Die Vergrößerung der Sichtbarkeit von Geschlechterdiversität ist als Umstrukturierung des öffentlichen Lebens ein langwieriger Prozess. Schließlich geht damit ein gesellschaftlicher Wandel einher, der gewohnte Muster durchbricht und tiefgreifende Konsequenzen für unser Verständnis von Identität mit sich bringt. In den Debatten dazu wird das Geschlechtssystem kritisiert, in welchem männlich und weiblich stets klar voneinander getrennt (binär) und als gegensätzlich angesehen werden (bipolar) (Kiel 2014, S. 19). Dieses System spiegelt sich in den von Gesellschaftsmitgliedern erdachten digitalen Spielen wider: Mann und Frau, stark und schwach, Macht und Ohnmacht werden gegenübergestellt. Zudem stellt die vorherrschende Geschlechterordnung in unserem Alltag eine direkte Verbindung zwischen dem biologischen (engl. sex) und dem sozialen Geschlecht (Gender) her (ebd., S. 16–19). Auf diese Weise wird ein sozialer Konstruktionsprozess in Gang gesetzt, in dem das, was gesellschaftlich als „typisch Frau“ und „typisch Mann“ angesehen wird, kategorisch unterschieden wird. Durch diese strikte Trennung werden geschlechtsübergreifende und -unabhängige Freiheiten unterbunden. Die Gesellschaft setzt ihre Mitglieder unter Druck, sich deutlich einem der beiden Lager zuzuordnen, anstatt ihre geschlechtliche Identität frei auszudrücken (Tillmann 2014, S. 125–151). Es entwickelt sich ein Doing-Gender-Prozess: Geschlechterrollen wurden und werden gemacht (West & Zimmermann 1987, S. 125–151).
Genderrepräsentation auf Messen und in Videospielen
Die meist einseitige mediale Darstellung von Identitäten prägt unsere Lebensrealität von Geburt an. Rollenbilder werden erlernt und verfestigen sich zuverlässig (Kiel 2014, S. 20). Eine grundlegende Herausforderung ist daher die Sichtbarkeit vielfältiger Identitäten. Wie in zahlreichen anderen Bereichen finden sich in der Spielebranche und ihren Produkten, den digitalen Spielen, erhebliche Defizite hinsichtlich der Vielfalt etwa an Geschlechtsidentitäten oder Hautfarben.
Verschiedene Autor*innen und Initiativen, darunter das Projekt „Feminist Frequency“ um die Medienkritikerin Anita Sarkeesian, haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Diversitätsdefizite aufzuzeigen. Ihre Analysen stützen sich auf klar sichtbare Fakten (vgl. Feminist Frequency 2019; vgl. Radford-Burns 2019): Zum Beispiel werden jährlich relevante Statistiken zur weltweit größten Videospielmesse „E3“ (Electronic Entertainment Expo) veröffentlicht und reichweitenwirksam diskutiert. Neben der sehr konkreten Betrachtung einzelner Konzerne wird die Konferenz als Stimmungsbild des Gamingsektors ausgewertet. Demnach waren Frauen auf der Bühne mit 21 Prozent im Jahr 2019 weiterhin deutlich unterrepräsentiert (vgl. Petit & Sarkeesian 2019). In den vorgestellten Spielen der E3 verhält es sich ähnlich.
Nicht umsonst feierten das Publikum der E3 2019 und Teile der Twittergemeinde weibliche Referent*innen und dunkelhäutige Charaktere mit einem weitreichenden Medienecho (vgl. Batchelor 2019; vgl. McDonald 2019; vgl. Rousseau 2019).
