Zum Teil haben digitale Spiele den Anschein der nutzlosen oder sogar gefährlichen Zeitverschwendung hinter sich gelassen. Manchen gelten sie sogar als eine der großen pädagogischen Hoffnungen des 21. Jahrhunderts. Immer wieder, immer öfter und immer selbstverständlicher taucht das Spiel(en) als Leitprinzip von Bildungsbestrebungen auf – sei es als didaktisches Werkzeug im Schulunterricht, als motivierender Aufhänger für außerschulische Lern- und Reflexionsprozesse oder als Vorlage für die Gestaltung weitreichender spielebasierter Unterrichtsstrategien.
Das Gespräch über das Spiel ist dabei häufig an dessen äußeren Eigenschaften orientiert, also daran, was Außenstehende an den Spielenden (und gar nicht so sehr am Spiel selbst) erkennen können. So lässt sich beobachten, dass Spiele ganz offensichtlich ziemlich viel Spaß machen können oder feststellen, dass ihre Interaktivität ein ganz neues Rezeptionsverhalten zutage fördert. Ebenfalls von außen lässt sich erkennen, dass digitale Spiele fester Bestandteil der Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und inzwischen auch Erwachsenen geworden sind.
Betrachtet man aber genau, wodurch sich Spiele denn nun aufgrund ihrer ganz besonderen Funktionsweise von anderen Medien unterscheiden können, wird deutlich, dass das digitale Spiel (Externer Link: sofern seine spezifischen medialen Eigenschaften auch entsprechend genutzt werden) ganz besonders dazu geeignet wäre, politische Bildungsprozesse zu ermöglichen. Darüber hinaus kann es ein Medium sein, das wie kein anderes demokratische Prinzipien greifbar und erlebbar machen kann – und zwar nicht aufgrund der jeweiligen Spielinhalte, sondern wegen seiner formalen Struktur und der spezifischen Funktionsweise des Mediums selbst.
Oft bleiben diese Möglichkeiten ungenutzt – manchmal aus fehlendem Verständnis für das Medium, häufig aus kommerziellen Gründen und viel zu oft aus Bequemlichkeit. Immerhin ist es viel leichter, SpielerInnen mit unmittelbaren Belohnungen zufriedenzustellen, als ihre Überzeugungen infrage zu stellen, ihre Bereitschaft zum Diskurs und ihre Fähigkeit zu kritischem Denken zu fördern. Umso wichtiger ist es, sich diese Möglichkeiten bewusst zu machen, sei es, um jene Spiele zu erkennen, die dieses Potenzial ausschöpfen und um dieses Potenzial auch für Bildungszwecke nutzbar zu machen, sei es, um gezielt die Entwicklung solcher Spiele einzufordern oder sie vielleicht sogar selbst zu entwickeln.
Digitale Spiele, die ihr medienspezifisches Potenzial ausschöpfen, können uns erlauben, unseren eigenen Zugang zu einem Thema zu finden und komplexe Systeme in all ihrer Widersprüchlichkeit zu erleben. Sie können uns ermächtigen, Strategien zur Verwirklichung unserer eigenen Interessen zu entwickeln. Ebenso wie die Bereitschaft, Gegenpositionen zu hören und zu beachten, eine unabdingbare Voraussetzung für Demokratie ist, so gibt es auch kein Spielen ohne jene strukturierte Freiheit, die wir selbst nur beanspruchen können, wenn wir sie auch anderen zugestehen. Das gilt nicht nur, wenn wir mit anderen, sondern auch wenn wir allein spielen: Die grundlegendste Erfahrung des Spiels liegt darin, dass unsere Bestrebungen auf Widerstände stoßen. Diese Widerstände werden nicht einfach ohne weiteren Aufwand aus dem Weg geräumt (das wäre Schummelei), stattdessen müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen, sie verstehen und Strategien entwickeln, unsere Ziele unter Einbeziehung dieser Widerstände zu erreichen. Das beginnt mit den scheinbar trivialsten Aspekten des Spiels: Mario (Super Mario Bros., Nintendo, 1985) läuft nicht einfach gemütlich in Richtung seines Ziels, er muss rechtzeitig springen, um auf die vielen Hindernisse zu reagieren, die sich ihm in den Weg stellen, und schafft damit Raum für Dinge, die seinen Interessen zunächst entgegenstehen. Schon in diesem Sinn bedeutet Spielen immer Dialog, Rücksichtnahme auf unsere Umgebung und eine grundlegende Bereitschaft zum Kompromiss.
