Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Digitale Spiele als Werkzeug der politischen Bildung und Demokratiearbeit | Digitale Spiele | bpb.de

Digitale Spiele Grundlagen Geschichte der Videospiele Technologien & Plattformen Gamesbranche in Deutschland Typen & Motivation Spielkultur E-Sport Diversität in digitalen Spielen Lernen mit Spielen Gamification Digitale Lernspiele Digitale Spiele im Unterricht Digitale Spiele in der pol. Bildung Geschichte in Spielen Digitale Spiele & Erinnerungskultur Spiele mit Hakenkreuzen Historische Feindbilder Games als Spannungsfeld Spiele mit Ideologie Eichmann-Simulatoren Die Erben von GamerGate Exzessives Spielen Redaktion Games als Mittel zur Förderung von Futures Literacy Einleitung ins Teildossier: Games als Mittel zur Förderung von Futures Literacy Spielen für die Zukunft Games und Leadership Mit Games zur Resilienz Über den Einsatz von Games in der Bildung für Nachhaltige Entwicklung Redaktion für das Teildossier "Games als Mittel zur Förderung von Futures Literacy"

Digitale Spiele als Werkzeug der politischen Bildung und Demokratiearbeit

Dr. Nikolaus Koenig

/ 12 Minuten zu lesen

Noch sind Computerspiele Randerscheinungen in der politischen Bildungsarbeit. Dabei können sie demokratische Grundprinzipien erlebbar machen und politische Bildungsprozesse fördern. Das erfordert die Bereitschaft, sich genauer mit dem Wesen des Spiels auseinanderzusetzen und moralisch fragwürdige Inhalte auszuhalten. Unter diesen Bedingungen kann es sogar gelingen, im Spiel die Grundlagen unseres modernen Demokratieverständnisses sichtbar und spürbar zu machen.

Abb. 0: Aufgrund ihrer spezifischen medialen Eigenschaften können Spiele wertvolle Werkzeuge der politischen Bildung und Demokratiearbeit sein, indem sie schwierige politische Themen greifbar und erlebbar machen. (© Last Exit Flucht, UNHCR)

Zum Teil haben digitale Spiele den Anschein der nutzlosen oder sogar gefährlichen Zeitverschwendung hinter sich gelassen. Manchen gelten sie sogar als eine der großen pädagogischen Hoffnungen des 21. Jahrhunderts. Immer wieder, immer öfter und immer selbstverständlicher taucht das Spiel(en) als Leitprinzip von Bildungsbestrebungen auf – sei es als didaktisches Werkzeug im Schulunterricht, als motivierender Aufhänger für außerschulische Lern- und Reflexionsprozesse oder als Vorlage für die Gestaltung weitreichender spielebasierter Unterrichtsstrategien.

Das Gespräch über das Spiel ist dabei häufig an dessen äußeren Eigenschaften orientiert, also daran, was Außenstehende an den Spielenden (und gar nicht so sehr am Spiel selbst) erkennen können. So lässt sich beobachten, dass Spiele ganz offensichtlich ziemlich viel Spaß machen können oder feststellen, dass ihre Interaktivität ein ganz neues Rezeptionsverhalten zutage fördert. Ebenfalls von außen lässt sich erkennen, dass digitale Spiele fester Bestandteil der Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und inzwischen auch Erwachsenen geworden sind.

Betrachtet man aber genau, wodurch sich Spiele denn nun aufgrund ihrer ganz besonderen Funktionsweise von anderen Medien unterscheiden können, wird deutlich, dass das digitale Spiel (Externer Link: sofern seine spezifischen medialen Eigenschaften auch entsprechend genutzt werden) ganz besonders dazu geeignet wäre, politische Bildungsprozesse zu ermöglichen. Darüber hinaus kann es ein Medium sein, das wie kein anderes demokratische Prinzipien greifbar und erlebbar machen kann – und zwar nicht aufgrund der jeweiligen Spielinhalte, sondern wegen seiner formalen Struktur und der spezifischen Funktionsweise des Mediums selbst.