Auch bezogen auf die Spielmechanik deckt die Analyse weitere Defizite auf: Hier zeigten sich bei 85 Prozent der untersuchten E3-Spiele gewaltbezogene Interaktionsmöglichkeiten (vgl. Petit & Sarkeesian 2019). Das ist ein Grund dafür, dass beim Diskurs über Games die These von aggressionsfördernden Effekten dominiert (Klimmt 2001, S. 481). Die Autorinnen Carolyn Petit und Anita Sarkeesian mahnen das ungenutzte Potenzial in der Spielentwicklung an; sie plädieren für mehr Variation, indem die Möglichkeiten des Mediums weiter ausgeschöpft und alternative Spielmechaniken abseits vom Kampf erprobt werden.
Die Alltagssimulation „Die Sims“ leistet Pionierarbeit
Während Spiele mit ausschließlicher weiblicher Protagonistin weiterhin selten sind, bieten Spiele zunehmend die Option, das Geschlecht des Avatars selbst auszuwählen. Der Trend zum Anbieten diverser Identifikationsmöglichkeiten zeugt von einer Öffnung hinsichtlich der potenziellen Spieler*innenschaft. Die Alltagssimulation „Die Sims“ (EA, 2000) leistete bereits seit dem ersten Teil der Serie Pionierarbeit: Gleichgeschlechtliche Beziehungen wurden von Anfang an mitgedacht (vgl. Lang 2016).
Dies ist ein sehr bewusster Zug, positioniert sich der Hersteller Electronic Arts (EA) doch nach außen als deutlicher Befürworter von Diversität und Inklusion. Dies betrifft sowohl das Unternehmen selbst als auch seine Produkte (vgl. EA 2019). Als das Thema 2016 eine gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr und die Konsument*innen vehement danach verlangten, wurden Geschlechtergrenzen im Zuge einer Aktualisierung von „Die Sims 4“ (EA, 2014) faktisch gänzlich aufgehoben. Seitdem kann das Geschlecht der Sims jederzeit gewechselt werden. Außerdem ist es möglich, sie mit typischen Kleidungsstücken eines anderen Geschlechts einzukleiden.
Verhaltene Vorstöße sind auch bei Blockbuster-Reihen wie „FIFA“ (EA, seit 1993) oder „Call of Duty“ (Activision, seit 2003) zu beobachten, in deren jüngeren Ablegern teilweise weibliche Avatare zur Auswahl stehen. Allmählich erkennen die Branchengrößen, dass die Fokussierung auf männliche Spieler überholt ist. Dabei mag auch die Erkenntnis eine Rolle spielen, dass die andere Hälfte der Weltbevölkerung als Zielgruppe durchaus ebenfalls interessant sein könnte.
Seit den 1980er-Jahren wird Spielen diverser
Was oft vergessen wird: Schon in den 80er-Jahren begeisterten sich Mädchen und Frauen für digitale Spiele, wenn auch noch in geringerem Maße als heute. In den 1990er-Jahren gab es etwa Überraschungserfolge sogenannter „Pink Games“ wie „Barbie Fashion Designer“ (Mattel, 1996), die explizit für junge Mädchen entwickelt wurden. Mit „Die Sims“ (2000), der „Wii“ 2006, einsteigerfreundlichen Handheld-Konsolen von Nintendo sowie dem Aufkommen von niedrigschwelligen Browserspielen und Mobile Games konnte die weibliche Zielgruppe weiter erschlossen werden. Heutzutage haben sich Mädchen und Frauen Gaming längst als Hobby erschlossen (Hahn 2017b, S. 74–77). Laut dem deutschen Game-Verband ist der Frauenanteil im Gaming inzwischen auf 48 Prozent angewachsen (game 2021, S. 8-10). Auch die Altersstruktur hat sich diversifiziert: Die / der Durchschnittsgamer*in ist etwa 37 Jahre alt. Insbesondere der Anteil der Über-50-Jährigen an den Spielenden hat sich auf ein Drittel gesteigert.
