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Digitale Spiele, Geschichte und Erinnerungskultur

Dr. Nico Nolden

/ 13 Minuten zu lesen

Geschichte in digitalen Spielen besitzt erhebliche Relevanz für die Erinnerungskultur, denn weite Teile der Bevölkerung spielen historische Szenarien. Um deren Bedeutung für die Gegenwart zu verstehen, müssen Spielende die Funktionsweisen der Inszenierungen entschlüsseln können. Sie dazu zu ermächtigen, bildet einen wichtigen Baustein historisch-politischer Bildung. Dieser Beitrag beleuchtet deswegen Beispiele für solche historischen Inszenierungen sowie die Defizite im Umgang mit ihnen, zeigt die Bedeutung von Multiplayerspielen und nennt Lösungsstrategien.

Im Onlinerollenspiel „The Secret World“ begegnen Spielende einem hölzernen Wagen, der historische Erinnerungen durch Volkssagen speichert. (© Eigener Screenshot / The Secret World / PC)

Digitale Spiele: Facetten der Erinnerungskultur

Geschichte ist allgegenwärtig in digitalen Spielen. Historische Themen aller Epochen finden sich in jeder Spielform von Strategiespielen über Shooter bis hin zu Rätselabenteuern. Längst nicht mehr nur eine Aktivität für Kinder oder Jugendliche spielen sie alle Altersgruppen. Mit verschiedenen Zugangswegen von Konsolen bis Smartphones erreichen sie alle sozialen Schichten. Weltweit tragen Kulturen aller Kontinente zudem aus ihrer regionalen Geschichte immer neue Schwerpunkte bei. Wenn sich historische Themen auch ständig wandeln, bilden sie doch kontinuierlich ein bedeutendes Marktsegment. Auch zur deutschen Geschichte bietet ihre Vielfalt faszinierende Zugänge, die Darstellungen besitzen aber auch einige Probleme.

Dem Seehandel während des europäischen Kolonialismus und Imperialismus widmet sich etwa „Anno 1800“ (Ubisoft, 2019). Es stammt aus einer Reihe von Aufbaustrategiespielen, deren lange Tradition in der Spielekultur vor mehr als zwanzig Jahren begann. Die Presse bewertete es als einen der beiden besten Teile (Klinge 2019). Allerdings spart das Spiel dabei viele Schattenseiten kolonialer Handelsimperien aus (Nolden 2018a; Schott 2018): Eurozentristisch ignoriert „Anno 1800“ die Sicht der Kolonisierten, die für die gehandelten Waren unterworfen und ausgebeutet wurden. Ihre Kulturgüter zu rauben, implementiert „Anno 1800“ als gewinnbringende Spielmechanik, da die Gegenstände in den Heimathäfen Handelsvorteile und Ansehen verschaffen. Sogar die häufig erzwungenen Ehen zwischen Seeleuten und Indigenen deutet das Spiel in Abenteuersequenzen zu romantischen Liebeleien um.

Bemerkenswert doppelbödig thematisiert zwar das überseeische Inselidyll von „Anno 1800“ persönliche und wirtschaftliche Nöte von Arbeitskräften, kaschiert aber die Rolle der kolonialen Fremdherrschaft dabei. (© Eigener Screenshot / Anno 1800 / PC)

Kontrovers diskutiert wurde auch das überholte Mittelalterbild im tschechischen Rollenspiel „Kingdom Come: Deliverance“ (Warhorse Studios, 2018). Als überzeugendes Rollenspiel mit beeindruckend detailreicher Inszenierung Böhmens um das Jahr 1403 erhielt es von der Spielepresse viel Lob (Halley 2018). Kritik entzündete sich zunächst an rechtspopulistischen Äußerungen des Chefentwicklers Daniel Vávra (Heinemann 2018; Klinge & Schneider 2018). Dessen Weltanschauung schlug sich in bedenklichen nationalistischen Vorstellungen, einem rückwärtsgewandten Frauenbild und Ressentiments gegen alles Fremde auf das spätmittelalterliche Geschichtsbild nieder (Sigl 2018; Brandenburg et al. 2019).

