Seit über zwei Jahren führt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er zeigt beispielhaft die Strategie des Kremls im Umgang mit unbotmäßigen postsowjetischen Nachbarstaaten: Das Repertoire reicht von politischem Druck über hybride Kriegsführung bis hin zur militärischen Invasion. Damit ist auch der geopolitische Konflikt zwischen Russland und dem Westen um die europäische Sicherheitsordnung in eine neue Phase eingetreten.
Mit Beginn der Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 änderte sich der Charakter des Russisch-Ukrainischen Krieges, der 2014 mit der Annexion der Krim und der Besetzung großer Gebiete in der Ostukraine begonnen hat. An die Stelle der Inszenierung eines Pseudo-Bürgerkrieges durch Moskau im Donezbecken trat eine offene militärische Aggression mit dem Ziel der Abschaffung der ukrainischen Staatlichkeit und Nation. An dem Krieg sind auch in Belarus stationierte russische Truppen beteiligt. Allerdings kamen bis Juni 2024 keine regulären belarussischen Einheiten auf ukrainischem Boden zum Einsatz.
Russland bombardiert seit 2022 wöchentlich nicht nur ukrainische Truppen, Munitionsdepots und Militärbasen, sondern auch weit vom Kampfgebiet entfernte Städte und Dörfer, Verkehrs- und Energieinfrastruktur sowie Industrieanlagen. Dabei kommen Raketen, Marschflugkörper, Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Drohnen zum Einsatz. Entlang der Staatsgrenze und Frontlinie sind große Landstriche vollständig vermint. Raketen- und Drohnenangriffe auf ukrainische Truppen und kritische Infrastruktur – insbesondere Kraftwerke und andere Energieanlagen – werden vom russischen Staatsgebiet sowie von besetzten ukrainischen Territorien und Kriegsschiffen im Schwarzen und Kaspischen Meer aus geführt. Sie reichen bis in die vom Kampfgeschehen im Süden und Osten des Landes weit entfernten westukrainischen Gebiete Galizien, Wolynien und Transkarpatien.
Russland setzt verschiedene Langstreckenwaffen massenhaft und gezielt gegen zivile Einrichtungen der Ukraine ein, darunter Wohn-, Kauf-, Kultur- und Krankenhäuser, Schulen und Kirchen. Verschleppung, Folterung, Verstümmelung, Vergewaltigung, Ermordung und andere Menschenrechtsverbrechen gegen ukrainische Zivilisten in den okkupierten Landesteilen sind Teil der russischen Kriegsführung. Dazu gehört auch die Deportation zehntausender voll- und minderjähriger ukrainischer Staatsbürger sowie der Raub ukrainischer Getreidevorräte.
Infolge der Bombardements und Kriegsverbrechen erhöhte sich die Zahl ukrainischer Flüchtlinge sowohl im Inland als auch im Ausland rapide. Bis Mai 2022 hatten bereits 5,4 Mio. Menschen die Ukraine verlassen. Die Zahl der Binnenflüchtlinge betrug im Juli 2023 mehr als 5,6 Mio. Laut UNO-Flüchtlingshilfe sind aktuell (Stand 20.06.2024) schätzungsweise rund 3,6 Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht und mehr als 6,5 Millionen Menschen aus der Ukraine als Flüchtlinge im Ausland, zumeist in Europa.
Die Häufung von Kriegsverbrechen führt dazu, dass mehr und mehr Politik-, Geschichts- und Rechtswissenschaftler sowie die Parlamentarische Versammlung des Europarats und das EU-Parlament im russischen Vorgehen in der Ukraine zumindest in Teilen Anzeichen eines Völkermords sehen. Im März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin sowie gegen Marija Lwowa-Belowa, die als „Kinderrechtsbeauftragte“ der russischen Regierung maßgeblich für die illegale Verschleppung unbegleiteter ukrainischer Kinder verantwortlich ist.
Die ukrainischen Streitkräfte stellten sich bei der Abwehr der Aggression als unerwartet schlagkräftig heraus, erlitten aber zugleich erhebliche Verluste. So gelang es ihnen bis Ende 2022, ca. die Hälfte der von Russland neu besetzten Gebiete wieder zu befreien. Der relative Erfolg der ukrainischen Armee ist unter anderem auf die hohe Kampfmoral, die Unterstützung der ukrainischen Zivilgesellschaft und Diaspora, moderne Waffen aus ukrainischer und ausländischer Produktion sowie die Zusammenarbeit mit westlichen Nachrichtendiensten zurückzuführen. Im April 2022 begann die Ukraine, Infrastruktureinrichtungen (Depots, Umschlagplätze, Rüstungsbetriebe usw.) und Militäranlagen innerhalb Russlands mit Marschflugkörpern und Drohnen anzugreifen.