Der „virtuous Cycle“ bringt Diversität in Industrie und Spiele
Eine Wechselwirkung von analog und digital, jedoch auf umgekehrte Weise, zeigt sich auch bezüglich der Arbeitsrealität in der Spielebranche: Wenn die Belegschaft bereits wenig vielfältig geprägt ist, hat dies auch Auswirkungen auf die digitalen Ergebnisse. Und in der Spielentwicklung sind hauptsächlich weiße Männer tätig (Taylor 2020, S. 20; IGDA 2019, S. 13). Häufig fühlt sich nur eine eingeschränkte Zielgruppe von den produzierten Titeln angesprochen. Wenn zusätzlich die Marketingmaßnahmen zu großen Teilen auf eine junge, männliche, weiße Spielerschaft ausgerichtet sind, wird der Teufelskreis (engl. vicious circle oder cycle) verstärkt (vgl. Hahn 2017a). Wären Spiele dagegen für Frauen besonders attraktiv, würden sich auch eher Frauen um eine Karriere in der Gamesindustrie bemühen und anschließend Spiele machen, die auch anderen Frauen und Mädchen gefallen (vgl. Fullerton et al. 2007). Um aus diesem Teufelskreis zu entkommen, setzen Gamedesigner*innen wie Tracy Fullerton auf einen „virtuous cycle“ (etwa „tugendhafter Kreis“): Je diverser die Produzierendenseite ist, desto mehr Diversität erfahren Charakterdesign & Co. im Entwicklungsprozess und desto diverser ist die Zielgruppe, die sich von den Spielen angesprochen fühlt. Diese kann sich folglich mit den Charakteren, der Story oder dem Gameplay identifizieren und trifft vielleicht aufgrund dieser Inspiration die Entscheidung, selbst Spiele zu entwickeln.
Charaktergestaltung der Spielhelden: klassisches Rollenbild
Die einseitige Repräsentation zahlreicher identitätsstiftender Merkmale äußert sich in der Charaktergestaltung der Spielfiguren. Ein Avatar ohne die Attribute weiß, männlich, mittleres Alter, muskulös und Dreitagebart kommt viel zu selten vor. Insbesondere in aufwendig produzierten AAA-Titeln sind es vorwiegend Spielhelden von diesem Typus, die im Verlauf der Spielhandlung erfolgreich das Ziel erreichen, die Welt vom Tyrannen befreien, alle Hindernisse überwinden oder die Prinzessin retten. Frauen nehmen in der Handlung meist eine passive Assistentinnen- oder Opferrolle ein; in zahlreichen Titeln lösen sie gar durch ihren bloßen Tod die heldenhafte Reise des Protagonisten aus. Sie fungieren als „Jungfrau in Nöten“ (engl. damsel in distress), das personifizierte schwache Geschlecht. Diese Rolle ist eng verbunden mit dem Motiv der Gewalt, welche sie in vielen Titeln erleiden. Dies ist ein Muster, das in der kurzen Videospielgeschichte in zahlreichen Varianten Verwendung fand (Douai & King 2014, S. 3 f.). Titel mit selbstständigen Heldinnen wie bei „Horizon Zero Dawn“ (Guerrilla Games, 2017) sind weiterhin selten.
Äußerliche Gestaltung der Avatare
Sehr deutlich wird das Problem Sexismus im Gaming, wenn man die äußerliche Gestaltung der Avatare näher beleuchtet. Eine Tradition der Sexualisierung zieht sich durch zahlreiche Genres. Körperbedeckende Panzerung im Kampf, um das eigene Leben möglichst zu schützen? Bei den Kriegern gang und gäbe, bei den Kriegerinnen hingegen selten zu finden. Gängig sind zudem unrealistische Proportionen gemäß dem aktuellen Schönheitsideal. Weibliche Charaktere werden mittels kurvenbetonter, freizügiger Kleidung und hochhackigem Schuhwerk (Kiel 2014, S. 44) erotisch aufgeladen. Dieses altbekannte Muster berge aus wirtschaftlicher Sicht kaum Risiken, sagt der Journalist Joe Köller. Die wirtschaftlichen Interessen der Studios würden deren Risikobereitschaft behindern und habe die Bevorzugung etablierter Wege zur Folge (ebd., S. 153). Die Spielewissenschaftlerin Nina Kiel attestiert der Branche dennoch eine positive Entwicklung, da „bestehende Stereotype zunehmend hinterfragt und ihnen alternative Entwürfe entgegengestellt werden“ (ebd., S. 107). Diese Entwicklung sei jedoch hauptsächlich auf die männlichen Charaktere beschränkt, die vermehrt eine differenzierte Gestaltung von Persönlichkeitsstruktur und Körperform erführen (ebd., S. 44).
