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Afghanistan | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Afghanistan

Katja Mielke

/ 9 Minuten zu lesen

Die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Afghanistan ist schwierig. Naturkatastrophen und Massenabschiebungen aus Pakistan und Iran verschärfen die Situation im Land.

Ein bewaffneter Taliban-Kämpfer bewacht eine Straßensperre in der afghanischen Stadt Kandahar. (© picture-alliance, abaca | Zerah Oriane/ABACA)

Aktuelle Konfliktsituation

Nach ihrer weitgehend gewaltlosen Machtübernahme im August 2021 haben die Taliban eine Übergangsregierung gebildet und das "Islamische Emirat Afghanistan" ausgerufen. Sie konnten sich bisher gegen die noch verbleibende bewaffnete Opposition behaupten, die im Wesentlichen aus Anhängern und Sicherheitskräften der Vorgängerregierung – organisiert u.a. in der Nationalen Widerstandsfront – und dem lokalen Ableger des Terrornetzwerks „Islamischer Staat“ besteht. Während die Nationale Widerstandsfront mit kleineren Anschlägen auf sich aufmerksam macht und eine Regierungsbeteiligung anstrebt, verübt der Islamische Staat-Provinz Khorasan (ISPK) immer wieder Anschläge gegen Schiiten und Taliban, mit teilweise hohen Opferzahlen. Der ISPK rekrutiert auch international, um Anschläge auszuführen, so gegen eine Veranstaltungshalle in Krasnogorsk (Russland) im März 2024, mutmaßlich verübt von vier tadschikischen Gastarbeitern mit mehr als 140 Todesopfern.

Das aktuelle Gewaltniveau in Afghanistan ist deutlich geringer als vor 2021. Gleichwohl sind zahlreiche gewaltsame Repressionen gegen vermeintliche Regimegegner belegt. Sie richten sich insbesondere gegen Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte, Salafisten, protestierende Frauen und Männer, Journalisten sowie Bewohner von Gebieten, die als Unterstützungsregionen für die Nationale Widerstandsfront gelten. Opfer fordert ebenfalls der immer wieder eskalierende Konflikt mit Pakistan in den Grenzregionen.

Die US- und UN-Sanktionen gegen einzelne Mitglieder der Taliban sind mit deren Regierungseintritt auf den afghanischen Staat übergegangen. So steht der amtierende Premier, Mullah Akhund, auf der UN-Sanktionsliste. Das FBI hat 2008 für Hinweise zur Ergreifung des amtierenden Innenministers, Siradschudin Haqqani, ein Kopfgeld von bis zu 10 Mio. US-Dollar ausgesetzt. Sanktionsbedingt sind die zum Großteil im Ausland deponierten Budget- und Währungsreserven von etwa 9 Mrd. US-Dollar eingefroren und stehen nicht zur Deckung dringender humanitärer Bedarfe, insbesondere im Gesundheitsbereich, zur Verfügung. Die humanitäre Lage ist entsprechend prekär und wird durch Erdbeben und Naturkatastrophen, wie Dürren und Überschwemmungen, zusätzlich verschärft. Seit Oktober 2023 hat Pakistan mehr als eine halbe Million Afghanen und Afghaninnen abgeschoben. Die Zahl der abgeschobenen Arbeitsmigranten aus dem Iran ist noch höher. In der Folge gehen auch die Rücküberweisungen aus dem Ausland zurück.

Laut UNO können 69 % der Afghaninnen und Afghanen ihren Lebensunterhalt nicht decken; die Hälfte der Bevölkerung lebt laut Weltbank unterhalb der Armutsgrenze. Die für Mitte 2024 vorgesehene Abschiebung weiterer 800.000 Afghanen aus Pakistan wird die prekäre Arbeitsmarktsituation weiter verschlechtern. Zudem sind 43 % der Bevölkerung jünger als 15 Jahre und mehr als eine halbe Million junge Menschen erreichen jährlich das erwerbsfähige Alter. Der Wegfall von Verdienstmöglichkeiten durch die Anbauverbote für Schlafmohn, Cannabis und Ephedra hat vielen Afghanen eine wichtige Lebensgrundlage entzogen und den Migrationsdruck zusätzlich verschärft.

