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Digitale Lernspiele

Steve Nebel

/ 7 Minuten zu lesen

Die Bewertung digitaler Lernspiele bewegt sich im Spannungsfeld zwischen großem Enthusiasmus hinsichtlich der Möglichkeiten und einer grundlegenden Skepsis gegenüber dem Einsatz in der Praxis. Die Forschung ist für AnwenderInnen oft keine große Hilfe. Denn Jahrzehnte nach Beginn des Lehrens und Lernens mit digitalen Lernspielen scheint sie noch immer am Anfang zu stehen.

Die Bundesregierung und die Bundesländer reagieren auf veränderte Lebensrealitäten im digitalen Zeitalter. Sie unterstützen eine bundesweite Weiterentwicklung des Lehrens und Lernens mit dem milliardenschweren DigitalPakt Schule. Dabei sollen unter anderem digitale Lehr-Lern-Infrastrukturen beziehungsweise Systeme, Werkzeuge und Dienste finanziell gefördert werden, die einen pädagogischen Mehrwert bieten (vgl. Bundesrepublik Deutschland & Länder der Bundesrepublik Deutschland 2019). Neben der notwendigen Angleichung von Bildungskompetenzen und -prozessen an gesellschaftliche Veränderungen können so ebenfalls Projekte Unterstützung erhalten, die es ermöglichen, neue Lernformen und Bildungsmöglichkeiten zu erschließen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019). Ein Werkzeug, das zweifellos diesen Anforderungen genügen kann, ist das digitale Lernspiel (vgl. Clark, Tanner-Smith & Killingsworth 2016). Jedoch gibt es noch erheblichen Informationsbedarf hinsichtlich der idealen Gestaltung und möglicher Einflussfaktoren auf den Lernprozess.

Effektivität digitaler Lernspiele

Seit Beginn der Entwicklung digitaler Spiele vor über fünfzig Jahren wird das Medium Videospiel auch als Lernwerkzeug genutzt und in vielfältigen Bildungsbereichen eingesetzt. So wird bereits in den siebziger Jahren, zeitgleich mit frühen Wegbereitern des Mediums wie "Pong" (vgl. Alcorn 1972), mit "The Oregon Trail" (vgl. Rawitsch, Heinemann & Dillenberger 1971) Wissen über die Besiedlung des US-amerikanischen Westens vermittelt. Seitdem finden digitale Lernspiele zum Zwecke des Erwerbs von Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten (vgl. Edelmann & Wittmann 2012) Verwendung. Die Anwendungsfelder von digitalen Lernspielen reichen von Unternehmensweiterbildung über medizinische Rehabilitation bis hin zum Schulkontext. Dabei können Spiele als digitale Lernspiele verstanden werden, die einer Definition eines Videospiels genügen (vgl. Juul 2003) und zur Instruktion eingesetzt werden. Dies beinhaltet, dass die Spiele absichtsvoll einen Lernvorgang auslösen oder beeinflussen (vgl. Edelmann & Wittmann 2012) und somit über den reinen Unterhaltungseffekt hinausgehen sollen (vgl. Nebel et al. 2016). Der Erfolg digitaler Lernspiele ist durch zahlreiche Fallberichte belegt, wie sie häufig im Bereich der Pädagogik oder der Informatik zu finden sind (vgl. Bayliss 2012; vgl. Jakoš & Verber 2017; vgl. Nebel, Schneider & Rey 2016a). Aber auch in vergleichenden Studien – schwerpunktmäßig im Bereich der pädagogischen Psychologie – lassen sich Belege für die Lernförderlichkeit digitaler Lernspiele finden. In Metaanalysen, das heißt zusammenfassenden Analyse einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen, konnten überwiegend positive Effekte von digitalen Lernspielen auf die Lernleistung gezeigt werden (vgl. Clark, Tanner-Smith & Killingsworth 2016; vgl. Sitzmann 2011; vgl. Wouters et al. 2013). Allerdings schwanken die Ergebnisse erheblich und sind von zahlreichen moderierenden Faktoren (das heißt Einflüsse, die den grundsätzlichen Effekt verändern) abhängig. Es zeigen sich deutliche Unterschiede, je nachdem wie das Lernspiel gestaltet ist und in welchem Kontext es eingesetzt wird. So kann der Lernerfolg durch weitere begleitende Hilfestellungen signifikant erhöht werden (vgl. Clark, Tanner-Smith & Killingsworth 2016). Im Gegensatz dazu kann es bei einigen Spielmechaniken zu einer Verschlechterung der Lernleistung kommen (vgl. Nebel, Schneider & Rey 2016b).