Der Beutelsbacher Konsens und das (digitale) Spiel
Seit mehr als vierzig Jahren gilt der
Da ist zunächst einmal der kontingente Charakter des Spiels, also der Umstand, dass im Spiel eben nicht der "eine, richtige Weg" zählt, nicht die "beste" Antwort oder die Frage, wer nun "im Recht" ist. Als Spielende können wir ausprobieren, neue Wege gehen, und zwar ganz ohne Angst davor, Fehler zu machen (vgl. Gee 2003). Im Spiel ist es nämlich gar nicht so wichtig, ob wir gewinnen oder verlieren, denn selbst dem Scheitern folgt kein schreckliches Ende, sondern die nächste Runde und damit eine weitere Chance, neue Strategien zu erproben und die Spielwelt von einer anderen Seite kennenzulernen.
Wer Inhalte auf diese Weise erfahrbar macht – in Form eines Spiels, das auch wirklich Raum für das Spielen mit Gedanken, Positionen, Zugängen lässt –, läuft wohl am wenigsten Gefahr, den Erfahrenden im Sinne einer Überwältigung die eigene Position aufzuzwingen. Denn nicht zu überwältigen bedeutet ja nicht, die eigene Position möglichst sanft und behutsam anzubringen. Sondern es heißt, ganz grundsätzlich, statt fertiger Antworten (Spiel-)Raum für Fragen und eigene Positionierungen zu lassen. SchülerInnen wird so die Möglichkeit gegeben, eigene Antworten zu finden und auszuprobieren, sie vielleicht wieder zu verwerfen und dabei immer besser zu verstehen, was es bedeutet, sich einem Thema neugierig, kritisch und frei von äußerem Druck zu nähern.
Dadurch kann der Modus des Spiels ganz besonders den Lehrpersonen entgegenkommen. Denn es ist ja nicht immer leicht, die eigene Überzeugung außen vor zu lassen. Das Spiel kann einen Freiraum schaffen, in dem wir uns wichtigen Themen stellen können, ohne sie ganz so wichtig zu nehmen, wie sie uns außerhalb des Spiels vielleicht sind. Die eigene, oft so schwer erkämpfte Überzeugung erscheint nicht ganz so drängend, sodass man sich auch als Lehrperson leichter auf andere Positionen einlassen kann.
Hier zeigt sich die ganz besondere Kraft des digitalen Spiels: Während die Regeln des analogen Spiels von den beteiligten Personen aktiv angewendet werden müssen, schafft der Computer ein weitgehend unbestechliches Gegenüber, das es uns erlaubt, uns ganz auf das Spielen einzulassen, ohne allzu viel Energie darauf verwenden zu müssen, die "Illusion des Spiels" weiter aufrechtzuerhalten. SpielerInnen / SchülerInnen stehen gemeinsam mit der Lehrperson den Gegebenheiten der Software gegenüber, die eine künstliche Wirklichkeit erschafft, die akzeptiert, reflektiert und kritisiert, aber zunächst nicht verändert werden kann. Das hat einerseits das Potenzial, Spielerfahrungen zu ermöglichen, die nicht von Beginn an durch die Lehrperson, sondern eben durch die Software vorbestimmt sind, und macht es Lehrpersonen damit leichter, der "Realität des Spiels" gemeinsam mit den SchülerInnen zu begegnen und so die Rolle des Lernbegleiters / der Lernbegleiterin authentischer zu erfüllen. Andererseits können damit Fragen nach Autoritäten und Ideologien leichter thematisiert werden: Was sind die scheinbar unumstößlichen Bedingungen, unter denen unser Handeln im Spiel und in der Wirklichkeit möglich wird, woher kommen diese, und wie können wir Alternativen und andere Deutungsmuster entwickeln?