Ursachen und Hintergründe

Die Ursachen für die heutigen Konflikte in Afghanistan sind hauptsächlich in der Unvereinbarkeit der Interessen und Ziele von Modernisierungsbefürwortern und -gegnern zu suchen. Der Gegensatz, der sich erstmals im Widerstand konservativer Stammesführer gegen die Reformpolitik von Amanullah Khan in den 1920er Jahren manifestierte, wurde durch externe Mächte stets eher angefacht als überwunden (vgl. z.B. Hanifi 2021; Baraki 1996). Beispiele dafür sind die Unterstützung und Einflussnahme der Türkei unter Kemal Atatürk in den 1920er Jahren, des nationalsozialistischen Deutschlands in den 1930er Jahren, der Sowjetunion in den 1970er und 80er Jahren sowie der USA und anderer westlicher Staaten in den 2000er und 2010er Jahren.

Auf der Neuordnungskonferenz für Afghanistan auf dem Petersberg bei Bonn 2001 erhielten die mithilfe der USA siegreichen Nordallianzkräfte die Mehrheit der Kabinettsposten in der Übergangsregierung. Vertreter der Taliban-Bewegung und nicht-militärischer prodemokratischer Kräfte waren von der Teilnahme an der Konferenz und damit auch an der Neuordnung des Landes ausgeschlossen. Kein gutes Omen für den Neuanfang ab 2001 war zudem, dass für das Abschlussdokument der Petersberg-Konferenz ursprünglich angedachte Bestimmungen zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und der Aktivitäten der verschiedenen Kriegsparteien keine Berücksichtigung fanden. In den Folgejahren von zivilgesellschaftlichen Kräften und Menschenrechtsaktivisten angestoßene Untersuchungen zu Kriegsverbrechen seit den 1980er Jahren und der kriminellen Vergangenheit von Regierungsmitgliedern wurden systematisch unterdrückt. 2008 beschloss das Parlament eine Selbstamnestie für Kriegsverbrechen der Vergangenheit.

Das von der neuen afghanischen Regierung ausgehende und durch die internationale Intervention begünstigte Patronage-System hat weite Teile der afghanischen Bevölkerung marginalisiert. Die Justiz galt als korruptester Bereich der Staatsinstitutionen. Rechtsstaatliche Strukturen existierten nur auf dem Papier. Das Parlament war wegen des Verbots parteigestützter Fraktionen zersplittert. Die Armee bestand zu weiten Teilen aus „Geistersoldaten“, für die Vorgesetzte Sold und Ausrüstung kassierten und sich auf diese Weise bereicherten. Der Zugang zu Rechtsbeistand und Justizorganen war für viele Frauen nicht selbstverständlich, Journalisten wurden durch Regierungsvertreter bedroht und die Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt.

Die Taliban-Bewegung hat sich ab 2003 neuformiert und ihren bewaffneten Widerstand hauptsächlich damit legitimiert, dass die ausländischen Militärkräfte und die Kabuler Regierung als vom Westen oktroyierte und korrupte Macht nicht legitim sei. Angesichts des Unvermögens der Regierungen, grundlegende Bedarfe in Bezug auf Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung, Zugang zu unabhängiger Rechtsprechung und sozialer Teilhabe zu befriedigen, haben die Taliban in den ländlichen Gebieten, wenn nicht Zuspruch, so doch zumindest keine breite Ablehnung erfahren. So konnten sie ihren Einfluss sukzessiv ausdehnen.