Beide Beispiele unterstreichen, wie leicht solche Fehldeutungen die historischen Inszenierungen in digitalen Spielen in rassistische und geschichtsrevisionistische Bahnen lenken können. Gerade weil aber solche historischen Inszenierungen eine Vielzahl von Menschen faszinieren, bieten sie lohnenswerte Hebel für die historisch-politische Bildung, um mit gezielten Angeboten daran anzuknüpfen. Dabei müssen Spielende eigenständig die Funktionsweise der historischen Inszenierungen erkennen und deren Relevanz für die Gegenwart entschlüsseln können. Denn erst durch den Akt des Spielens fügen sie ihre individuelle Interpretation aus historischen Bestandteilen eines Spieles zusammen. Deshalb müssen sie über die Eigenarten digitaler Spiele als Medium aufgeklärt werden – und darüber, was daraus für den Umgang mit historischen Inhalten folgt. Sie mediendidaktisch und geschichtsmethodisch zur Selbstreflexion zu ermächtigen, bildet einen wichtigen Baustein für die historisch-politische Bildung (bpb 2011).

Die einleitenden Beispiele unterstrichen, wie bedeutend die inszenierte Geschichte digitaler Spiele für historische Erinnerungskulturen ist. Exemplarisch beleuchtet der folgende Abschnitt, wie sie den Zweiten Weltkrieg inszenieren, wo die Defizite dabei liegen und was den gesellschaftlichen Umgang damit kennzeichnet. Historische Vorstellungen erwachsen zudem nicht allein aus der Wahrnehmung von Geschichtsbildern, wenn digitale Spiele individuell genutzt werden. Vielmehr spielt die Kommunikation unter Spielenden eine wichtige Rolle. Wie sie zu einem erinnerungskulturellen Austausch führt, teils weltweit, erläutert daher der dritte Abschnitt. Auf dieser Basis schlägt dieser Beitrag schließlich Lösungsansätze für einen adäquaten Umgang von Akteurinnen und Akteuren der historisch-politischen Bildung mit einer Erinnerungskultur bei digitalen Spielen vor.

Lücken in der Deckung: Wie digitale Spiele mit dem Zweiten Weltkrieg umgehen

Sehr beliebt als Szenario ist die Epoche der Weltkriege. Eine große Bandbreite an digitalen Spielen thematisiert den Zweiten Weltkrieg – vom Adventure über Open-World-Spiele bis hin zu Multiplayer-Online-Games, von Shootern bis hin zu Strategiespielen (Nolden 2020a, S. 20; „Undercover“ [dtp, 2006]; „The Saboteur“ [Electronic Arts, 2009]; „World of Tanks“ [Wargaming.net, 2010]; „Battlefield V“ [Electronic Arts, 2018]; „Company of Heroes 2“ [Sega, 2013]). Manche Entwicklerinnen und Entwickler gehen dabei durchaus akribisch wie beispielsweise bei der Reihe „Brothers in Arms“ (Ubisoft, 2005–2008) vor. Sie inszeniert taktische Gefechte mit zwei Trupps im Deckungssystem auf historischem Gelände, das aus Luftbildern und Fotografien rekonstruiert ist (Schüler, Schmitz & Lehmann 2012). Für das Entwicklerstudio des Strategiespiels „Company of Heroes 2“ führte die historische Sorgfalt sogar beinahe zu einem Verkaufsverbot in Russland (Campbell 2013). Dass ihr Spiel stalinistische Verbrechen zutreffend darstellte, kollidierte mit einer jüngeren russisch-nationalistischen Erinnerungskultur, die vom Kreml angetrieben wird (Kurilla 2019). Die Gamesbranche arbeitet oft wesentlich akribischer, als ihr gemeinhin zugetraut wird.