Oft bleiben diese Möglichkeiten ungenutzt – manchmal aus fehlendem Verständnis für das Medium, häufig aus kommerziellen Gründen und viel zu oft aus Bequemlichkeit. Immerhin ist es viel leichter, SpielerInnen mit unmittelbaren Belohnungen zufriedenzustellen, als ihre Überzeugungen infrage zu stellen, ihre Bereitschaft zum Diskurs und ihre Fähigkeit zu kritischem Denken zu fördern. Umso wichtiger ist es, sich diese Möglichkeiten bewusst zu machen, sei es, um jene Spiele zu erkennen, die dieses Potenzial ausschöpfen und um dieses Potenzial auch für Bildungszwecke nutzbar zu machen, sei es, um gezielt die Entwicklung solcher Spiele einzufordern oder sie vielleicht sogar selbst zu entwickeln.

Digitale Spiele, die ihr medienspezifisches Potenzial ausschöpfen, können uns erlauben, unseren eigenen Zugang zu einem Thema zu finden und komplexe Systeme in all ihrer Widersprüchlichkeit zu erleben. Sie können uns ermächtigen, Strategien zur Verwirklichung unserer eigenen Interessen zu entwickeln. Ebenso wie die Bereitschaft, Gegenpositionen zu hören und zu beachten, eine unabdingbare Voraussetzung für Demokratie ist, so gibt es auch kein Spielen ohne jene strukturierte Freiheit, die wir selbst nur beanspruchen können, wenn wir sie auch anderen zugestehen. Das gilt nicht nur, wenn wir mit anderen, sondern auch wenn wir allein spielen: Die grundlegendste Erfahrung des Spiels liegt darin, dass unsere Bestrebungen auf Widerstände stoßen. Diese Widerstände werden nicht einfach ohne weiteren Aufwand aus dem Weg geräumt (das wäre Schummelei), stattdessen müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen, sie verstehen und Strategien entwickeln, unsere Ziele unter Einbeziehung dieser Widerstände zu erreichen. Das beginnt mit den scheinbar trivialsten Aspekten des Spiels: Mario (Super Mario Bros., Nintendo, 1985) läuft nicht einfach gemütlich in Richtung seines Ziels, er muss rechtzeitig springen, um auf die vielen Hindernisse zu reagieren, die sich ihm in den Weg stellen, und schafft damit Raum für Dinge, die seinen Interessen zunächst entgegenstehen. Schon in diesem Sinn bedeutet Spielen immer Dialog, Rücksichtnahme auf unsere Umgebung und eine grundlegende Bereitschaft zum Kompromiss.

Der Beutelsbacher Konsens und das (digitale) Spiel

Seit mehr als vierzig Jahren gilt der Interner Link: Beutelsbacher Konsens (vgl. Wehling 1977) als weithin anerkannter Minimalkonsens der politischen Bildung in einer demokratischen Gesellschaft. Während seine Grundprinzipien (das Überwältigungsverbot, die Forderung nach kontroverser Darstellung kontroverser Inhalte und der Ermächtigungsanspruch) grundsätzlich unabhängig von den Medien sind, mit deren Hilfe sie verwirklicht werden, so lässt sich doch eine besondere Affinität zwischen diesen Prinzipien und bestimmenden Merkmalen des Spiels feststellen.

Da ist zunächst einmal der kontingente Charakter des Spiels, also der Umstand, dass im Spiel eben nicht der "eine, richtige Weg" zählt, nicht die "beste" Antwort oder die Frage, wer nun "im Recht" ist. Als Spielende können wir ausprobieren, neue Wege gehen, und zwar ganz ohne Angst davor, Fehler zu machen (vgl. Gee 2003). Im Spiel ist es nämlich gar nicht so wichtig, ob wir gewinnen oder verlieren, denn selbst dem Scheitern folgt kein schreckliches Ende, sondern die nächste Runde und damit eine weitere Chance, neue Strategien zu erproben und die Spielwelt von einer anderen Seite kennenzulernen.

