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Meinung: Die Zweistaatenlösung nicht vorschnell über Bord werfen | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Meinung: Die Zweistaatenlösung nicht vorschnell über Bord werfen

René Wildangel

/ 8 Minuten zu lesen

Die derzeit realistischste Perspektive für eine Deeskalation und Friedensregelung im Nahen Osten bietet nach wie vor eine Zweistaatenlösung, glaubt René Wildangel. Doch vor einem Neustart müssen die Gründe für das Scheitern bisheriger Lösungsversuche analysiert werden.

Mit UN-Resolution 67/19 vom 29. November 2012 erhielt Palästina den Status eines Beobachterstaats bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen. (© picture-alliance, Photoshot)

Nie schien die Aussicht auf einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern weiter entfernt als derzeit. Der brutale Überfall der Hamas vom 7. Oktober mit fast 1.200 Toten und 250 Entführten erinnern Jüdinnen und Juden in Israel und der ganzen Welt an die dunkelsten Stunden ihrer Geschichte, die Shoa, und die grundlegende Infragestellung ihrer Existenz. Auf der palästinensischen Seite rufen die anhaltende israelische Bombardierung und das Leid der Bevölkerung des Gazastreifens die „Nakba“, die große Katastrophe, in Erinnerung, wie Palästinenser die Vertreibung und Flucht des Jahres 1948 nennen. Die Traumata sind enorm, die Narrative verhärten sich.

In dieser Situation erscheint das Reden über eine Friedenslösung im Nahen Osten völlig unrealistisch. Dabei sollte ja eigentlich Einigkeit darüber bestehen, dass es dringender denn je eine Ordnung braucht, die die legitimen Rechte und die Sicherheit aller zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer lebenden Menschen garantiert. Und dass dies das Ziel sein muss, bestreiten höchstens die Extremisten auf beiden Seiten: Sie beanspruchen jeweils das ganze Land für sich, wollen die andere Seite verdrängen. Das gilt für die radikale israelische Rechte und ihre Vision eines „Großisraels“ ebenso wie für palästinensische Extremisten, wie jene Vertreter der Hamas, die unverhohlen eine Vernichtung des israelischen Staates fordern.

Waffenstillstand als erster Schritt

Damit überhaupt wieder ein Nachdenken über politische Lösungen beginnen kann, muss erst einmal der furchtbare Krieg in Gaza enden, so wie dies eine Resolution des Sicherheitsrates er Vereinten Nationen bereits im März 2024 forderte. Zuletzt hat US-Präsident Biden einen möglichen Weg von einem kurzfristigen zu einem dauerhaften Waffenstillstand und Wiederaufbau vorgeschlagen.

Zunächst muss das Leid der Menschen in Gaza gelindert, fast neunzigtausend Verletzte versorgt, Unterernährung bekämpft und massenhafte Traumatisierung geheilt werden. Allein das ist eine Mammutaufgabe. Denn der Gazastreifen, inklusive seiner gesamten zivilen Infrastruktur, ist in großen Teilen zerstört. Ein echter Wiederaufbau, der für den Großteil der Bevölkerung zentral ist, deren Wohnstätten zerstört oder beschädigt wurden, muss rasch und umfassend beginnen. Das geht nur, wenn – anders als in der Vergangenheit – die Grenzen für Baumaterial und humanitäre Güter geöffnet werden. Voraussetzung dafür sind entsprechende Kontrollen zur Gewährleistung der Sicherheit Israels vor neuerlichen Angriffen und der Verhinderung von Waffenschmuggel.

Mittelfristig gilt es, die Grundlagen für einen neuen politischen Prozess zu schaffen, der das Ziel einer dauerhaften Friedensregelung wieder auf die Tagesordnung setzt. Damit dies gelingen kann, lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf den Oslo-Prozess und die Gründe seines Scheiterns zu werfen.

Der gescheiterte Oslo-Prozess

Es ist inzwischen über 30 Jahre her, dass die Welt auf eine Beilegung des jahrzehntelangen Konfliktes hoffen konnte: Am 13. September 1993 besiegelten der damalige israelische Premierminister, Jitzchak Rabin, und der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO), Jassir Arafat, im Weißen Haus in Washington D.C. per feierlichem Handschlag die sogenannte „Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung“, mit der der Friedensprozess von Oslo begann und die palästinensische Autonomiebehörde (PA) gegründet wurde.

Unter dem Motto „Land für Frieden“ verpflichtete sich Israel, sich nach und nach aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Nach einer fünfjährigen Übergangszeit sollte ein unabhängiger palästinensischer Staat entstehen. Dass gerade die unerbittlichen Hardliner Rabin und Arafat zu dieser Wende fähig waren, brachte ihnen (und Shimon Peres) nicht nur den Friedensnobelpreis (1994) ein, sondern nährte auch die Hoffnung auf eine historische Wende zum Frieden.