Auch bei Shootern bemühen Entwicklerinnen und Entwickler sich zunehmend, historisch genauer zu inszenieren. 2017 überarbeitete Activision das ursprüngliche „Call of Duty“ von 2003. Der neu aufgelegte Weltkriegsshooter „Call of Duty: WWII“ (Activision, 2017) scheiterte jedoch daran, eine traditionelle Kundschaft zu befriedigen, die sich eine dem Original entsprechende Spielerfahrung erhoffte, und zugleich einer Spielkultur zu genügen, deren Ansprüche an die spielerische Aufbereitung von historischen Inhalten sich weiterentwickelt hatten. Auch die Kampagne der Neuauflage bediente den Mythos der „Greatest Generation“, mit dem sich die US-amerikanische Gesellschaft vor allem seit dem verlorenen Vietnamkrieg rückversichert, wie außergewöhnlich die militärischen Leistungen im Zweiten Weltkrieg gewesen seien (Rose 2008). Dramatisierte Heldengeschichten überbetonten die Rolle der US-Armee zulasten der Leistungen anderer Alliierter. Selbst die vollmundige Ankündigung, den Holocaust zu thematisieren, geriet im Spiel nur noch zu einer Andeutung (Zsolt 2017). Zwar befreien die Protagonisten einen ihrer Kameraden aus dem Vernichtungslager Berga an der Elster, da es sich jedoch um ein Kriegsgefangenenlager handelt, erscheinen die Ereignisse als Gräuel unter Kombattanten und nicht gegenüber Zivilisten. Zudem wird der Gefangene in der Kampagne weniger aufgrund seiner jüdischen Identität dorthin verbracht, sondern als amerikanischer Soldat. Da viele Dimensionen der Verbrechen gegen Zivilistinnen und Zivilisten sowie die Vielfalt der betroffenen Gruppen von politischen Gefangenen über Homosexuelle bis hin zu Sinti und Roma fehlen, bleibt die historische Einordnung oberflächlich. Auch der Multiplayermodus offenbart geschichtliche Probleme. Zwar können Spielende hier auch andere Alliierte wie sowjetische Soldaten oder Kämpfer der französischen Résistance verkörpern. Dass aufseiten der Achsenmächte Soldaten der Wehrmacht spielbar sind, begründete Studiochef Glen Schofield damit, in Deutschland würden Soldaten der Wehrmacht eindeutig von Nazis der Waffen-SS unterschieden (Campbell 2017).

„The big distinction that Germans still make today is that between the German military and the Nazis. We made sure we made that distinction in the game, that the Germans were doing their duty.“ Glen Schofield, Studiochef von Activision

Spätestens in den neunziger Jahren aber arbeitete die Interner Link: Wehrmachtsausstellung öffentlichkeitswirksam eine Vielzahl dokumentierter Gräueltaten auf, die den Mythos einer redlichen Pflichterfüllung regulärer Verbände widerlegte (Musial 2011; bpb 2017). Schofields Haltung verzerrt also im Multiplayermodus gefährlich apologetisch und revisionistisch die historischen Tatsachen.

Andere Studios streben danach, sich bei historischen Fragen am Forschungsstand zu orientieren, überblicken aber Spannungen zwischen der spielmechanischen Anlage und den Anforderungen des historischen Inhalts nicht. Im Mehrspieler-Kriegs-Shooter „Battlefield V“ (Electronic Arts, 2018) inszenierte die Mission „Der letzte Tiger“ den aussichtslosen Widerstand einer Panzerbesatzung in den letzten Kriegswochen (EA & DICE 2018). Durch zerstörte Straßenzüge rollte die Mannschaft in einem der letzten funktionsfähigen Panzer der Rheinverteidigung entgegen. Der Kommandant gibt sich willensstark, aber zermürbt, sein Fahrer resigniert und ist kampfesmüde. Verblendet vom Regime, empört sich ein junger Rekrut im Trupp über einen mangelnden Durchhaltewillen im Volk. Beklemmende Filmsequenzen zeigen den Irrsinn der letzten Kriegswochen, in denen selbst desertierte Teenager an Laternenmasten erhängt werden. Frappierend im Gegensatz zu dieser ausweglosen und verzweifelten Atmosphäre steht allerdings die Inszenierung des Panzers, sobald die Spielenden ihn eigenhändig lenken. In brachialen Gefechten überwinden sie mit ihm eine Übermacht von Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen, überstehen sogar Luftangriffe und Artilleriebeschuss. Die Dissonanz zwischen der historischen Rahmung und der Spielmechanik ist daher erheblich.

Ohne weiter eingeordnet zu werden, wirbt etwa in „Battlefield V“ ein Einzeiler für die Aufopferung deutscher Soldaten für das Deutsche Reich, wenn man eine optionale Uniform freischalten will. (© Eigener Screenshot / Battlefield V / PC)