Wer Inhalte auf diese Weise erfahrbar macht – in Form eines Spiels, das auch wirklich Raum für das Spielen mit Gedanken, Positionen, Zugängen lässt –, läuft wohl am wenigsten Gefahr, den Erfahrenden im Sinne einer Überwältigung die eigene Position aufzuzwingen. Denn nicht zu überwältigen bedeutet ja nicht, die eigene Position möglichst sanft und behutsam anzubringen. Sondern es heißt, ganz grundsätzlich, statt fertiger Antworten (Spiel-)Raum für Fragen und eigene Positionierungen zu lassen. SchülerInnen wird so die Möglichkeit gegeben, eigene Antworten zu finden und auszuprobieren, sie vielleicht wieder zu verwerfen und dabei immer besser zu verstehen, was es bedeutet, sich einem Thema neugierig, kritisch und frei von äußerem Druck zu nähern.

Dadurch kann der Modus des Spiels ganz besonders den Lehrpersonen entgegenkommen. Denn es ist ja nicht immer leicht, die eigene Überzeugung außen vor zu lassen. Das Spiel kann einen Freiraum schaffen, in dem wir uns wichtigen Themen stellen können, ohne sie ganz so wichtig zu nehmen, wie sie uns außerhalb des Spiels vielleicht sind. Die eigene, oft so schwer erkämpfte Überzeugung erscheint nicht ganz so drängend, sodass man sich auch als Lehrperson leichter auf andere Positionen einlassen kann.

Hier zeigt sich die ganz besondere Kraft des digitalen Spiels: Während die Regeln des analogen Spiels von den beteiligten Personen aktiv angewendet werden müssen, schafft der Computer ein weitgehend unbestechliches Gegenüber, das es uns erlaubt, uns ganz auf das Spielen einzulassen, ohne allzu viel Energie darauf verwenden zu müssen, die "Illusion des Spiels" weiter aufrechtzuerhalten. SpielerInnen / SchülerInnen stehen gemeinsam mit der Lehrperson den Gegebenheiten der Software gegenüber, die eine künstliche Wirklichkeit erschafft, die akzeptiert, reflektiert und kritisiert, aber zunächst nicht verändert werden kann. Das hat einerseits das Potenzial, Spielerfahrungen zu ermöglichen, die nicht von Beginn an durch die Lehrperson, sondern eben durch die Software vorbestimmt sind, und macht es Lehrpersonen damit leichter, der "Realität des Spiels" gemeinsam mit den SchülerInnen zu begegnen und so die Rolle des Lernbegleiters / der Lernbegleiterin authentischer zu erfüllen. Andererseits können damit Fragen nach Autoritäten und Ideologien leichter thematisiert werden: Was sind die scheinbar unumstößlichen Bedingungen, unter denen unser Handeln im Spiel und in der Wirklichkeit möglich wird, woher kommen diese, und wie können wir Alternativen und andere Deutungsmuster entwickeln?

