser Phänomene würde das positive Bild dieser Nationen empfindlich schmälern und die aufgebaute „Gut gegen Böse“-Komposition ruinieren. Handlung und Erzählung in Videospielen mit historischen Inhalten sind von diesen Problemen maßgeblich bestimmt. Die Spielerinnen und Spieler kämpfen meist für die richtige Seite, der auch die richtigen Werte und positive Eigenschaften zugeschrieben werden. Ihre Feinde werden mit Lastern und negativen Attributen belegt. Auch einzelne Charaktere aus Geschichten sind von dieser Zweiteilung geprägt. Heldengestalten sowie Personen mit Idealen und einem guten Herz werden oft zu Begleitern und Freunden und selten zu Feinden. Antagonisten werden hingegen gerne als Sadisten, Fanatiker, Rassisten, Egoisten, korrupte Politiker, grausame Despoten oder Wahnsinnige dargestellt. Wohlgesonnene Spielcharaktere bleiben in der Regel von solchen Attributen verschont. Manche Gruppen werden somit zu dem, was Orks im „Herr der Ringe“-Universum oder Zombies im Horrorgenre repräsentieren – eine uniforme böse Masse. Derlei Charaktereigenschaften verstärken die ohnehin einseitige Auswahl historischer Gruppen. Als Konsequenz bleibt den Spielerinnen und Spielern nur, motiviert gegen ihre perfiden Widersacher vorzugehen und zugleich die tadellosen Verbündeten zu unterstützen.

Diese Dualismen sind auch durch das gesellschaftliche Umfeld der Produktionsorte geprägt. Viele Videospiele mit historischen Inhalten stammen aus der Hand von nordamerikanischen, west- und mitteleuropäischen Entwicklerstudios. Die jeweiligen Geschichtstraditionen, die lokalen Identifikationen mit historischen Kollektiven und vorherrschende Perspektiven auf andere Kulturen übertragen sich auf die virtuellen Welten. Ihre Bilder entstehen durch die Rezeption der Geschichte in der lokalen Medienkultur sowie insbesondere durch die einprägsame Vermittlung der Vergangenheit im sozialen Umfeld und den Bildungsinstitutionen. Das Konzept Demokratie wird am Beispiel Athen, die Aufklärung und die Gleichberechtigung werden am revolutionären Frankreich erklärt. Ideologien sowie der Zustand der heutigen Welt werden anhand der Ereignisse des 20. Jahrhunderts vermittelt. Solche historischen Phänomene und die mit ihnen verknüpften Ideen werden in jeder Gesellschaft gelehrt und verhandelt. Der Westen bietet dahin gehend einen relativ ähnlichen Rezeptionskanon, den Entwicklerstudios aufgreifen und verarbeiten können. Die bekannten geschichtlichen Bilder und Themen, die sich bereits in der Popkultur und der kollektiven Identität einer großen Beliebtheit erfreuen, können somit attraktiv in ein Freizeitmedium eingearbeitet werden. Bei den Konsumierenden kann es den Reiz auslösen, das Gelernte über frühere Zeiten oder auch bestimmte Ideale und Sehnsüchte, die mit den historischen Identitäten verbunden werden, virtuell nachzuerleben.

Exemplarisch lässt sich diese lokale kulturelle Prägung aufzeigen, wenn man Computerspiele näher betrachtet, die nicht aus der sogenannten westlichen Sphäre stammen wie zum Beispiel „Cossacks 3“ (GSC Game World, 2016). Ein ukrainisches Entwicklungsstudio hat in diesem frühneuzeitlichen Strategiespiel unter anderem den Interner Link: Unabhängigkeitskampf des Hetmanats – einem Kosakenstaat im Gebiet der heutigen Ukraine – gegen Polen-Litauen thematisiert. Dieses historische Szenario, das noch heute für das Selbstverständnis und die Historiografie der modernen Ukraine eine hohe Relevanz besitzt, wird man wohl kaum bei einem anderen Entwicklerstudio wiederfinden. Denn anderswo wecken diese Ereignisse kein sonderliches Interesse. Das Szenario spiegelt vielmehr die Beziehung der ukrainischen Gesellschaft zu ihrer eigenen Geschichte und den damit verbundenen Identitäts- und Feindbildern wider.