Offenbar fällt es Entwicklerstudios schwer, sich jenseits von Kriegsgerät und Kampfhandlungen tiefer in die historischen Zusammenhänge beider Weltkriege hineinzudenken. Ebenso wichtig wie die gezeigten Bestandteile ist das, was sie dabei aussparen. Weithin tabuisiert wird in digitalen Spielen etwa der Holocaust (Pfister 2016, S. 253–258). Bemerkenswert greift ihn „Wolfenstein: The New Order“ (Bethesda Softworks, 2014) auf, in dessen fiktivem Szenario die Nazis den Weltkrieg gewonnen haben. Ihr Terrorregime überzieht in den sechziger Jahren weite Teile der Welt. Derart alternativhistorisch verfremdet, wagt es der Shooter, historische Erinnerungssymbole zu integrieren. Hölzerne Viehwaggons deportieren die Hauptfigur mit anderen Gefangenen in ein Vernichtungslager, an Rampen werden sie selektiert und in bereits überfüllte Baracken gezwängt. Im Lager wird der Protagonist Zeuge von Zwangsarbeit, willkürlicher Tötung und medizinischen Experimenten. Über der Lagerszenerie erinnert düsterer Rauch aus Schloten an die Brennkammern von Vernichtungslagern. Erneut stößt diese Inszenierung aber an die Grenzen der Spielmechanik, führt doch die Hauptfigur später tatkräftig einen Aufstand herbei und ist dem Lagergeschehen nicht wehrlos ausgeliefert (Pfister 2016, S. 258).

Durch die Folgen eines Komas sieht die Hauptfigur hilflos mit an, wie Soldaten des Naziregimes die Patienten eines Sanatoriums verschleppen und töten. (© Eigener Screenshot / Wolfenstein: The New Order / PC)

Mag die Umsetzung solcher historischer Aspekte auch schwierig sein, wiegen die Folgen umso schwerer, sie auszusparen. Den Blick auf den Zweiten Weltkrieg beschränken Strategiespiele auf das Schlachtfeld und Armeen. Sie stellen die Gegner zugunsten der spielmechanischen Balance militärisch gleichwertig dar. Diese Grundhaltung prägt das Angebot schon lange – von „Company of Heroes“ (THQ, 2006) über „War Leaders: Clash of Nations“ (Virgin Play, 2009) und „Hearts of Iron IV“ (Paradox Interactive, 2016) bis hin zu „Steel Division: Normandy 44“ (Paradox Interactive, 2017). Die Wehrmacht war jedoch nicht eine Armee wie jede andere, sondern als ideologische Säule eines totalitären Gesellschaftssystems tief in die politischen und ökonomischen Machenschaften des Regimes verstrickt. Diese politische Dimension unterscheidet sie deshalb elementar von den westlichen alliierten Streitkräften, hinter denen freiheitliche Demokratien standen. Weil sie diese diametralen Voraussetzungen nivellieren, neigen die Spiele dazu, Soldaten und die Führung der Wehrmacht zum Beispiel in Kampagnen erscheinen zu lassen, als hätten sie dem Regime kritisch gegenübergestanden.

Unter Gleichen? In der Mission „Schweres Wasser“ rechtfertigt ein deutscher Kommandeur das Atomwaffenprogramm mit den nuklearen Fortschritten der Alliierten. (© Eigener Screenshot / Battlefield V / PC)

Erinnerungskulturelle Implikationen entstehen zum einen durch Geschriebenes, Erzählungen oder filmische Zwischensequenzen, aber zum anderen auch dadurch, wie die Spielmechanik angelegt ist, durch veränderliche Datenbanken, die historisches Wissen verwalten, und das eigenständige Spielerhandeln. Somit muss die Forschung die spezifischen Eigenschaften des Mediums besser verstehen (Medialität), die Anlage der Systeme um das Spielerhandeln (Performativität) sowie die Anker, durch die Spielende die historischen Informationen für glaubwürdig erachten (Authentizität) (Nolden, 2020a, S. 321 f.). Als authentisch wird historisches Wissen dabei nicht nur durch Objekte und Materialien verankert, sondern auch durch vernetzte Erzählungen auf verzweigten Pfaden, historische Modelle – beispielsweise von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft – sowie akribisch nachgebaute Landstriche mit lebendig inszenierter Alltagsgeschichte (ebd., S. 73, 333).