Mit dem (potenziellen) Verzicht auf Wahrheitsanspruch und Deutungshoheit können Spiele in der Folge ermöglichen, dass an die Stelle der Vermittlung einer "Botschaft" die Erfahrung komplexer Zusammenhänge tritt. Spiele können uns erlauben, verschiedene Wege zu gehen, verschiedene Positionen auszuprobieren, in verschiedene Rollen zu schlüpfen – auch in jene, die so gar nicht unserer eigenen Persönlichkeit oder unseren Werthaltungen entsprechen. Wenn wir im Spiel die Rolle eines profitgierigen "Railroad Tycoons" (MicroProse, 1990), eines auftragsmordenden "Hitman" (IO Interactive, 2000) oder des Diktators eines Inselstaates ("Tropico", PopTop Software, 2001) übernehmen, dann sind wir deshalb noch lange keine moralisch fragwürdigen Persönlichkeiten. Ganz im Gegenteil: Der besondere Reiz dieser Spiele erschließt sich vielmehr auf der Grundlage konventioneller Moralvorstellungen. Die Perspektive, die wir im Spiel einnehmen, ist nämlich nie einseitig, sondern lebt davon, dass jede Handlung, jede Entscheidung, jede Werthaltung auf Widerspruch stößt und sich gegen Widerstände behaupten muss. Dem Tycoon steht eine Gesellschaft gegenüber, die sich gegen Ausbeutung wehrt, die Aufgabe des Meuchelmörders besteht mehr darin, der Verfolgung zu entgehen, als zu morden. Und über dem Diktator schwebt stets das Damoklesschwert des Aufstands einer Bevölkerung, die sich nicht länger unterdrücken lässt. Darin liegt die Herausforderung, die "Challenge" des Spiels. Auf jede Bewegung folgt eine Gegenbewegung, und so drängt uns das Spiel dazu, mit jeder eigenen Positionierung auch die Gegenposition mitzudenken, die dem Spiel und den Spielhandlungen erst Bedeutung gibt.
Spiele können also Medien der Kontroverse sein, in denen Gegensätze und Widersprüche nicht nur möglich, sondern notwendig sind. Spiele erlauben, ja fordern, dass kontroverse Positionen kontrovers dargestellt werden. Nun können kontroverse Positionen zwar auch in anderen Medien dargestellt werden, und kaum eine Narration kommt ohne Konflikte und Kontroversen aus. Während narrative Medien aber eben nur von und über Kontroversen und Konflikte erzählen können, verlangen Spiele von uns, dass wir uns selbst in den Konflikt begeben und kontroverse Entscheidungen treffen: Sie machen Kontroversität als handlungsleitendes Motiv spürbar und erlebbar. Denn Spielentscheidungen sind nie eindeutig. Natürlich ist es etwas Gutes, wenn man sich zu Hause um das kranke Kind kümmert, aber es kann auch etwas Schlechtes sein, wenn man dadurch seinen Job riskiert und keine Medikamente mehr kaufen kann – wie im Onlinespiel "Externer Link: Spent" (McKinney, 2011). Und wenn man als ModeratorIn eines sozialen Netzwerks diskriminierende Kommentare löscht, dann kann das zwar durchaus im Sinne einer zivilisierten Diskussionskultur sein – im Einzelfall ist es aber oft gar nicht so leicht abzuwägen, ob das noch mit dem Grundsatz der Meinungsfreiheit zusammengeht, wie das "Externer Link: Moderate Cuddlefish" (bpb, 2016) zeigt. In vielen Spielen ist diese Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit nicht gleich sichtbar. Manchmal ist sie abstrakt wie in "Tetris" (Sega, 1984), wo ein Konflikt zwischen Tempo und Präzision das Spiel bestimmt. Und manchmal ist sie nur subtiler Teil der Spielerfahrung wie in vielen Shooter-Games, an deren Oberfläche der scheinbar eindeutige Auftrag steht, Gegner zu töten, anhand derer aber gleichzeitig der Konflikt zwischen Töten und dem Risiko, selbst getötet zu werden, und damit die Perpetuierung von Gewalt spürbar gemacht wird. In diesen Fällen braucht es einen umso klareren pädagogischen Rahmen, um die dahinterliegende Ambiguität sichtbar und reflektierbar zu machen.