Der Weg zum Frieden
Die Unabhängigkeit Namibias am 21.3.1990 beendete einen der längsten, ab 1966 auch militärisch ausgetragenen Unabhängigkeitskonflikte in Afrika. Die Stellung des Landes als von der südafrikanischen Mandatsmacht "veruntreutes", d.h. dem Zugriff der UN vorenthaltenes Mandat machte den Unabhängigkeitskonflikt in besonderem Maß zum Gegenstand internationaler Politik. Die Unabhängigkeit stand im Zeichen des Endes der Blockkonfrontation und der politischen und ökonomischen Krise des südafrikanischen Apartheidregimes. Die bereits im Vorfeld in internationalen Verhandlungen festgeschriebenen Verfassungsgrundsätze, einschließlich umfassender Eigentumsgarantien für die weiße Oberschicht, schufen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen Transitionsprozess.
Die Wahlen Ende 1989 wurden von der bis dahin umfangreichsten UN-Mission unterstützt. Nach dem überwältigenden Sieg der Befreiungsorganisation SWAPO (South West African People’s Organisation) wurde die nach wie vor als demokratisches Musterdokument geltende Verfassung ausgearbeitet. Die Swapo-Partei stellt seit 1990 mit absoluter Mehrheit die Regierung. Sie verfolgt offiziell eine Politik der nationalen Versöhnung. Der reale strategische Kern ist indes ein Elitenpakt zwischen der "alten" weißen besitzenden Klasse, deren wirtschaftliche Privilegien weitgehend unangetastet blieben, und einer kleinen schwarzen Oberschicht aus Swapo-Veteranen, schwarzen Politikern, hochrangigen Verwaltungsbeamten und Unternehmern – der sogenannten blackoisie. Eine pauschale Amnestie verhinderte die Aufarbeitung der Vergangenheit, die von schweren Menschenrechtsverletzungen beider Kriegsparteien gekennzeichnet war. Während des Befreiungskrieges in den 1980er Jahren ist es auch in den Lagern der Swapo zu massiven Menschenrechtsverletzungen gekommen. Die Kehrseite dieses problematischen Arrangements ist, dass die großen sozialen Ungerechtigkeiten und Gegensätze bis heute weitgehend unverändert fortbestehen.
Stabilität und Schritte zur Veränderung
Es gibt keinen Zweifel an der demokratischen Legitimität der Swapo, die in sämtlichen Wahlen seit der Unabhängigkeit eine überwältigende Mehrheit gewann. 2019 verfehlte die Regierungspartei allerdings erstmals seit 1994 die Zweidrittelmehrheit, und Präsident Hage Geingob erzielte nur noch 56% der Stimmen (2014: 86%). Ob sich die bei den Wahlen gestärkte, aber weiterhin zersplitterte parlamentarische Opposition künftig mehr Geltung verschaffen kann, bleibt abzuwarten.
Die politischen Auseinandersetzungen werden zunehmend in einer ethnischen Sprache bis hin zu gegenseitiger Herabsetzung geführt, die bis in das Alltagsleben vordringt. Ressentiments beziehen sich vor allem auf die vorgebliche Bevorzugung der "Owambo" aus dem Norden des Landes, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt und die Swapo regelmäßig massive Mehrheiten gewinnt. Ungeachtet des Prinzips der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit fühlen sich lokale Gruppen immer wieder benachteiligt, etwa bei der Zuweisung von umverteiltem Farmland.
Nach der Unabhängigkeit ermöglichte die staatliche Kontrolle über die natürlichen Ressourcen die Verteilung wirtschaftlicher Privilegien an die neue schwarze Elite, die in breiter Front in Führungspositionen in der Verwaltung und in Staatsbetrieben sowie im Rahmen des Black Economic Empowerment (BEE) auch in private Unternehmen eingerückt ist. Die Bestandsgarantie für staatlich Beschäftigte, das Bemühen zur Schaffung einer loyalen Bürokratie, Polizei und Armee sowie die Versorgung ehemaliger Befreiungskämpferinnen und -kämpfer haben dabei zu einer höchst problematischen Aufblähung des Staatsapparates geführt.
Die mit großem Aufwand propagierte Harambee-Entwicklungsstrategie von Präsident Geingob ist weitgehend in Ankündigungen und Versprechungen stecken geblieben. Das gilt für die Selbstverpflichtungen der Minister/-innen zu ethischem Handeln ebenso wie für die Armutsbekämpfung, für die eigens ein Ministerium geschaffen wurde. Das Ministerium blieb jedoch weitgehend ineffektiv und wurde bei der Neubildung der Regierung 2020 wieder abgeschafft. Doch der "Fishrot"-Skandal Ende 2019 um den illegalen Handel mit Fischereiquoten durch Minister und hochrangige Beamte zugunsten der größten isländischen Fischereifirma "Samherji" verdeutlichte erneut das nach wie vor große Ausmaß der Korruption.