Multiplayer: Kommunikation von Geschichtsvorstellungen

Digitale Spiele erschaffen Experimentierräume für kulturelle Vorstellungen, über welche die Spielenden kommunizieren. Wie sie Geschichte aus deutscher, europäischer und globaler Perspektive thematisieren, transportiert daher Geschichtsbilder in weitere gesellschaftliche Erinnerungskulturen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer brachte diese Zusammenhänge nach dem rechtsextremen Attentat von Halle 2019 auf die politische Agenda, selbst wenn er die Ursachen vereinfachend in „der Gamerszene“ verortete (him & dpa 2019; TSP & dpa 2019). Allerdings wehrte der Branchenverband game die Kritik auch zu pauschal ab (game 2019). Auch wenn natürlich nicht alle Spielenden faschistische, rassistische und frauenfeindliche Haltungen vertreten, breiten sich dennoch Missstände in digitalen Communitys aus: Konfliktscheue Unternehmen wie Valve lassen auf der Plattform Steam verfassungs- und menschenfeindliche Gemeinschaften gewähren (Huberts 2018). Radikale erschaffen gezielt auf Spieleservern ihr faschistisches Utopia (Schott 2017). Manche Spielende richten sich gegen Frauen, Minderheiten und eine belächelte Political Correctness in einem Aktivismus, der sich seit dem Ereignis Interner Link: GamerGate immer stärker um digitale Spiele organisiert (Graf 2014; Chess & Shaw 2016). Höchst toxisch überschreit dieser Teil der Community sachliche Diskurse und radikalisiert sich zusehends (Strobel 2019).

Dass diese Gemeinschaften unbehelligt bleiben, liegt auch am Image von digitalen Spielen als vermeintliches Kinderspielzeug, dem man lange jede kulturelle Gestaltungskraft absprach. Noch fehlt es an Strategien, um den historisch-politischen Fehlentwicklungen in solchen Communitys aktiv zu begegnen und Alternativen anzubieten. Soziopsychologische Studien wären dringend notwendig, um eine verlässliche Datenbasis über das Phänomen zu gewinnen. Auch die Geschichtswissenschaft entwickelt nur zögerlich Instrumente und Methoden, um Vorstellungen und Verhalten von Rezipientinnen und Rezipienten besser zu erschließen (Giere 2019).

Betrachtet man Spielende in ihren Communitys genauer, finden sich – ähnlich wie zu Filmen oder Büchern – durchaus intelligente und differenzierte Diskurse (Nolden 2014). Mithilfe dieser Communitys ließe sich ein historisch und politisch reflektiertes Klima fördern. Erinnerungskulturell sind dafür Online-Multiplayer-Spiele besonders interessant. Im offiziellen Forum des Multiplayershooters „Battlefield 4“ (Electronic Arts, 2013) diskutierten Spielende, wie plausibel das Szenario eines Konfliktes zwischen China, Russland und den USA wäre (tracksuitmarklar, 2014). Im Forum von „War Thunder“ (Gaijin Entertainment, 2013) tauschten Spielende Bilder und Informationen zum Zweiten Weltkrieg aus. Zwar eskalierte dieser Thread regelmäßig durch Störerinnen und Störer, umso bemerkenswerter bleibt, dass stets der gesittete Austausch wiederkehrte (Tsunderer2K 2014).

Communitys kommen direkt in Onlinespielen wie an diesem Kreuzweg zusammen, kommunizieren und organisieren sich aber auch außerhalb in Foren und sozialen Netzwerken. (© Eigener Screenshot / The Secret World / PC)

Über einen Zeitraum von zehn Jahren lässt sich für das Onlinerollenspiel „The Secret World“ (Electronic Arts, 2012) nachweisen, dass Spielende über diverse geschichtliche Aspekte des Spiels kommunizierten (Nolden, 2020a, S. 541 f.). Sie tauschten sich über historisch belegte und mythische Gegenstände aus, über den vernetzten, multiperspektivischen Charakter der Erzählungen, zu makrohistorischen Modellen von Gesellschaft oder Wissenschaft und diskutierten die Plausibilität der lokalen Alltagsumgebungen. Ihre Beiträge verknüpften sie mit Geschichtsbildern und eigenen Erfahrungen. Dabei verwiesen sie als Belege für ihre Äußerungen auf Fachliteratur und Belletristik, dokumentarische und Spielfilme sowie Webseiten, sogar Theater und eine Oper. Teils unterhielten sie sich über die Bedeutung der historischen Spielbestandteile über Monate. Diese Verständigung über geschichtliche Elemente trägt zu Erinnerungskulturen um digitale Spiele bei. Dabei lassen sich bemerkenswerte Anfänge finden, dass sich diese Erinnerungskulturen globalisieren (Nolden 2018b): Das Spiel beinhaltet verschiedenste historische Epochen und weltweit unterschiedliche Perspektiven auf viele Schauplätze dieser Welt. Die gemeinsame technische Basis aber vernetzt die Spielerinnen und Spieler rund um den Globus.