Andere Videospiele verzichten abseits ihres historischen Rahmens weitgehend oder komplett auf einen Handlungsbogen. Bei puren Multiplayerschlachtsimulationen wie „World of Tanks“ (Wargaming.net, 2010) oder dem Multiplayermodus der „Call of Duty“-Reihe (Activision, seit 2003) wird die Geschichte hinter den Nationalitäten irrelevant. Sie bieten den Spielenden vornehmlich Zugriff auf verschiedene Ausrüstungsgegenstände, Designs und spielmechanische Vor- und Nachteile. Auch manche strategische Spielereihen wie „Hearts of Iron“ (Paradox Interactive, seit 2002) oder „Sid Meier’s Civilization“ (2K Games, seit 1991) pflegen einen kommentarlosen Umgang mit der Geschichte.

Historische Identitäten am Bildschirm

In Videospielen ist es gängig, dass Feinde und Freunde leicht erkennbar sind, damit Spielende schnell genug auf sie reagieren können. Viele historische Staaten und Gruppen bieten hierfür ein breites Arsenal an typischen Symbolen, Flaggen, Farben und Uniformen. Sie werden häufig im Übermaß in die Spielwelt und Charaktergestaltung integriert, um Gebieten und Figuren eindeutige Identitäten zuzuweisen. Die blau-weiß-rote Trikolore offenbart dem Spieler / der Spielerin sofort die französische Identität seines / ihres Verbündeten, während bei mittelalterlichen Rittern die Freund-Feind-Unterscheidung durch Wappen erfolgt.

Neben diesen Elementen, die zur Bestimmung von Nationalitäten und Zugehörigkeiten genutzt werden, finden Klischees Eingang in die Gestaltung historischer Identitäten. Ein verwilderter, bärtiger Kelte hebt sich von einem gepflegten Legionär ab und lässt sich ohne Probleme verorten (Abb. 2). Ein Kopftuch oder ein Turban signalisiert dem Betrachter oder der Betrachterin unmittelbar, dass die Trägerin oder der Träger der Kopfbedeckung wahrscheinlich aus dem Nahen Osten stammt. Daher werden diese Kleidungsstücke in Videospielen gleichermaßen für antike Perser, für mittelalterliche, muslimische Glaubenskämpfer und moderne Terroristen verwendet. Nicht selten werden derlei Gestaltungselemente auf eine große Anzahl – manchmal auf alle – Figuren einer Fraktion angewandt, um die Identitätsverhältnisse klar zu markieren. Tendenziell erfahren der eigene Avatar und seine Kameraden eher Individualisierung als seine Feinde. Dies kann zu Zerr- und Irrbildern der Geschichte führen, denn gewiss trugen nicht immer alle Angehörigen eines Kulturkreises die gleichen Kleidungsstücke oder waren mit den gleichen Emblemen geschmückt.

Eine stereotype Darstellung: Markant wird der Barbar von den umliegenden Legionärsleichen abgegrenzt. (© eigener Screenshot aus Crytek/Deep Silver: Ryse: Son of Rome, 2013)

Auch prominente archäologische Objekte oder berühmte Monumente aus vergangenen Zeiten sind häufig Bestandteil der modellierten Welten. Sie bieten einen Wiedererkennungswert für historische Kulturen und Orte. So sorgt die Bekanntheit des Kolosseums dafür, dass kaum ein Videospiel im Kontext des Römischen Reiches ohne eine Darstellung einer vergleichbaren Kampfarena auskommt. Ähnlich verhält es sich mit den Pyramiden im antiken Ägypten, der Pagodenarchitektur bei Abbildungen des alten Chinas oder Japans oder gotischen Kirchen wie der Notre-Dame, die eine mittelalterliche Atmosphäre kreieren. Oft ist es sogar ein Wunsch und großer Reiz für Spielerinnen und Spieler, bildgewaltige und historische Schauplätze touristisch erkunden zu können. Als Beispiel kann man das Spiel „Assassin’s Creed Odyssey“ (Ubisoft, 2018) nennen, welches erfolgreich damit warb, spielerisch in das rekonstruierte antike Athen eintauchen und von der Akropolis auf die dort verorteten Anfänge der heutigen Demokratie blicken zu können.