Mit dem (potenziellen) Verzicht auf Wahrheitsanspruch und Deutungshoheit können Spiele in der Folge ermöglichen, dass an die Stelle der Vermittlung einer "Botschaft" die Erfahrung komplexer Zusammenhänge tritt. Spiele können uns erlauben, verschiedene Wege zu gehen, verschiedene Positionen auszuprobieren, in verschiedene Rollen zu schlüpfen – auch in jene, die so gar nicht unserer eigenen Persönlichkeit oder unseren Werthaltungen entsprechen. Wenn wir im Spiel die Rolle eines profitgierigen "Railroad Tycoons" (MicroProse, 1990), eines auftragsmordenden "Hitman" (IO Interactive, 2000) oder des Diktators eines Inselstaates ("Tropico", PopTop Software, 2001) übernehmen, dann sind wir deshalb noch lange keine moralisch fragwürdigen Persönlichkeiten. Ganz im Gegenteil: Der besondere Reiz dieser Spiele erschließt sich vielmehr auf der Grundlage konventioneller Moralvorstellungen. Die Perspektive, die wir im Spiel einnehmen, ist nämlich nie einseitig, sondern lebt davon, dass jede Handlung, jede Entscheidung, jede Werthaltung auf Widerspruch stößt und sich gegen Widerstände behaupten muss. Dem Tycoon steht eine Gesellschaft gegenüber, die sich gegen Ausbeutung wehrt, die Aufgabe des Meuchelmörders besteht mehr darin, der Verfolgung zu entgehen, als zu morden. Und über dem Diktator schwebt stets das Damoklesschwert des Aufstands einer Bevölkerung, die sich nicht länger unterdrücken lässt. Darin liegt die Herausforderung, die "Challenge" des Spiels. Auf jede Bewegung folgt eine Gegenbewegung, und so drängt uns das Spiel dazu, mit jeder eigenen Positionierung auch die Gegenposition mitzudenken, die dem Spiel und den Spielhandlungen erst Bedeutung gibt.

Spiele können also Medien der Kontroverse sein, in denen Gegensätze und Widersprüche nicht nur möglich, sondern notwendig sind. Spiele erlauben, ja fordern, dass kontroverse Positionen kontrovers dargestellt werden. Nun können kontroverse Positionen zwar auch in anderen Medien dargestellt werden, und kaum eine Narration kommt ohne Konflikte und Kontroversen aus. Während narrative Medien aber eben nur von und über Kontroversen und Konflikte erzählen können, verlangen Spiele von uns, dass wir uns selbst in den Konflikt begeben und kontroverse Entscheidungen treffen: Sie machen Kontroversität als handlungsleitendes Motiv spürbar und erlebbar. Denn Spielentscheidungen sind nie eindeutig. Natürlich ist es etwas Gutes, wenn man sich zu Hause um das kranke Kind kümmert, aber es kann auch etwas Schlechtes sein, wenn man dadurch seinen Job riskiert und keine Medikamente mehr kaufen kann – wie im Onlinespiel "Externer Link: Spent" (McKinney, 2011). Und wenn man als ModeratorIn eines sozialen Netzwerks diskriminierende Kommentare löscht, dann kann das zwar durchaus im Sinne einer zivilisierten Diskussionskultur sein – im Einzelfall ist es aber oft gar nicht so leicht abzuwägen, ob das noch mit dem Grundsatz der Meinungsfreiheit zusammengeht, wie das "Externer Link: Moderate Cuddlefish" (bpb, 2016) zeigt. In vielen Spielen ist diese Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit nicht gleich sichtbar. Manchmal ist sie abstrakt wie in "Tetris" (Sega, 1984), wo ein Konflikt zwischen Tempo und Präzision das Spiel bestimmt. Und manchmal ist sie nur subtiler Teil der Spielerfahrung wie in vielen Shooter-Games, an deren Oberfläche der scheinbar eindeutige Auftrag steht, Gegner zu töten, anhand derer aber gleichzeitig der Konflikt zwischen Töten und dem Risiko, selbst getötet zu werden, und damit die Perpetuierung von Gewalt spürbar gemacht wird. In diesen Fällen braucht es einen umso klareren pädagogischen Rahmen, um die dahinterliegende Ambiguität sichtbar und reflektierbar zu machen.

Abb. 1: Spiele sind Medien der Kontroverse. Sie können uns in Situationen bringen, in denen jede Entscheidung gleichzeitig gute wie schlechte Folgen hat. Entscheiden müssen wir aber dennoch. (© Spent, McKinney / Urban Ministries of Durham)

Diese Erfahrung der Uneindeutigkeit wird durch ein weiteres Wesensmerkmal des Spiels verstärkt: Spiele werden nicht erzählt, sondern gespielt. Im Spiel sehen wir nicht zu, wie jemand anderes handelt. Wir müssen selbst handeln und erleben dabei die inneren Konflikte und Gründe, die hinter diesen Handlungen stehen. Denn Spiele sagen uns nicht, was "zu tun" ist, sondern sie lassen uns spüren, wie es ist, selbst "bedeutungsvolle Handlungen zu setzen und die Folgen unserer Entscheidungen zu erleben" (Murray 1997, S. 126).