Erinnern spielen: Lösungsansätze

Empfehlungen werden also dringend benötigt, wie grundsätzlich besser mit Geschichte in digitalen Spielen umzugehen ist. Spielende dazu zu ermächtigen, historische Inszenierungen und ihre Auswirkungen auf Geschichtsbilder zu dekonstruieren, formuliert einen Auftrag an schulische und politische Bildung. Um zielgerichtet erinnerungskulturell reflektierte Kreise anzusprechen und Strategien gegen unbewusst verzerrte oder bewusst verfälschende Geschichtsbilder abzustimmen, sind kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen nötig: kurzfristig mit digitalen Spielen zugewandter umzugehen, mittelfristig mit Entwicklerinnen und Entwicklern zu kooperieren und die geschichtswissenschaftliche Fähigkeit zur Rezension zu verbessern, langfristig die akademische und schulische Ausbildung zu verändern.

Dass die kulturelle Kraft digitaler Spiele geringgeschätzt wird, liegt vor allem an einem Unverständnis gegenüber ihren Funktionsweisen und Eigenschaften. Sich ihnen aufgeschlossener zuzuwenden, ermöglicht innovative neue Ansätze für historische Themen und hebt dadurch auch für das Medium kreatives Potenzial. Dass digitale Spiele etwa nicht die Naziherrschaft thematisieren dürften, begründen Kritiker in der Regel moralisch (Pfister 2016, S. 254). So wird aber auch der reflektierte Umgang mit diesen Themen tabuisiert, wodurch die Deutungshoheit rassistisch oder verfassungsfeindlich denkenden Menschen überlassen wird. Sie nutzen digitale Spiele wie den „KZ-Manager“ schon seit den neunziger Jahren für Propaganda (Benz 1996, S. 223–225). Früher offensichtlicher als physische Datenträger getauscht, entziehen sie sich heute der Kontrolle (ebd., S. 227; Meyer 2009; NDR 2014).

Institutionen der historisch-politischen Bildung müssen hierzu Gegenentwürfe anbieten. In Workshopprogrammen könnten historische Themen, methodische Herausforderungen und spielmechanische Lösungswege ausgearbeitet werden. Sie könnten Spielende, Akteurinnen und Akteure in Bildungssektoren sowie Entwicklerinnen und Entwickler zusammenbringen. Darauf aufbauend könnten Game Jams Spielprototypen hervorbringen, die Aspekte der deutschen Geschichte historisch angemessen und dem Medium entsprechend aufbereiten. Setzen Institutionen pointierte Remembrance Games in Anlehnung an Newsgames ein, zum Beispiel anlässlich von Jahrestagen, verschaffen sie dem Gedenken auf innovative Weise Aufmerksamkeit.

Auf diesen Wegen sensibilisiert, bieten historische Settings für Entwicklerinnen und Entwickler auch wirtschaftliche Chancen. Im ausufernden Angebot können ihre Spiele besser Aufmerksamkeit durch spielmechanisch innovative Ideen erregen, wenn sie sich über historische Inhalte aufklären und methodische Zwänge der Geschichtswissenschaft erkennen. Die politische Bildungsarbeit und die Geschichtswissenschaft sollten sie dabei konstruktiv unterstützen und sich stärker von traditionellen Aufbereitungsformen lösen. So nutzt etwa die interaktive Dokumentation „Attentat 1942“ (Charles University, 2017), die klug den tschechischen Widerstand gegen das Dritte Reich nahebringt, noch wenig die eigentlichen Qualitäten des Mediums (Šisler 2016). Sie liegen in der selbstgesteuerten Spielerfahrung innerhalb eines Möglichkeitenraumes, dessen prozedurale Regeln die Konsequenzen von Handlungen zurückmelden. Solchen historisch gelungenen Projekten, die zugleich vollwertige Spiele sind, sollte daher mehr Aufmerksamkeit zukommen. Überzeugend verschafft „Through the Darkest of Times“ (HandyGames, 2020) mithilfe der Stilmittel eines Strategiespiels einen Eindruck davon, wie durchschnittliche Menschen eine Widerstandszelle gegen das Naziregime bilden und sich mit beschränkten Mitteln dem wachsenden Druck des Terrorregimes entgegenstellen, ohne dass sie dagegen siegen könnten. Ob die Aktionen der Gruppe gelingen, hängt von den Eigenschaften der Individuen ab, aber auch von ihrem sozialen und politischen Milieu. Da die Gruppe zu Beginn des Spiels zufällig zusammenkommt, verläuft jedes Spiel einzigartig.