Auch einige Museumsstücke und archäologische Funde sind für Personen und Orte identitätsstiftend geworden. Zahlreiche Persönlichkeiten werden nach berühmten Gemälden und Skulpturen geformt. Antike Gebäude werden mit Wandmalereien aus Pompeji ausgestaltet. Für die grafische Wiedergabe der deutschen Wehrmacht ist der Tiger-Panzer geradezu ikonisch geworden. Er macht die virtuellen deutschen Truppen unverkennbar und steigert ihr bedrohliches Aussehen. Ikonische Objekte geben Entwicklungsstudios die Möglichkeit, sogar solche historischen Personen und Gruppen grafisch zu gestalten, für die es keinerlei Bildmaterial gibt. Eine quellendürftige Gestalt ist zum Beispiel der Cherusker Arminius, der für seinen Sieg im Teutoburger Wald in der deutschen Historiografie große Bekanntheit erlangte. Trotz seines Ruhms gibt es keinerlei Hinweise darauf, wie der Germane einst aussah. Um bei der grafischen Darstellung dieser historischen Figur trotzdem einen Wiedererkennungswert zu kreieren, haben die Spiele „Total War: Rome II“ (Sega, 2013) und „Total War: Arena“ (Wargaming / Sega, 2018) auf einen archäologischen Fund des Schlachtfeldes zurückgegriffen, das Arminius erst berühmt machte. Der prominenteste Fund des Schlachtfeldes bei Kalkriese ist eine römische Reitermaske (Abb. 3), die zwar ein bekanntes Symbol für das Ereignis geworden ist, aber als Gegenstand selbst wahrscheinlich keinen Bezug zu Arminius hatte. Trotzdem ist dieses archäologische Objekt verwendet worden, um diese Person zu charakterisieren (Abb. 4). Durch ihren Bekanntheitsgrad und Symbolcharakter vermag sie nämlich eine wiedererkennbare identitätsstiftende Brücke zur Schlacht im Teutoburger Wald und somit auch zur Person von Arminius zu schlagen.

Abb. 3: Römische Reitermaske aus Kalkriese, Inv. 778A – derzeit ausgestellt im Museum und Park Kalkriese

Abb. 4: Darstellung des Arminius mit römischer Reitermaske aus Kalkriese in „Total War: Rome II“

(© Quelle: Fotografie von Jean Coert, Februar 2019 / Eigener Screenshot aus Creative Assembly / Sega: Total War: Rome II, 2013)

Nicht nur die erhaltenen historischen Gegenstände selbst prägen die Geschichtsbilder am Bildschirm, sondern auch ihre Rezeption in anderen Medien wie der Malerei, in Büchern, Comics und Filmen. Nachhaltig wurde so das Bild Spartas und seiner Kriegerelite durch den Blockbuster „300“ beeinflusst. Eine ähnliche Wirkung vermochte „Der Soldat James Ryan“ auf die Darstellung der Weltkriegsschlachten in PC-Spielen zu haben.

Klänge und Stimmen aus einer anderen Zeit

Ein wichtiges Element zur Charakterisierung von virtuellen Identitäten ist auch deren akustische Darstellung. Mit bestimmten Völkern, Kulturen und Nationen verbinden wir bestimmte Sprachen und typische Musik- und Geräuschkulissen. Für Entwicklungsstudios ist die Einarbeitung dieser intuitiven Assoziationen in ihre Spiele eine besondere Herausforderung. Die Problematik lässt sich schnell an einem Gedankenexperiment erklären: Angenommen ein Entwicklerstudio möchte ein Spiel zu Caesars Feldzügen gegen die Germanen in der Rheinregion entwerfen. In diesem Szenario müsste man für die Römer auf Latein als gesprochene Sprache zurückgreifen, welche wahrscheinlich nur eine kleine Gruppe von Spielern und Spielerinnen überhaupt verstehen würde. Die Germanen sprechen Germanisch – eine Sprache, die selbst Sprachwissenschaftler kaum noch rekonstruieren können. Wollte man dies noch mit Musik untermalen, käme das nächste Problem auf: Die heutigen Kenntnisse über das antike Musizieren sind sehr bescheiden und es ist äußerst fraglich, ob das heutige Spielpublikum die Rekonstruktionen durch Musikarchäologen überhaupt mit dem Altertum in Verbindung bringen würde. Die akkurate Wiedergabe solch eines Schauplatzes würde für das Entwicklerstudio erhebliche Gestaltungsschwierigkeiten bedeuten und für Verständnisprobleme oder Verwirrung sorgen. Diese Schwierigkeit betrifft gleichermaßen Handlungen in moderneren Genres. Bei einem Spiel, das die Kolonisierung Amerikas thematisiert, könnte auf die zeitgenössische Musik zurückgegriffen werden. Es könnte aber keineswegs vorausgesetzt werden, dass die Spielenden die Sprachen aller indigenen und europäischen Kulturen verstehen, die an diesem historischen Prozess beteiligt waren. Bei der Verwendung einer einheitlichen Sprache dagegen würden die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fraktionen nivelliert und die Identität einzelner Personen nicht mehr hörbar sein.