Spiele können die Grundlage für jene Ermächtigung schaffen, die auch im Beutelsbacher Konsens gefordert wird. SchülerInnen soll es ermöglicht werden, politische Zusammenhänge zu verstehen, die eigene Interessenslage zu erkennen und darauf aufbauend zielgerichtete, an ihren Interessen orientierte Handlungsstrategien zur Veränderung der Situation zu entwickeln. Ein Spiel zu spielen, das bedeutet zunächst genau das: Die (Spiel-)Welt zu beobachten, um herauszufinden, wie sie funktioniert, sich Ziele zu setzen und nach Strategien zu suchen, um diese Ziele zu erreichen. Das Spiel geht sogar noch einen Schritt weiter, indem es uns erlaubt, unsere Strategien gleich auszuprobieren und die Folgen unserer Handlungen zu beobachten (und natürlich gleich wieder infrage zu stellen). Da die Entscheidungen immer unsere eigenen sind, werden wir im Spiel auch mit der Fragen der Verantwortung konfrontiert.

(Digitales) Spiel und Demokratiearbeit

So viel zur demokratiegerechten Auseinandersetzung mit Fragen der politischen Bildung in Form von Spielen. Aber was ist mit der Demokratie selbst? Kann das digitale Spiel vielleicht selbst die Erfahrung von Prinzipien, die für das Entstehen und Bestehen von Demokratie unverzichtbar sind, in sich tragen?

Das kann es vor allem dann, wenn wir Demokratie nicht als die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit missverstehen, sondern als den komplexen und nie abgeschlossenen Prozess der Ausgleichsfindung zwischen verschiedenen, einander oft entgegenstehenden Interessen. Schon aus Schillers Überlegungen zum Spieltrieb als ausgleichende Kraft zwischen Gegensätzen (vgl. Pias 2007) lässt sich ableiten, dass der Wert des Spiel(en)s im produktiven Kompromiss liegt, im Zusammenführen des scheinbar Unvereinbaren und damit letztlich in der Abkehr von autoritären Diskurs- und Gesellschaftsformen. Im Spiel betreten wir einen Ausverhandlungsraum, in dem es darum geht, einen gangbaren Weg zwischen den Gegensätzen zu finden. Denn Spiele sind keine Medien der klaren Antworten, des "Ja" und "Nein", sondern des "Ja, aber …"

Das Besondere am Spiel ist, wie diese Ausverhandlung stattfindet, unter welchen Bedingungen also versucht wird, einen Ausgleich herzustellen. Hier lässt sich erkennen, dass sich Spiel und Demokratie sehr ähnlich sind, ja, dass das Spiel vielleicht als Modell unserer modernen Demokratie gelten kann. So ist das Spiel ebenso wie die Demokratie nicht naturgegeben, sondern von Menschen ausgedacht, um anstelle des Rechts der oder des Stärkeren durch gemeinsame Regeln ein besseres Miteinander zu gewährleisten (vgl. Huizinga 1955). Im Spiel wie in der Demokratie bauen diese Regeln auf der Idee der Gleichwertigkeit auf: Jede Stimme soll gleich viel zählen, alle haben die gleichen Chancen auf Gewinn, und selbst wenn wir in einem Online-Roleplaying-Game wie "World of Warcraft" (Blizzard Entertainment, 2004) aus einer großen Anzahl unterschiedlicher Charakterklassen mit jeweils unterschiedlichen Fähigkeiten auswählen können, so wird im Gamedesign penibel darauf geachtet, dass diese Klassen zwar nicht gleich, aber immer gleichwertig sind. Darüber nachzudenken, wieso ein solcher Ausgleich anderen Formen der Machtverteilung vorzuziehen ist, warum zum Beispiel die Spielfiguren besonders reicher oder starker SpielerInnen nicht mehr Felder ziehen dürfen als andere, kann an sich schon ein Beitrag zu demokratischer Bewusstseinsbildung sein. Um das zu thematisieren, kann ein Blick auf die inzwischen recht häufigen "Pay2Win"-Spiele helfen (also Spiele, in denen man sich für echtes Geld Vorteile im Spiel erkaufen kann), wo genau das Gegenteil geschieht und die finanziellen Möglichkeiten des echten Lebens die Balance im Spiel verändern.