2023 missglückte eine zweite ukrainische Gegenoffensive, vor allem aufgrund unzureichender Bewaffnung. Es fehlte den ukrainischen Streitkräften insbesondere an Flugzeugen, anderen Langstreckenwaffen und Munition. Zugleich waren jedoch ukrainische Operationen auf und im Umfeld der Krim mit Marschflugkörpern und Drohnen erfolgreicher. So wurde bis Mai 2024 ca. ein Drittel der Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte versenkt. Russland musste den Großteil seiner Flotte aus Sewastopol abziehen. Und im Frühjahr 2024 konnte der Seehandel der Ukraine durch das Schwarze Meer ohne Abstimmung mit Russland zu einem großen Teil wieder aufgenommen werden.
Anfang 2024 starteten die russischen Streitkräfte einen neuen Vorstoß unter anderem in der Charkiwer Region, der jedoch bis Sommerbeginn nur unwesentliche Gewinne an Territorium brachte. Erfolgreicher waren massierte russische Raketen-, Gleitbomben- und Drohnenangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die im Frühjahr 2024 zum Verlust der meisten ukrainischen Kraftwerke führten und Stromabschaltungen im ganzen Land zur Folge haben. Weil die Angriffe unmittelbar vom russischen Territorium aus erfolgten, erteilten im Mai 2024 auch die USA und Deutschland Kyjiw die Erlaubnis, von ihnen gelieferte Waffen zumindest in begrenztem Umfang auch gegen Ziele auf russischem Territorium einzusetzen.
Ursachen und Hintergründe
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 waren der offizielle Status der russischen Sprache (ca. 17 % der ukrainischen Bevölkerung waren damals ethnische Russen), die Interpretation der zaristischen und sowjetischen Geschichte sowie die geopolitische Orientierung der Ukraine regelmäßige Streitthemen in der ukrainischen Öffentlichkeit. Doch verliefen diese Auseinandersetzungen ganz überwiegend friedlich. Anders als in einigen anderen postsowjetischen Staaten, wie z.B. Estland, Georgien oder Lettland, wurden Fragen der Identität, Staatsbürgerschaft und Kultur in der Ukraine betont liberal behandelt.
Die zunehmende Aggressivität der russischen Führung während und nach der Euromaidan-Revolution (November 2013 bis Februar 2014) in der Ukraine hat hauptsächlich innerrussische Gründe. Der bis zur globalen Finanzkrise von 2008 implizite wohlfahrtsautoritäre russische Gesellschaftsvertrag zwischen der herrschenden Elite und dem Volk war aufgrund der stagnierenden Wirtschaft und schrumpfender Realeinkommen nicht mehr zu erfüllen. Deshalb wuchs im Kreml die Angst, dass mit einer erfolgreich „europäisierten“ Ukraine ein Gegenmodell zum „System Putin“ entstehen könnte.
Zudem sank nach der Fertigstellung der ersten Nord Stream-Gaspipeline durch die Ostsee von Wyborg nach Lubmin Ende 2012 die Abhängigkeit Russlands von Gaslieferungen über das ukrainische Territorium. Die zunehmende energiewirtschaftliche Entflechtung zwischen Russland und der Ukraine trug wesentlich zu der ab 2013 von Moskau forcierten Eskalation des Konflikts bei.
In den Umbruchswirren nach der Maidan-Revolution 2013/14 gelang es Russland, mit einer massiven Propagandakampagne die beginnende Demokratisierung, nationale Emanzipation und Europäisierung der Ukraine als antirussischen, „faschistischen“ Putsch und die Westorientierung als fundamentale Verletzung nationaler und geostrategischer Interessen Russlands zu diskreditieren. Als „Hauptfeind“ wurden die „Banderowzy“ deklariert. Um die Spannungen anzuheizen, rekrutierte Moskau sowohl in der Ostukraine als auch in Russland einige zehntausend militante Großrussland-Anhänger für eine von russischen Geheimdiensten unterstützte paramilitärische Intervention im Donbas.