Die seit Herbst 2021 zunehmenden Restriktionen der Taliban-Regierung gegenüber Frauen im öffentlichen Raum und im Bildungs- und Berufsleben, die Zensur der Medien, Druck auf Journalisten und die Verfolgung ehemaliger Regierungsangehöriger verstärkten besonders bei Angehörigen der urbanen Mittelschicht, die in den letzten 20 Jahren vom Wiederaufbau und den begrenzten Reformen profitiert hatten, den Wunsch, das Land zu verlassen. Dagegen sehen viele Bewohner des ländlichen Raums die neue Regierung als Garanten für ein Mindestmaß an Sicherheit und Stabilität.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Nachdem die USA sich nach 2001 lange geweigert hatten, mit den Taliban direkt zu verhandeln und mehrere alternative Gesprächsansätze, z.B. Russlands und Norwegens, erfolglos geblieben waren, brachte das US-Taliban-Abkommen von Doha (Katar) im Februar 2020 eine Kehrtwende in der internationalen Bearbeitung des Afghanistan-Konflikts. Die Vereinbarungen regelten den Abzug der US- und aller anderen ausländischen Truppen 2021. Im Gegenzug sicherten die Taliban zu, terroristische Gruppen zu neutralisieren, von denen eine Gefahr für andere Staaten ausgehen könnte. Während die USA bis heute die Bemühungen der Taliban-Regierung anerkennen, kritisiert die UNO eine Zunahme terroristischer Netzwerke auf dem Territorium Afghanistans. Der Ansatz der Übergangsregierung besteht darin, nichtstaatliche bewaffnete Gruppen – mit Ausnahme des IS – in ihre Sicherheitsstrukturen einzubinden.

Seit der Machtübernahme der Taliban bemüht sich das "Islamische Emirat Afghanistan" um internationale Anerkennung, doch bislang erfolglos. Die Priorität der Übergangsregierung sind Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft. Eine Intensivierung von Wirtschaftskontakten, insbesondere mit Afghanistans Nachbarstaaten in Zentralasien und Iran, aber auch mit Russland und China, ist zu beobachten. Dies kommt in den Augen einiger Beobachter einer De-facto-Anerkennung gleich. Einige Staaten, wie Kasachstan und Russland, haben die Taliban von der nationalen Liste verbotener (terroristischer) Gruppen und Organisationen genommen, weitere haben afghanische Diplomaten akkreditiert.

Hintergrund ist v.a. eine wirtschaftliche Motivation: Ein stabileres Afghanistan wird als Absatzmarkt und Transitland für profitable Infrastrukturprojekte wie Erdöl-, Erdgas- und Stromtrassen sowie Zugverbindungen gesehen. Vor allem Zentralasiatische Staaten erhoffen sich davon den Zugang zu Häfen am Indischen Ozean. So sind Bahnstrecken zwischen China und Peschawar in Pakistan via Kirgistan, Usbekistan (Termes) und Afghanistan (Masar-i-Scharif und Kabul) geplant. Außerdem gibt es Planungen, Tadschikistan über Afghanistan verkehrstechnisch enger an den Iran anzubinden. Fortgeschritten sind bereits Zugverbindungen zwischen Iran und Herat. Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan möchten Energieexporte auf den pakistanischen und indischen Markt realisieren. Die Weltbank hat 2023 bereits angekündigt, das grenzüberschreitende CASA-1000 (Megawatt) Energieprojekt zwischen Zentral- und Südasien erneut zu unterstützen. Schließlich könnte sich Turkmenistan über die Fertigstellung der Erdgasleitung TAPI (Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien) die Märkte der drei beteiligten Staaten erschließen.

Die grenzüberschreitenden Wirtschaftsprojekte sind im gemeinsamen Interesse aller beteiligten Staaten, und wie das Beispiel der Weltbank zeigt, scheinen internationale Geber zunehmend investitionsbereit. Die Umsetzung strukturbildender Vorhaben wären ein Pfad, um Afghanistan sukzessive aus der Abhängigkeit von humanitärer Hilfe zu lösen, indem Wirtschaftszweige und Beschäftigungsmöglichkeiten systematisch aufgebaut werden. Bis dato koordiniert die UNO die humanitäre Hilfe für Afghanistan und ist mit der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA) vor Ort präsent, u.a. um die Menschenrechtssituation zu beobachten. Seitens der afghanischen Zivilgesellschaft und humanitären Organisationen gibt es Vorwürfe gegenüber dem Regime, dass Taliban die Verteilung von Hilfe hinsichtlich Adressaten und Reichweite beeinflussen, was die Übergangsregierung bestreitet.

Geschichte des Konflikts

1973 wurde die Monarchie unter Mohammed Zahir Schah durch einen Militärputsch gestürzt. Der Umsturz beendete eine 40-jährige Periode weitgehenden inneren Friedens. Gegen einen weiteren Staatsstreich, diesmal afghanischer Marxisten am 27. April 1978 und ihre von oben verordneten Reformen formierte sich schnell breiter Widerstand. Konservative und islamistische Kräfte bezeichneten die neuen Machthaber als Ungläubige und ihre Reformen als Angriff auf den Islam.