Für die praktische Demokratiearbeit kann das Spiel helfen, die Grundlagen eines demokratisch orientierten Miteinanders zu erleben und zu verstehen, aber auch, diese auf der Suche nach der eigenen Werthaltung zu hinterfragen. So lässt sich selbst in digitalen Spielen, deren Regelsysteme auf den ersten Blick starr und unveränderbar wirken, leicht erkennen, dass auch diese Systeme Mechanismen der sozialen Aushandlung unterworfen sind. Das reicht von der sozialen Prägung der DesignerInnen über das Feedback der Community in Onlineforen und Petitionen bis hin zur subversiven Ermächtigung durch Externer Link: Modding oder diverse Cheating-Strategien (vgl. Consalvo 2009).

Regeln sind Einschränkungen unserer Handlungsmöglichkeiten, die faires, gemeinsames – demokratisches – Handeln erst möglich machen. Das gilt so lange, wie diese Regeln nicht zu absoluten Handlungsanweisungen werden, sondern lebendiger, diskursiv veränderbarer Ausdruck gesellschaftlichen, demokratischen Zusammenwirkens sind. Spielerfahrungen können uns bewusst machen, wie stark unser Handeln von Regeln bestimmt ist und wie wichtig es deshalb ist, darauf zu achten, ob die im Spiel akzeptierten Regeln auch wirklich unsere demokratischen Überzeugungen widerspiegeln, oder ob sie Werte beinhalten, die diesen Überzeugungen widersprechen. Oder ob vielleicht ihr Zustandekommen nicht das Ergebnis eines gemeinsamen Entscheidungsprozesses ist, sondern sie von außen verordnet werden – was wieder als die Frage nach autoritären Tendenzen in Spiel und Gesellschaft thematisiert werden kann.

Hürden und Hinweise

Obwohl die beschriebenen Stärken des Spiels nahelegen, dass das Spiel ganz grundsätzlich das demokratische Bewusstsein der Spielenden fördern kann, sind spielbasierte Ansätze in der politischen Bildung noch keine Selbstverständlichkeit.

Das liegt zum einen daran, dass nicht alle Spiele wirklich die spezifischen Möglichkeiten dieses Mediums ausschöpfen. Stattdessen fordern viele kommerziell erfolgreiche Spiele das Befolgen von Anweisungen, das Ausklammern von Bedenken und die Suche nach (Selbst-)Optimierung und sind damit mehr von autoritären als von demokratischen Prinzipien geprägt.

Das ist kein grundsätzliches Hindernis für den Einsatz digitaler Spiele als Werkzeuge der politischen Bildung und Demokratiearbeit. Es stellt aber besondere Ansprüche an Lehrpersonen, die eine umfassende "Gaming Literacy" entwickeln müssen, um Spielmechaniken hinsichtlich ihrer Bedeutung für politische Bildungsprozesse bewerten und diese Prozesse kompetent anleiten zu können.

Gaming Literacy

Gaming Literacy (Spielkompetenz) fasst Fähigkeiten zusammen, die notwendig sind, um Spiele verstehen, bewerten und benutzen zu können. Dazu zählt das Denken in Systemen, die Bereitschaft zur spielerischen Interaktion und ein grundlegendes Verständnis dafür, wie Spieledesign Bedeutung erzeugt. Das Konzept legt nahe, dass diese Kompetenz im 21. Jahrhundert wichtig für die Medienkompetenz insgesamt wird – vergleichbar mit dem Lesen und Schreiben (vgl. Zimmerman 2008).