Erforschung digitaler Lernspiele

Solche Erkenntnisse werden idealerweise dadurch gewonnen, dass Spiele mit einer bestimmten Eigenschaft in kontrollierten Experimenten mit Videospielen ohne diese verglichen werden. ForscherInnen könnten beispielsweise ein Lernspiel, das eine Narration beinhaltet, mit einer Version ohne dieses Spielelement vergleichen. Im Gegensatz zu Studien, die eine grundsätzliche Eignung einzelner digitaler Lernspiele zeigen (vgl. Jay et al. 2019; vgl. Ninaus et al. 2017), sind solche spezifischen Untersuchungen jedoch noch unzureichend vorhanden (vgl. Ke 2016). Die Forschung ist noch weit von einer belastbaren Einschätzung vieler Spielbestandteile wie Spielmechanik, Ton, Narration, Kooperation, Grafik und so weiter entfernt.

Abb. 1: Farbliche Signalisierung im Lernkontext und im Spielkontext. (© Gray & Lewis 1918 (links); Screenshot aus Mirror’s Edge, DICE 2008, GameStar 2009 (rechts))

Warum es noch derart erhebliche Forschungslücken gibt, kann durch einen Vergleich mit anderen Bildungsmedien und Gestaltungseffekten erklärt werden. Im Bereich des Lernens mit multimedialen Lehr- und Lernmaterialien wird beispielweise der Effekt der Signalisierung (vgl. van Gog 2014) untersucht. Dieser beschreibt, dass es lernförderlich sein kann, Hinweiselemente zu nutzen, um die Aufmerksamkeit der Lernenden auf wichtige Teile des Materials oder dessen Struktur zu lenken. Zu diesem Zweck können beispielsweise Pfeile, Unterstreichungen oder farbliche Hervorhebungen genutzt werden. Dieser Gestaltungsansatz ist selbstverständlich kein Prinzip, das erst seit der Erforschung von multimedialen Lernmaterialien existiert, jedoch dauert die Untersuchung dieser vermeintlich einfachen Gestaltungselemente bis heute an. So umfassen Metaanalysen über einhundert experimentelle Studien, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dieser Thematik beschäftigten (vgl. Richter, Scheiter & Eitel 2016; vgl. Schneider et al. 2018). Wenn grundlegende Gestaltungsprinzipien noch aktiv beforscht werden müssen, dann überrascht es nicht, dass die Erforschung der vergleichsweise jungen digitalen Lernspiele insgesamt noch nicht weit fortgeschritten ist.