Parallel zur völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und von Teilen der Ostukraine wurde ein „hybrider Krieg“ gegen die Ukraine intensiviert, in dem nichtmilitärische Kampfformen (z.B. ökonomischer Druck, Medienkampagnen, geheimdienstliche Unterwanderung, „Passportisierung“ ) eine ebenso große Rolle spielen wie militärische und paramilitärische Operationen. Die Krim wurde zunehmend in die russische Administration und Wirtschaft sowie das Kulturleben und Bildungswesen der Russischen Föderation inkorporiert. Mit der Errichtung einer Brücke über der Kertscher Meerenge entstand 2019 eine erste Landverbindung zwischen dem russischen Festland und der Krim.
Dem Machtwechsel bei den Parlamentswahlen im Frühjahr und Sommer 2019 nach der Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten und Sieg seiner Partei „Diener des Volkes“ folgte die Übernahme der Exekutive und Legislative durch eine neue, betont antinationalistische politische Mannschaft. Der in Moskau erwartete prorussische Kurswechsel nach Abtritt des national orientierten Präsidenten Petro Poroschenko trat nicht ein. Vielmehr verfestigte sich die proeuropäische und -atlantische Orientierung.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Im März 2014 initiierte die Ukraine gemeinsam mit westlichen Regierungen eine Abstimmung der UN-Vollversammlung, bei der sich 100 Staaten gegen die Annexion der Krim aussprachen, während lediglich 11 Staaten (Armenien, Belarus, Bolivien, Kuba, Nikaragua, Nordkorea, Russland, Simbabwe, Sudan, Syrien und Venezuela) die Resolution ablehnten. Auch die OSZE wurde aktiv. Sie entsandte eine spezielle Beobachtermission in die Ostukraine und unterstützte die Friedensverhandlungen in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Dort versuchten im September 2014 und Februar 2015 Deutschland und Frankreich, zwischen Russland und der Ukraine einen Ausgleich bezüglich des Donbas zu vermitteln.
Die der Ukraine weitgehend aufgezwungenen asymmetrischen Vereinbarungen führten weder zu einer wirksamen Waffenruhe noch zur Wiederherstellung der Kontrolle Kyjiws über die Territorien der beiden „Volksrepubliken“ in der Ostukraine. Vielmehr besetzten die „Separatisten“ mit Unterstützung regulärer russischer Truppen im Februar 2015 in demonstrativer Missachtung des kurz zuvor unterzeichneten zweiten Minsker Abkommens in einer blutigen Schlacht den Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe und umliegende Gebiete.
Anfängliche Bemühungen der ukrainischen Regierung, einen temporären Sonderstatus der okkupierten Teile der Regionen Luhansk und Donezk in der Verfassung zu verankern, stießen allerdings nicht nur unter ultranationalistischen Gruppen, sondern in den meisten Fraktionen des Parlaments und bei einer Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft auf Widerstand. Die meisten Kritiker der Minsker Abkommen verlangten, dass zunächst die illegalen bewaffneten Gruppen aus den besetzten Gebieten abziehen und die Grenze zu Russland vollständig unter ukrainische Kontrolle zurückkehren müssten. Erst danach könnten Regional- und Kommunalwahlen durchgeführt und besondere Autonomierechte gewährt werden. Andere Kritiker verwiesen auf die seit 2014 ohnehin stattfindende Dezentralisierung der Ukraine und lehnten darüberhinausgehende Sonderrechte für die vom Kreml kontrollierten Territorien ab.
Unterdessen schritt die Entfremdung zwischen dem ukrainischen Kernland und den annektierten Gebieten voran. Mit dem Bildungsgesetz von 2017 wurde Ukrainisch (mit einigen Ausnahmen) als einheitliche Unterrichtssprache in staatlichen Schulen ab der Sekundarstufe eingeführt. 2018 wurde das Sprachengesetz von 2012, das die Verwendung von Russisch als Amtssprache zuließ, vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig ausgesetzt. Ein neues Sprachengesetz 2019 definiert Ukrainisch als alleinige Staatssprache und schreibt seine ausschließliche bzw. überwiegende Anwendung in vielen Gesellschaftsbereichen vor.