So wie spielbasierte Lernerfahrungen kann auch politische Bildung nicht auf eine geeignete pädagogische Rahmung verzichten. Das ist fordernd für Lehrpersonen, es beinhaltet aber zumindest zwei gute Nachrichten: Erstens, dass man nicht auf die Verfügbarkeit des "perfekten" Demokratiespiels angewiesen ist, weil Lerneffekte nicht nur innerhalb des Spiels, sondern vor allem im Rahmen des pädagogischen Settings stattfinden, und zweitens, dass Lehrpersonen inzwischen auf Externer Link: bereits vorhandene Angebote und Externer Link: Anregungen zugreifen können, um ihr Verständnis des Mediums Spiel zu verfeinern und didaktische Szenarien für den Einsatz digitaler Spiele im Rahmen politischer Bildung und Demokratiearbeit zu entwickeln.

Die Einbettung in eine Community führt schließlich zu einem Aspekt, von dem der (Miss-)Erfolg entsprechender Projekte abhängen kann: Bewusst oder unbewusst können Spiele (gerade weil sie formal Medien der Offenheit, der Ermächtigung und der Kontroverse sind) auch als besonders wirksame Instrumente der Manipulation missbraucht werden. Das wirksamste Gegenmittel ist die Einbettung in eine Community, die die Spiele und die pädagogischen Settings hinterfragt, insbesondere dann, wenn sich die Gefahr der Überwältigung einschleicht. Eine Gemeinschaft stärkt die Qualität politischer Bildungsprozesse, indem sie Positionen nicht unhinterfragt lässt, Gegenpositionen anbietet und die Bereitschaft zum Widerspruch und Diskurs am Leben hält. Sie muss also selbst demokratischen Grundsätzen genügen.

Quellen / Literatur

Consalvo, M. (2009). Cheating: Gaining advantage in videogames. Cambridge, MA: MIT Press.

Gee, J. P. (2003). What video games have to teach us about learning and literacy. New York, NY: Palgrave / Macmillan.

Huizinga, J. (1955). Homo Ludens. A Study of the Play Element in Culture. Boston, MA: The Beacon Press.

Murray, J. H. (1997). Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge, MA: MIT Press.

Pias, C. (2007). Wirklich problematisch. Lernen von ,frivolen Gegenständen‘. In: C. Pias & C. Holtorf (Hrsg.), Escape! Computerspiele als Kulturtechnik (S. 255–269). Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Band 6. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.

Wehling, H.-G. (1977). Konsens à la Beutelsbach. In: S. Schiele & H. Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart: Ernst Klett Verlag.

Zimmerman, E. (2008). Gaming Literacy: Game Design as a Model for Literacy in the Twenty-First Century. In: B. Perron & M. J. P. Wolf (Hrsg.), The Video Game Theory Reader 2 (S. 23–31). New York: Routledge.

Spiele:

Hitman (series) (IO Interactive, 2000–2018)

Moderate Cuddlefish (bpb, 2016)

Railroad Tycoon (Series) (MicroProse, PopTop Software, Firaxis Games, 1990–2006)

Spent (McKinney, 2011)

Tetris (Sega, 1984)

Tropico (Series) (PopTop Software, Frog City Software, Haemimont Games, Limbic Entertainment, 2001–2019)

World of Warcraft (Blizzard Entertainment, 2004)

Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dr. Nikolaus Koenig für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Dr. Nikolaus Koenig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrgangsleiter im Bereich "Transmedia Studies" am Zentrum für Angewandte Spieleforschung der Donau-Universität Krems. Davor war er als Max Kade Postdoctoral Fellow am Comparative Media Studies / Writing Program des Massachusetts Institute of Technology tätig. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten: Spieletheorie, Medienethik und Medienbildung sowie die systemische Organisation mediatisierter Vorstellungen von Wirklichkeit.