Widerstand zu leisten, ist nicht nur eine gefährliche, sondern auch eine komplexe Aufgabe. Eine koordinierte Aktion, wie etwa für einen Angriff ein Gewehr zu beschaffen, setzt viele heimliche Vorbereitungen voraus. (© Eigener Screenshot / Through the Darkest of Times / PC)

So wie sich Entwicklerinnen und Entwickler darin fortbilden sollten, müssen auch Historikerinnen und Historiker ihre Fähigkeiten verbessern, um digitale Spiele ihren Eigenschaften entsprechend zu rezensieren. Die historischen Themen in digitalen Spielen sind vielfältig, die disziplinären Blickwinkel divers und viele methodische Fragen ungeklärt. Historische Phänomene lassen sich daher nur befriedigend erschließen, wenn Historikerinnen und Historiker ihre jeweiligen Arbeitsschwerpunkte in Netzwerken bündeln und mit Entwicklerinnen und Entwicklern zusammenarbeiten (zum Beispiel AKGWDS 2015).

Als langfristige Maßnahme schließlich müssen Geschichtswissenschaft und Didaktik besser geeignete Fachkräfte ausbilden (Logge & Nolden 2019). Dafür benötigen Studierende und Forschende an den Universitäten zuallererst eine geeignete Infrastruktur, die ihnen digitale Spiele auf einer repräsentativen Auswahl an Spieleplattformen bereitstellt (Konsolen, PC, Handheld und so weiter). Erst dadurch können adäquate methodische Zugriffe auf mediale „Geschichtssorten“ (Logge 2018) direkt in die Ausbildung einfließen. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Studierenden der Geschichte innovative Konzepte engagiert annehmen, um wissenschaftlich innovativ zu analysieren und zu präsentieren (Nolden 2020b). Beispielsweise erstellten sie fachliche Videos und integrierten sie in eine Ausstellung (Kuster et al. 2017). Mit kommerziellen Editorumgebungen erschufen sie eigene Spiele wie die Familiengeschichte „Heimatlos“ (2017), welche die Lage bosnischer Flüchtlinge 1995 auf Wohnschiffen am Hamburger Fischmarkt aufbereitet.

Heimatlos Illegale Geschäfte: Selbst unter den begrenzten Bedingungen nur eines Semesters können Studierende digitale Spiele selbst produzieren. Das Beispiel „Heimatlos“ entstand mit dem „RPG Maker“. (© Eigener Screenshot / Heimatlos / PC)

Um die schulische Bildung zu verbessern, müssen die gewonnenen Erkenntnisse in den Geschichtsunterricht eingehen. Dafür benötigen Lehrende Lehrmaterialien, die ihnen eine Unterrichtsgestaltung ermöglichen, selbst wenn die schulische Technik und die verfügbare Unterrichtszeit je Thema eng begrenzt sind (Giere 2019; TSRC 2019; Aumayr & Preisinger 2020). Um allerdings auch Lehrkräfte zu ermächtigen, Geschichte in digitalen Spielen zu thematisieren, muss bereits das Studium ihnen medienpädagogisch und geschichtsdidaktisch die nötigen Zugänge vermitteln (Nolden 2018c).

Diese kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen verändern die historischen Inszenierungen und die Erinnerungskultur bei digitalen Spielen. Sie regen einen innovativen Einsatz von Geschichte durch Entwicklerinnen und Entwickler an sowie einen klügeren Umgang in der historisch-politischen Bildung. Sie verbessern die Ausbildung an den Hochschulen und die Weiterbildung für die Gamesbranche. Für Spielende versprechen diese Lösungsansätze einen aufgeklärteren Umgang, der sie ermächtigt, die verwendeten Geschichtsbilder besser zu verstehen.

Quellen / Literatur

Spiele:

Anno 1800 (Ubisoft Mainz / Ubisoft) 2019.

Attentat 1942 (Charles Games / Charles University, Czech Academy of Sciences) 2017.

Battlefield 4 (Digital Illusions Creative Entertainment [DICE] / Electronic Arts) 2013.

Battlefield V (Digital Illusions Creative Entertainment [DICE] / Electronic Arts) 2018.