Es begann ein langer Gewaltkonflikt. Die Entsendung sowjetischer Truppen Ende 1979 internationalisierte die Auseinandersetzungen. Die bewaffnete anti-staatliche Opposition (sog. Mudschahedin-Gruppen) wurden über Pakistan von westlichen Staaten und ihren Klienten, vor allem den USA und Saudi-Arabien, militärisch und finanziell unterstützt. Pakistan förderte einseitig islamistische Fraktionen und drängte so säkulare linke, nationalistische und monarchistische Widerstandsgruppen ins Abseits.

Nach dem sowjetischen Truppenabzug im Februar 1989, dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der Einstellung der Finanzhilfe an Kabul durch Russland im Folgejahr übernahmen die Mudschahedin im April 1992 die Herrschaft in Kabul. Versuche verschiedener Fraktionsführer, die Macht zu monopolisieren, mündeten in einen Bürgerkrieg. Als Reaktion darauf formierte sich die Taliban-Bewegung ab 1994 im Süden des Landes. Mit pakistanischer Unterstützung drang sie landesweit vor und nahm 1996 Kabul ein.

Die Taliban riefen ein islamisches Emirat aus. Doch wegen der drakonischen Maßnahmen gegen alle, die nicht in ihr rigides islamistisches Weltbild passten, verloren sie schnell an Akzeptanz. Ein weiterer Grund war die Tatsache, dass die Taliban-Regierung nicht in der Lage war, die Bedarfe der Bevölkerung zu befriedigen. Hinzu kam militärischer Widerstand von Seiten der „Nordallianz“, die sich vor allem in Nordafghanistan aus Bürgerkriegsparteien formiert hatte. So verfügten die Taliban zu keinem Zeitpunkt über das Gewaltmonopol und die volle territoriale Kontrolle des Landes. Zudem waren sie aufgrund ihrer Radikalität und der Verletzung internationaler Standards der Menschenrechte außenpolitisch weitgehend isoliert.

Ab 1998 wurde die Taliban-Regierung mit internationalen Sanktionen belegt. Hintergrund waren Anschläge auf US-Einrichtungen in Tansania und Kenia, für die die US-Regierung Al-Qaida-Anführer Osama bin Laden verantwortlich machte, der ein Gastrecht auf afghanischem Territorium genoss. Nach dem 11. September 2001 intervenierten die USA ab 7. Oktober 2001 gegen die Taliban mit Flächenbombardements und versetzten die Nordallianz so in die Lage, Kabul einzunehmen. Dies war der Beginn der US-geführten Militäroperation „Enduring Freedom“, die mit dem NATO-Bündnisfall und der Entsendung einer „International Security Assistance Force“ (ISAF) ab Anfang 2002 die militärische Intervention prägte. Die Taliban galten schnell als militärisch besiegt und die Bush-Administration erklärte die Verfolgung von Al-Qaida und Osama bin Laden zu einem zentralen Ziel des „Kriegs gegen den Terror“.

Grenzstreitigkeiten zwischen Afghanistan und Pakistan aufgrund des Paschtunistan-Konflikts stellen seit den 1950er Jahren einen regionalen Konfliktkatalysator dar. Afghanistan erkennt die sogenannte Durand-Linie nicht an und förderte immer wieder paschtunische Autonomie-, Sezessions- und Aufstandsbewegungen auf pakistanischem Territorium. Pakistan unterstützte im Gegenzug die afghanischen Taliban. Seit 2022 wirft Pakistan Kabul vor, der pakistanischen Taliban-Bewegung (Tehrik-e-Taliban Pakistan, TTP), die den Staat und das Militär in Pakistan aktiv bekämpft, in Afghanistan Rückzugsräume zu bieten.

Weitere Inhalte

Dr. Katja Mielke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am bicc (Bonn International Centre for Conflict Studies). Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren zu Afghanistan und hat zum Thema lokale Ordnungsstrukturen und Staatlichkeit im Nordosten Afghanistans am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn promoviert.