Allerdings wurden die wichtigsten Streitthemen – zum Beispiel die Zukunft der jüdischen Siedlungen und der Grenzverlauf zwischen beiden Staaten, vor allem im von beiden Seiten als Hauptstadt beanspruchten Jerusalem – zunächst ausgeklammert, weshalb Kritiker des Abkommens sehr früh sein Scheitern voraussagten. Die Hoffnung auf eine dauerhafte Konfliktregelung ging schließlich in uferloser Gewalt unter. Während der größten Friedensdemonstration, die Israel bis dahin erlebt hatte, am 4. November 1995, wurde Jitzchak Rabin von einem jüdischen Extremisten ermordet.

Die Hamas untergrub zudem mit Selbstmordattentaten in Israel gezielt das Vertrauen in den Prozess und trug so dazu bei, dass Benjamin Netanjahu vom rechten Likud-Block erstmals zum Premierminister gewählt wurde. Schon damals unterstützte er die Siedlerbewegung und stemmte sich mit aller Kraft gegen jegliche Ansätze palästinensischer Eigenständigkeit. Zuletzt, im Februar 2024, brüstete er sich vor den Hardlinern seiner Koalition: „Jeder weiß, dass ich derjenige bin, der seit Jahrzehnten die Gründung eines palästinensischen Staates verhindert hat, der unsere Existenz gefährden würde.“

Israel vs. Palästina – ein asymmetrischer Konflikt

Weder die US-Regierung noch die internationale Gemeinschaft waren damals bereit, mit einer entschlossenen Politik und neuen Verhandlungsformaten auf das Scheitern von Oslo zu reagieren. Man ließ die Gegner einer Friedenslösung auf beiden Seiten gewähren und die Befürworter mit den Folgen des Scheiterns allein. Im Übrigen tat man so, als sei die Zweistaatenlösung noch relevant. Das war fatal, vor allem weil es sich um einen asymmetrischen Konflikt handelt. Das heißt, dass zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde die wirtschaftliche, politische und militärische Macht sehr ungleich verteilt ist.

In der Konsequenz bestanden zwar die wesentlichen Strukturen des Oslo-Friedensprozesses, die zu zwei gleichberechtigten Staaten führen sollten, an der Oberfläche fort, doch tatsächlich verfestigte sich von Jahr zu Jahr eine israelisch dominierte „Einstaaten-Realität“ mit zeitlich unbegrenzter Besatzung, fortschreitender Besiedlung des Westjordanlandes und einem seit 2007 dauerhaft abgetrennten und zeitweise komplett abgeriegelten Gazastreifen unter der Kontrolle des Hamas. Die wiederum nutzte das so gewonnene Operationsgebiet, um Israel mit Raketenangriffen zu terrorisieren und sich so als Hort des „Widerstands“ im Gegensatz zur handlungsunfähigen Autonomiebehörde zu profilieren.

Argumente für eine Zweistaatenlösung

Vor diesem Hintergrund liegt die Schlussfolgerung nahe, als Konsequenz aus den Fehlern und Unterlassungen der letzten Jahrzehnte die Zweistaatenlösung und alles, was damit zusammenhängt, endgültig über Bord zu werfen. Mit dem brutalen Angriff des 7. Oktober und den folgenden Monaten des Krieges und der weitreichenden Zerstörung in Gaza, worunter hauptsächlich Zivilisten zu leiden haben, sind die unmittelbaren Friedensaussichten in beiden Gesellschaften auf dem Tiefpunkt angekommen. Doch das ändert nichts daran, dass Israelis und Palästinenser auf Dauer gemeinsam in einem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer (dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina) zusammenleben müssen.

Das ist sicher auch in anderen Modellen als der Zweistaatenlösung vorstellbar. Doch jede neue Initiative kommt nicht umhin, die konkrete Situation nach der jüngsten Gewaltexplosion vor Ort in Rechnung zu stellen. Gegenwärtig und auf absehbare Zeit scheinen Realisierungschancen für Entwürfe, wie die einer israelisch-palästinensischen Konföderation, die eine viel engere Zusammenarbeit und Verquickung beider Gesellschaften vorsehen, geringer als je zuvor.

Aus meiner Sicht wäre daher ein stufenweises Vorgehen sinnvoll, das sich auf einige grundlegende Prinzipien der Zweistaatenregelung besinnt, ohne die Fehler des Oslo-Prozesses zu wiederholen:

Erstens ist die Zweistaatenlösung mit der ihr zugrundeliegenden zentralen Idee – der Koexistenz zweier unabhängiger Staaten – in den Resolutionen der Vereinten Nationen, im Völkerrecht und in der internationalen politischen Ordnung fest verankert. Israel ist in den Staatsgrenzen von 1967 international anerkannt, während die Westbank, Ost-Jerusalem, Gaza und der Golan als besetzt gelten. Aus diesem Grund ist gemäß der vierten Genfer Konvention (1949) die Ansiedlung israelischer Bürger in diesen Gebieten völkerrechtswidrig und daher illegal.