Zur Lösung dieser Problematik hat die Spielebranche einige Strategien entwickelt. Meistens sprechen alle Personen und Gruppen innerhalb der Spielwelten grundlegend die gleiche Sprache, die auch der Nutzer / die Nutzerin spricht. Entscheidend für die identitätsstiftende Zuordnung ist hier die Qualität der Sprache. Der eigene Charakter und die positiv besetzte Fraktion des Spielers / der Spielerin sprechen meist tadelloses Hochdeutsch oder vergleichbare Äquivalente in anderen Sprachversionen. Instinktiv wird der Spieler / die Spielerin sich eher mit den Personen identifizieren, die einwandfrei seine / ihre Muttersprache beherrschen und jene als anders empfinden, die nur mangelhaft oder unzureichend seine / ihre Muttersprache sprechen. Daher sprechen die Feinde meist mit Akzent, Dialekt oder haben offensichtliche Sprachdefizite, die ihren Fremdheitscharakter signalisieren sollen. Dies betrifft auch das Vokabular. Während die eigene Fraktion sich meist eloquent auszudrücken weiß, besitzen die Gegenspieler häufig einen mangelhaften Wortschatz und nur einfache oder falsche Grammatikkenntnisse. In fast allen Videospielen mit antiker Kulisse beherrschen die Römer unsere Sprache. Sie müssen mit Germanen und anderen sogenannten Barbaren interagieren, denen man deutlich anmerkt, dass für sie unsere Sprache eine Fremdsprache ist.

Solch ein Paradigma findet sich auch bei der Darstellung von Nationalsozialisten, was in der Forschung als „Nazi German“ bekannt geworden ist. Unabhängig von der Sprachversion wird man in vielen Spielen nicht nur den deutschen Akzent dieser Antagonisten heraushören, sondern auch den bewusst gewählten harschen und harten Sprachstil, wie er aus Reden des nationalsozialistischen Führungskaders bekannt ist. Charakteristisch für Nazi German sind einige deutsche Wörter, die so gut wie nie übersetzt werden. Hierzu gehören die Wörter „Reich“, „Führer“, „Jude“ und einige weitere, die kennzeichnend für die Ära des Dritten Reiches sind und daher zum Beispiel in allen Sprachversionen der „Wolfenstein“-Reihe (Bethesda Softworks, seit 2014) vorkommen. Sie markieren dort hörbar Personen des NSDAP-Kosmos. Auch wenn nicht in dieser extremen Form, so werden doch zahlreiche Nationalitäten und Kulturen in Spielen ebenfalls über nicht übersetzte Wörter charakterisiert. Oft handelt es sich um simple Alltagsvokabeln wie „Hallo“, „Tschüss“, „Ja“, „Nein“, „Danke“, „Freund“ sowie kulturspezifische Wörter, deren allgemeine Kenntnis vorausgesetzt werden kann. Mit diesem Mittel werden auch die erwähnten deutschsprachigen Römer in „Total War: Rome II“ (Sega, 2013) latinisiert, indem der Spieler / die Spielerin als „Imperator“ (lat. Feldherr) angeredet wird oder prominente Redewendungen wie „Alea iacta est“ oder „Veni, vidi, vici“ fallen. Ganz ähnlich verleiht das Strategiespiel „Age of Empires II: Definitive Edition“ (Xbox Game Studios, 2019) seinen Spielfraktionen Individualität, die im weitesten Sinne aus den mittelalterlichen Kulturen Amerikas, Europas, Afrikas und Asiens bestehen. Hier sprechen die einzelnen Figuren ebenso Kurzsätze wie „Ich bin bereit“, „Ich kämpfe“, „Ich baue“ in den jeweiligen Sprachen, die mit diesen Kulturen assoziiert werden.