Herausforderungen der Erforschung digitaler Lernspiele

Untersuchen Forschende ein Lernmedium, versuchen sie, Form, Funktion oder Inhalt systematisch so zu manipulieren, dass lernförderliche Variationen gefunden werden können. Eine Signalisierung durch die farbliche Markierung eines Lernelements verändert beispielsweise die Form und die Funktion des Lernmaterials, je nachdem, ob die Hervorhebung das Material strukturiert oder einzelne Inhalte betont. Naturgemäß sind je nach Lehrmedium die Möglichkeiten für solche Manipulationen begrenzt, was den notwendigen Umfang der Forschung limitiert. Eine Eigenschaft, die zu den großen Stärken digitaler Lernspiele gehört, aber gleichzeitig zur großen Herausforderung der Erforschung digitaler Lernspiele beiträgt, ist allerdings deren Vielseitigkeit. Denn grundsätzlich sind Spiele kein klassisches Medium wie Zeitungen, Bücher oder Filme, sondern werden unter anderem definiert als regelbasierte Systeme, mit denen die SpielerInnen interagieren können (vgl. Juul 2003; vgl. Salen, Tekinbaş & Zimmerman 2004). Diese Systeme können dabei verschiedene Medien beinhalten, die auf unterschiedliche Art und Weise interagieren. Im analogen Spiel werden Texte (beispielsweise Spielbücher), Bilder (beispielsweise Memory) oder haptische Objekte (beispielsweise Würfel) genutzt. Dem grundlegenden Forschungsansatz folgend sollten all die einzelnen Elemente hinsichtlich Form, Funktion und Inhalt untersucht werden: Wie müssen Texte geschrieben werden? Wie sollten Bilder oder Objekte gestaltet werden? Die Instruktionspsychologie bietet hier bereits relevante Ergebnisse, auch wenn diese meist nicht im Kontext von Spielen gewonnen wurden. Texte könnten beispielsweise durch Personalisierung (vgl. Mayer 2014; vgl. Schrader, Reichelt & Zander 2018) mit direkter oder informeller Sprache verbessert werden. Bilder können hinsichtlich ihres emotionalen Gehalts (vgl. Brom, Stárková & D’Mello 2018) oder des dargestellten Lernbezuges (vgl. Schneider, Nebel & Rey 2016) optimiert werden. Selbst die Eigenschaften physikalischer Objekte werden untersucht (vgl. Alban & Kelley 2013; vgl. Skulmowski et al. 2016). In Lernspielen müssen all diese Einzelbetrachtungen zusammengeführt und in einen neuen Kontext gesetzt werden. Forschung zu digitalen Spielen ist deshalb erheblich aufwendiger als diejenige zu den jeweiligen Einzelmedien.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die Erkenntnisse der Lernforschung auf vergleichbare Elemente im Videospiel übertragen lassen oder ob durch das Zusammenwirken abweichende oder gar gegensätzliche Effekte entstehen. Hierzu gibt es bereits theoretische Überlegungen (vgl. Plass, Homer & Kinzer 2015). Jedoch ist die empirische Überprüfung häufig noch unzureichend oder ausstehend, dies lässt sich am Beispiel von Instruktionen zeigen. So wird in der Motivations- und Instruktionspsychologie untersucht, wie Aufgabenstellungen zu gestalten sind. Dabei gibt es theoretische Modelle, die verschiedene Zielvorgaben als lernförderlich postulieren, und zahlreiche experimentelle Untersuchungen, die etwaige Effekte nachweisen (vgl. Locke & Latham 2002; vgl. Wirth, Künsting & Leutner 2009). Arbeiten, die Erkenntnisse bezüglich anderer Medien auf den digitalen Lernspielkontext anwenden, liefern keine einheitlichen Ergebnisse (vgl. Erhel & Jamet 2019; vgl. Nebel et al. 2017). Es wird der große Schritt von den bisher beforschten Lehrinstruktionen wie "Berechne den Winkel α im folgenden Dreieck" zu den komplexen, aus vielen Einzelfacetten bestehenden digitalen Lernspielen deutlich.

Naturgemäß teilt sich das Forschungsfeld der digitalen Lernspiele viele Herausforderungen mit dem Bereich der Videospielforschung (eine Einführung liefert Etchells 2019) und häufig müssen standardisierte Messinstrumente erst noch entwickelt werden. Besonders beim Blick auf die komplexen Abläufe der Mediennutzung und auf deren langfristige Auswirkungen besteht substanzieller Forschungsbedarf. Zudem muss die Theorieentwicklung weiter vorangetrieben werden, um eine solide Basis für weitere Forschung zu gewährleisten. Diese Prozesse werden bereits in der Forschung angegangen, sind aber noch lange nicht abgeschlossen, vergleichbar mit der Erforschung von Gewalt in Videospielen.