Zweitens braucht die palästinensische Seite eine legitime und repräsentative Vertretung, um mit Israel und unterstützt von der UNO und starken internationalen Partnern eine tragfähige Friedenslösung auszuhandeln. Die palästinensische Autonomiebehörde (PA) wurde gegründet um als Nukleus eines palästinensischen Staates diese Funktion zu übernehmen. Doch dafür müsste die PA erneuert und gestärkt werden. Die derzeitige israelische Regierung beabsichtigt mit ihrem Finanzminister, Bezalel Smotrich, das Gegenteil, wenn sie die Stellung der PA untergräbt, die ihr zustehenden Steuereinnahmen einbehält und ihre Bewegungsfreiheit einschränkt.

Drittens hält ein Großteil der Staaten an der Zweistaatenlösung fest. Palästina wurde inzwischen von 145 Ländern als unabhängigen Staat anerkannt. Das sind ungefähr Dreiviertel aller 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Dazu gehören alle arabischen Staaten. Das ist ein nicht zu unterschätzender regionaler und globaler Rückhalt für einen Neustart auf dem Weg zu einem Nahost-Frieden.

Die nächsten Schritte

Ein möglicher Einstieg in einen politischen Prozess im Nahen Osten könnte die Wiederbelebung der „Arabischen Friedensinitiative“ von 2002 sein. Diese sah vor, dass mit dem Ende der israelischen Besatzung und der Schaffung eines palästinensischen Staates die gesamte arabische Welt bzw. die Staaten der Arabischen Liga ihre Beziehungen mit Israel normalisieren. Das wäre eine ungeheure Chance für den Frieden und den Wohlstand in der Region. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Jordanien und Ägypten haben zuletzt bei mehreren Treffen deutlich gemacht, dass sie weiterhin zu den Prinzipien der Arabischen Friedensinitiative stehen, um „die palästinensische Frage auf der Grundlage der Zweistaatenlösung zu lösen".

Ein weiterer Baustein wäre eine nachhaltige Stärkung und demokratische Legitimierung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Sie zeigt seit Jahren bedenkliche autokratische Tendenzen; die letzten Wahlen haben im Januar 2006 stattgefunden. Das Kriegsgeschehen in Gaza und die wachsende Gewalt israelischer Siedler im Westjordanland haben aller Welt ihre mangelnde Handlungsfähigkeit vor Augen geführt. Deshalb sollten so schnell wie möglich freie und inklusive Wahlen für die Nachfolge des 89jährigen Präsidenten Mahmoud Abbas durchgeführt werden. Umfrage zufolge verfügt zum Beispiel der in israelischer Haft befindliche Marwan Barghouti über die notwendige integrative Kraft, um eine Mehrheit der Palästinenserinnen und Palästinenser zu vertreten.

Zur Stärkung der PA gehört auch, deren Hoheit auf Gaza auszudehnen und wieder funktionierende Verwaltungs- und Verkehrsverbindungen zwischen den Gebieten zu ermöglichen, die den palästinensischen Staat bilden sollen, also zwischen dem Westjordanland, Gaza und Ost-Jerusalem. Das wäre nicht zuletzt auch ein Schritt, um die Machtasymmetrie zwischen der israelischen und palästinensischen Seite zu verringern.

Ein solcher politischer Weg, der von den USA, der EU und arabischen Staaten aktiv begleitet werden muss, könnte auch in der israelischen Öffentlichkeit wieder zu mehr Zuversicht in Bezug auf die Möglichkeit einer friedlichen Konfliktregelung führen und zu einer Neuausrichtung der israelischen Politik nach dem zu erwartenden Ende der Ära Netanyahu und seiner rechtsextremen Siedlerkoalition beitragen. Wenn sie es mit einer Zweistaatenlösung ernst meinen, sollten jetzt endlich auch die EU, Deutschland und die USA Palästina als Staat anerkennen.

Weitere Inhalte

Dr. René Wildangel studierte Geschichte in Köln und Jerusalem und Arabisch in Damaskus. 1996 kam er zum Studium an die Hebräische Universität in Jerusalem und erlebte das Scheitern des Friedensprozesses. Seit dieser Zeit forscht und schreibt er zum Thema und verbrachte er immer wieder Zeit vor Ort, unter anderem von 2011 bis 2015 als Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. Den Gazastreifen besuchte er zuletzt im Mai 2023.