Kleine Indiestudios und damit unabhängige Entwickler*innen zeigen deutlich mehr Mut. Sie konzipieren Modelle häufig entgegen dem Mainstream. Exemplarisch sei „SpyParty“ (Chris Hecker, 2018) erwähnt – ein Schleichspiel, bei dem zwei Personen als Scharfschütz*in und Spion*in gegeneinander spielen. Das Besondere: Die Spielhandlung findet auf einer Cocktailparty statt, auf der derart vielfältige Charaktere anwesend sind, dass sie auch als „Most diverse video game cast“ (vgl. Narcisse 2014; vgl. McWhertor 2015) betrachtet wird.
Chris Hecker und sein Team fokussieren sich dabei nicht nur auf eine ausgeglichene Repräsentanz verschiedener Geschlechter. Auch hinsichtlich ethnischer Herkunft, Körperform, Alter und körperlicher Beeinträchtigung bemühen sie sich um Vielfalt (vgl. McWhertor 2015). Diese Diversitätsfaktoren finden in der Branche aktuell noch wenig Berücksichtigung (Banaszczuk 2019, S. 36 f.).
Dunkle Hautfarbe unterrepräsentiert
Auch dunkle Hautfarbe ist in Computerspielen noch selten präsent (vgl. Joseph 2019; vgl. Rousseau 2019). Das französische Gamestudio Arkane machte 2019 durch die Ankündigung des Spiels „Deathloop“ mit seinen zwei dunkelhäutigen Protagonist*innen international Schlagzeilen. Da People of Color sonst häufig in herabwürdigenden Gangsterrollen zu sehen sind, wie in der Reihe „Grand Theft Auto“ (Rockstar Games, seit 1997), ist diese narrative Repräsentation als branchenspezifisches Novum zu werten.
Fazit
Digitale Spiele und die Branche haben aufgrund ihrer heutigen Stellung in der Gesellschaft ein hohes inklusives und diverses Potenzial. Auf der Konsument*innenseite ist die Geschlechterquote bereits ausgeglichen. Jetzt müssen noch Produktion, Vermarktung und Inhalte – unter anderem transportiert durch Charaktereigenschaften und -aussehen – nachziehen. Dafür müssen Entwickler*innen und Branchengrößen jedoch entsprechend sensibilisiert sein. Bislang wird geschlechtliche Repräsentation jedoch vonseiten der Spieler*innenschaft thematisiert.
Vor allem für kommerzielle Spielestudios, Eventveranstalter*innen und so weiter sollte das Themenfeld „Diversität“ mit seinen verschiedenen Ausprägungen nicht nur von moralischem, sondern auch von wirtschaftlichem Interesse sein. Unternehmen könnten etwa durch die Integration in ihre Unternehmenskultur ihr Erscheinungsbild reichweitenwirksam aufwerten. Das nachhaltige Erschließen neuer Zielgruppen wäre die Folge, sei es als Mitarbeitende oder als Konsument*innen. Während digitale Spiele immer mehr in der Mitte unserer Gesellschaft ankommen, wird es höchste Zeit, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Wenn alte Muster abgelegt werden, könnten Games ihre inklusiven Möglichkeiten weiter entfalten.