Forschungsperspektiven für digitale Lernspiele

Die bisherigen Ausführungen bedienen sich einer Forschungsperspektive, die mögliche Auswirkungen des Lehrens und Lernens mit digitalen Lernspielen meist mit ähnlichen Instrumenten erfasst, wie sie bereits bei anderen Lehrmedien Verwendung finden. Lernergebnisse, die über die Möglichkeiten anderer Bildungsmedien hinausgehen oder bisher seltener untersucht wurden, kommen bei einer solchen Betrachtung zu kurz. Könnten Lernspiele Inhalte vermitteln, die möglicherweise mit anderen Medientypen nicht oder nur schlecht realisiert werden konnten? Welcher Lernerfolg kann beispielsweise durch das Spielen eines Zivilisten oder einer Zivilistin in einem Kriegsgebiet (vgl. 11 Bit Studios 2014) oder durch das Simulieren der Pflege eines Kindes Interner Link: des nationalsozialistischen Lebensborn-Projektes (vgl. Teknopilot & Sarepta Studios 2018) vermittelt werden?

Abb. 2: Welche Lernerfolge es bei digitalen Spielen zu ernsten Themen gibt, ist noch unzureichend erforscht. (© Screenshots aus "This War of Mine" (links, 11 Bit Studios 2014) und "My Child Lebensborn" (rechts, Teknopilot & Sarepta Studios 2018))

Hier wird die Forschung aktuell nur punktuell vorangetrieben. Motiviert durch die Vermutung, dass Videospiele einen besonderen Einfluss auf Gehirnfunktionen haben, gibt es Forschungen, die Veränderungen in kognitiven Lernprozessen beleuchten (vgl. Homer et al. 2018; vgl. Schenk, Lech & Suchan 2017). Auch einzelne Interessensgruppen (etwa aus der Wirtschaft) treiben selektiv Themengebiete voran. So gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die eine Verbesserung beschäftigungsrelevanter Soft Skills untersuchen (beispielsweise Lane et al. 2013; Qian & Clark 2016) oder eine Anwendung in der Medizin erproben (beispielsweise Cole, Yoo & Knutson 2012; Kato et al. 2008). Diese vereinzelte Schwerpunktsetzung wird dem Thema "digitale Lernspiele" nicht in vollem Umfang gerecht und ein beträchtlicher Anteil der Möglichkeiten bleibt noch unzureichend erforscht.

Große Lücken, größere Möglichkeiten

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die verfügbaren Forschungsergebnisse den gesellschaftlichen Bedarf an verlässlichen Erkenntnissen nicht decken. Aufgrund der relativen Neuartigkeit und Vielseitigkeit des Lernmaterials sowie der schwierigen Übertragbarkeit bisheriger Forschungserkenntnisse können EntwicklerInnen ebenso wie AnwenderInnen noch nicht gesichert wissen, wie ein gutes Lernspiel gestaltet werden soll und woran man ein solches erkennt. Bis die Grundlagenforschung den beschriebenen Rückstand aufgeholt hat, können zunächst nur Fallberichte und Metaanalysen die Wissenslücken überbrücken. Deren methodische Einschränkungen nicht nur allmählich zu beseitigen, sondern auch bis dahin verständlich zu kommunizieren, gehört dabei zu den anspruchsvollen Aufgaben der beteiligten WissenschaftlerInnen. Dies erfordert viel Sorgfalt, insbesondere im Lichte einer teils etablierten Hysterie oder Naivität gegenüber dem Medium und der möglichen Überinterpretation einzelner Studienresultate im heterogenen Forschungsfeld. Die Herkulesaufgabe der Erforschung des komplexen Forschungsobjektes digitales Lernspiel sollte trotz aller Unwägbarkeiten aber nicht die Freude über das erkennbare Potenzial schmälern. Ganz im Gegenteil, es gilt, den Enthusiasmus von AnwenderInnen und ForscherInnen in detaillierte Untersuchungen zu investieren, damit verlässliche Fakten geschaffen werden, die den Lehrenden und Lernenden die Informationen an die Hand geben, die sie bei der Arbeit mit digitalen Lernspielen benötigen.

Quellen / Literatur

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Fussnoten

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