Brothers in Arms (Gearbox Software LLC / Ubisoft) 2005–2008.

Call of Duty (Infinity Ward / Activision) 2003.

Call of Duty: WWII (Sledgehammer Games / Activision) 2017.

Company of Heroes (Relic Entertainment / THQ) 2006.

Company of Heroes 2 (Relic Entertainment / Sega) 2013.

Hearts of Iron IV (Paradox Development Studio / Paradox Interactive) 2016.

Heimatlos (Manon Burmester, Victor Jacobsen, Pascal Küther, Tobias Reusch, Fabrice Röseler, Marc-Louis Stuart-Fairweather, Niels Zepp) 2017.

Kingdom Come: Deliverance (Warhorse Studios / Warhorse Studios) 2018.

Steel Division: Normandy 44 (Eugen Systems / Paradox Interactive) 2017.

The Saboteur (Pandemic Studios / Electronic Arts) 2009.

The Secret World (FunCom / FunCom; Electronic Arts) 2012 ff.

Through the Darkest of Times (Paintbucket Games / HandyGames) 2020.

Undercover. Operation Wintersonne (Sproing Interactive / dtp entertainment) 2006.

War Leaders: Clash of Nations (Enigma Software / Virgin Play) 2009.

War Thunder (Gaijin Entertainment / Gaijin Entertainment) 2012.

Wolfenstein. The New Order (Machine Games / Bethesda

Quellen

Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS) (2015). Gespielt. Blog des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele. Online: https://gespielt.hypotheses.org/, zuletzt geprüft am 5.12.2020.

Aumayr, F. & Preisinger, A. (2020). Digitale Spiele: Im Geschichtsunterricht und in der Politischen Bildung. Digitales Lernen und Politische Bildung. Wien: Edition Polis.

Benz, W. (1996). KZ-Manager im Kinderzimmer: Rechtsextreme Computerspiele. In: W. Benz (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland: Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen (S. 219–227). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Brandenburg, A., Heinemann, J., Heinze, R., Nolden, N., Pfister, E. & Zimmermann, F. (2019). „Vom rechten Bild des Mittelalters“ – Stimmen aus dem AKGWDS zur Nominierung von „Kingdom Come: Deliverance“ für den Deutschen Computerspielpreis 2019. Gespielt. Blog des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS), 11.3.2019. Online: https://gespielt.hypotheses.org/3071, zuletzt geprüft am 5.12.2020.

Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2011). Über uns: Der Beutelsbacher Konsens, 7.4.2011. Online: https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens, zuletzt geprüft am 5.12.2020.

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Campbell, C. (2017). Call of Duty: WWII will highlight the vulnerability of its heroes: We talk to the makers to find out more details. Polygon, 26.4.2017. Online: https://www.polygon.com/features/2017/4/26/15428192/call-of-duty-wwii-impressions-analysis-preview, zuletzt geprüft am 5.12.2020.

Chess, S. & Shaw, A. (2016). We Are All Fishes Now: DiGRA, Feminism, and GamerGate. In: Transactions of the Digital Games Research Association (ToDiGRA), Volume 2, Issue 2, S. 21–30. Online: http://todigra.org/index.php/todigra/article/view/39, zuletzt geprüft am 5.12.2020.

Electronic Arts (EA) & Digital Illusions Creative Entertainment (DICE) (2018). Battlefield V Update - Chapter 1: Overture / PS4. Kanal PlayStation via Youtube, 5.12.2018. Online: https://youtu.be/AtLWcpDWM9o, zuletzt geprüft am 5.12.2020.

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Giere, D. (2019). Computerspiele – Medienbildung – historisches Lernen: Zu Repräsentation und Rezeption von Geschichte in digitalen Spielen. Forum Historisches Lernen. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag.

Graf, M. (2014). Was ist GamerGate? In: Gamestar, 10, S. 10–18.

Halley, D. (2018). Der Schmale Grat. Kingdom Come: Deliverance. Titelstory. In: Gamestar, 1, S. 24–31.

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him & dpa (2019). Seehofer will Gamerszene stärker beobachten - und erntet Hohn: Nach Attentat in Halle. In: Spiegel online Netzwelt, 13.10.2019. Online: https://www.spiegel.de/netzwelt/games/horst-seehofer-shitstorm-fuer-bemerkung-zur-gamerszene-a-1291347.html, zuletzt geprüft am 5.12.2020.

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Fussnoten

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