Mit Beginn der russischen Großinvasion im Februar 2022 haben sich die Voraussetzungen für eine Verhandlungslösung des seit 2014 schwelenden Konflikts deutlich verschlechtert. Die Minsker Vereinbarungen sind hinfällig geworden. Stand Mai 2024 gibt es sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite weder eine Verhandlungsgrundlage noch ernsthaften Verhandlungswillen. Zwar hatte die Ukraine im März 2022 mögliche Konzessionen angedeutet, darunter einen Neutralitätsstatus des Landes im Falle alternativer Sicherheitsgarantien sowie Verhandlungen mit Russland über die besetzten Gebiete. Doch nach den massiven russischen Kriegsverbrechen in Butscha und Mariupol hat die ukrainische Führung vorerst jegliche Zugeständnisse an Russland ausgeschlossen.
Ukraine - Physische Übersicht, Grenzen und Verkehr
Geschichte des Konfliktes
Die „Revolution der Würde“ am 21. November 2013 begann mit kleineren Demonstrationen gegen die Verschiebung der Unterzeichnung des ukrainischen Assoziierungsabkommens mit der EU. Nach der blutigen Auflösung eines Zeltlagers proeuropäischer Intellektueller und Studierender auf dem Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz weiteten sich die Proteste schnell aus. Die antioligarchische und prodemokratische Massenbewegung gipfelte am 21. Februar 2014 im Sieg über das kleptokratische Regime des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch sowie dessen Flucht nach Russland. Das Parlament enthob den Präsidenten seines Amtes und setzte Neuwahlen an.
Russland nutzte die unübersichtliche Lage in Kyjiw während der letzten Tage des Euromaidan-Aufstandes, um am 20. Februar 2014 die Okkupation der Krim zu beginnen. Damals war Janukowytsch noch Präsident der Ukraine und seine parlamentarische Amtsenthebung zwei Tag später nicht abzusehen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde kurz darauf das Parlamentsgebäude der Autonomen Republik Krim in Simferopol von einer unmarkierten russischen Spezialeinheit gestürmt. Im Anschluss wurden weitere ukrainische Verwaltungsgebäude und Kasernen von russischen Einheiten ohne Rang- und Hoheitszeichen besetzt.
Unter russischem Druck setzte das Krimer Republiksparlament eine provisorische Regierung ein und führte ein international nicht anerkanntes Pseudoreferendum durch, welches mit einer fragwürdig hohen Zustimmungsrate von 97 % den Anschluss der Krim bestätigte. Am 18. März 2014 wurde mit einem (illegalen und illegitimen) Vertrag der Beitritt der mehrheitlich von ethnischen Russen besiedelten Halbinsel (ca. 60 % der lokalen Bevölkerung) Krim und der Stadt Sewastopol als „föderale Subjekte“ in den russischen Staat besiegelt. Später wurde die russische Verfassung entsprechend geändert.
Der Beginn des Krieges in der Ostukraine kann auf den 12. April 2014 datiert werden. An diesem Tag besetzten aus Russland eingeschleuste Gruppen russischer und ukrainischer prorussischer irregulärer Kämpfer Verwaltungsgebäude in Slowjansk und Kramatorsk. Die Einheiten wurden häufig von russischen Staatsangehörigen geführt und von Moskau aus gesteuert und finanziert. Erste Höhepunkte der eskalierenden Kämpfe waren die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen prorussischen und proukrainischen Aktivisten am 2. Mai 2014 in Odessa sowie der Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs am 17. Juli 2014 über der Ostukraine.
Die ukrainische Armee war zu Beginn der Kampfhandlungen 2014 schlecht ausgerüstet und unterfinanziert, ihre Führung teilweise von russischen Agenten unterwandert. Daher spielten in der Anfangsphase des russisch-ukrainischen Krieges zahlenmäßig schwache, jedoch hochmotivierte Freiwilligenverbände eine wichtige Rolle. Die teils aus den Protesten auf dem Euromaidan hervorgegangenen Verbände verhinderten im Sommer und Herbst 2014 die Ausweitung der verdeckten russischen Intervention im Donbas. Bis auf einige halbreguläre paramilitärische Kleingruppen, wie das Ukrainische Freiwilligenkorps des „Rechten Sektors“, wurden diese Einheiten bis 2015 in die regulären Truppen des Verteidigungs- bzw. Innenministeriums eingegliedert.
Andreas Umland, Dr. phil., Ph. D., ist Analyst des Stockholmer Zentrums für Osteuropastudien (SCEEUS) am Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten (UI) sowie Dozent für Politologie an der Kiewer Mohyla-Akademie (NaUKMA).
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