Nicht nur Sprache formt Identitäten und Bilder von historischen Freunden und Feinden, sondern die gesamte Klangkulisse. Kirchenglocken, italienische Marktschreier und das Knarzen alter Kähne auf dem plätschernden Lagunenwasser entführen uns in das mittelalterliche Venedig. Der rhythmische Klang des Gleichschritts, Militärkapellen, Kanonen- und Musketenschüsse sowie das soldatische Bellen französischer Befehle vermögen uns in die Atmosphäre der napoleonischen Schlachtfelder zu versetzen. Ob diese Orte einst wirklich so klangen, ist meist völlig irrelevant. Wichtiger ist es, dass die Konsumentinnen und Konsumenten sich die Geräuschkulissen so vorstellen und eine Verbindung zum dargestellten Schauplatz herstellen können.

Häufig werden eigens komponierte Soundtracks genutzt, die die einzelnen Parteien und Protagonisten des Spiels musikalisch vertonen. Beliebt sind charakteristische Instrumente, Melodien und berühmte Musikstücke der historischen Kulturen, die ihnen einen Wiedererkennungswert verleihen. Der Dudelsack ist mit den schottischen Highlands genauso eng verbunden wie Mozarts Melodien mit dem kaiserlichen Wien. Um Sympathien zu wecken, wird viel mit dem emotionalen Charakter der Musikstücke gearbeitet. Oftmals wird die eigene Fraktion mit friedvoll klingenden Harmonien und Klangfolgen umspielt. Die Akustik der Verbündeten wird somit zum Ohrenschmaus. Dementgegen werden die Kontrahenten mit bedrohlichen Klängen und bisweilen mit dissonanten Tonfolgen begleitet.

Virtuelle Freunde und Feinde aus der Historie

Vielfach kann man historischen Identitäten in digitalen Spielen begegnen und mit ihnen in vergangene Zeiten eintauchen. Die Auswahl und die spielerische Gestaltung von historischen Kulturen und Szenarien werden nicht nur aus einer reinen Faszination heraus getroffen, sondern sie sind meistens eng mit der Spielmechanik, der Handlung und kommerziellen Interessen verbunden. Meist finden dominante Geschichtsbilder, wie sie durch die Schulbildung vermittelt werden, hier ihren Widerhall. Diese Darstellungen sind mit Vorsicht zu genießen, denn sie streben nicht nach geschichtlicher Akkuratesse, sondern sind auf uns – die potenziellen Konsumentinnen und Konsumenten – abgestimmt. Dadurch wird oftmals die Vergangenheit verzerrt – und die mit ihr verbundenen Personen, Kulturen und Nationen. Wertvorstellungen, Vorurteile und Illusionen über frühere Zeiten werden oft verstärkt. Historische Identitäten in Videospielen sind darum nie als Abbild der Geschichte, sondern vielmehr als ein Wunschbild zu verstehen. Dass wir virtuell in positiv besetzte historische Rollen schlüpfen und dem eingangs zitierten Tötungsaufruf gegen Hitler oder andere Feindbilder nachkommen können, ist essenziell, um die Attraktivität dieser Wunschbilder zu wahren. Daher ist davon auszugehen, dass auch in zukünftigen Videospielgenerationen der Kampf gegen das NS-Regime und andere negativ rezipierte Gruppen einen festen Platz haben wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Um eine verzerrte Darstellung der verschiedenen historischen Formen und graduellen Abstufungen der Ungleichheit oder Gleichheit der Geschlechter in verschiedenen Kulturen und Abschnitten der Menschheitsgeschichte zu vermeiden, wird für historische Personen, Kollektive und Kulturen sowie deren Abbildung in zeitgenössischen Medien in diesem Text stets das generische Maskulinum verwendet. In diesem Kontext sind die verwendeten Geschlechter ausschließlich im Sinne des grammatikalischen zu verstehen und beziehen sich insbesondere nicht auf biologische, soziale, psychologische, phänomenale Geschlechtsbegriffe etc.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jean Coert für bpb.de

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