Probleme und Defizite
Sozioökonomisch ist das Land auch 30 Jahre nach der Unabhängigkeit durch das Erbe von Siedlerkolonialismus und Apartheid belastet. Die Klassifizierung Namibias als "Land mit höherem mittlerem Einkommen" kontrastiert mit einer extrem ungleichen Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen. Beim Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) rangierte Namibia 2018 mit einer Kennzahl von 0,645 an 130. Stelle. Die Kennziffern verbesserten sich leicht, aber in der Rangfolge fiel das Land zurück. Die drastischen Ungleichheiten nach sozialen Gruppen, Regionen und Ethnien verstärken sich immer mehr. Der entsprechend dem Armutsniveau angepasste HDI beträgt denn auch nur 0,417, was ein Abrutschen um 14 Plätze gegenüber dem unbereinigten HDI bedeutet. Auch die Unterschiede zwischen den Regionen sowie zwischen der Hauptstadt und ländlichen Gebieten sind gravierend. Weitere Indizien für potenzielle soziale Spannungen sind die hohe Arbeitslosigkeit und der expandierende informelle Wirtschafssektor bei anhaltend hoher Urbanisierungsrate. Auch der Bericht der Mo Ibrahim Foundation belegt Defizite und Rückschläge, vor allem bei Bildung, sozialen Dienstleistungen, aber auch bei Transparenz und Korruptionsbekämpfung.
Lange Zeit wurde Unzufriedenheit öffentlich kaum artikuliert. In den letzten Jahren kam es zu Neuformierungen in der Gewerkschaftsszene sowie zu offiziellen wie auch inoffiziellen Streiks. Ein langjähriges Problem war die soziale Lage von Veteranen des Befreiungskrieges, von denen viele noch nicht einmal eine minimale soziale Absicherung erhielten. Die ungleiche Verteilung des kommerziell nutzbaren Farmlandes besitzt nicht zuletzt große symbolische Bedeutung. Sie ist eine direkte Folge der deutschen Kolonialherrschaft (1884-1915). Die Nachfahren derjenigen Klans und Stämme, die von der deutschen Kolonialverwaltung und den Truppen massenweise von ihrem Land in Zentral- und Südnamibia vertrieben und ermordet wurden, warten bis heute vergeblich auf Wiedergutmachung für diesen Völkermord. Die nach einer zweiten Landkonferenz im Spätjahr 2018 eingerichtete "Kommission für angestammtes Land" (Ancestral Land Commission) hat bisher keine Ergebnisse gebracht. Begrenzte Landvergaben an Neueigentümer gaben häufig Anlass zum Vorwurf der Vetternwirtschaft.
Seit Ende 2014 erhielt diese Auseinandersetzung eine neue Wendung. Die aus der Swapo Youth League (SPYL) hervorgegangene Gruppierung "Affirmative Repositioning" fordert offensiv die Zu- und Neuverteilung städtischen Baugrunds. Parallel dazu hat sich vor allem in Zentral-Namibia und im Süden, d.h. in den Regionen, wo die kommerzielle Farmwirtschaft nach wie vor weitgehend von weißen Farmern kontrolliert wird, eine Landlosen-Bewegung (Landless People’s Movement – LPM) gebildet, die zur Gründung einer Partei führte, die nach den Wahlen Ende 2019 mit vier Abgeordneten in die Nationalversammlung einzog. In welchem Maß der sehr vehementen Rhetorik der Partei konkrete Taten – etwa die Besetzung von Farmen, deren Eigentümer außer Landes wohnen – folgen werden, bleibt abzuwarten. Mit einiger Sicherheit ist damit zu rechnen, dass die LPM bei den für Ende 2020 vorgesehenen Lokal- und Regionalwahlen in den südlichen Regionen Mehrheiten mobilisieren können wird, was die lokale Dominanz der Swapo einschränken würde.
Die Landfrage steht auch im Zentrum der Reparationsforderungen, die Nachkommen der Überlebenden des von kaiserlich-deutschen Kolonialtruppen zwischen 1904-1908 begangenen Völkermords vor allem an Ovaherero und Nama an die Bundesrepublik richten. Nachdem das Auswärtige Amt im Juli 2015 den Tatbestand des Völkermords akzeptiert hat, schien ein wesentliches Hemmnis für eine konstruktive Versöhnungspolitik beseitigt. Doch besteht die deutsche Seite weiter darauf, dass Leistungen zugunsten der Opfergruppen nicht als "Reparationen", d.h. aufgrund eines Rechtsanspruchs erfolgen können. In Namibia, wo das Insistieren auf "Reparationen" Konsens ist, besteht indes ein tiefer Konflikt zwischen der Regierung und einem Großteil der Opfergruppen, die eine eigenständige Vertretung in den namibisch-deutschen Regierungsverhandlungen fordern. Diese gestalten sich weiter sehr schwierig; ein erfolgreicher Abschluss ist auch nach fünf Jahren nicht in Sicht.
Insgesamt macht sich in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung seit der Unabhängigkeit das Fehlen einer starken und handlungsfähigen parlamentarischen Opposition bemerkbar. Die Folge ist, dass sich vieles im außerparlamentarischen Bereich abspielt. Hervorzuheben sind die kleine, aber aktive Zivilgesellschaft, aber vor allem die für die geringe Bevölkerungszahl bemerkenswert vielfältige Presselandschaft. Neben der Auseinandersetzung mit der Politik der Regierung richtet sich die Kritik insbesondere gegen die sich verstärkende Korruption.
Bruchlinien innerhalb der Swapo wurden vor den Präsidentschaftswahlen deutlich, als mit Panduleni Itula ein verdienstvolles Swapo-Mitglied dem amtierenden Präsidenten und offiziellen Kandidaten der Partei, Hage Geingob, die Legitimität absprach und gegen den massiven Druck der Parteiführung als unabhängiger Kandidat antrat. Itula erhielt knapp 30% der Stimmen. Die Herausforderung wurde noch durch seine scharfe Kritik am Wahlprozess verstärkt: Die elektronischen Wahlmaschinen wurden ohne Dokumentation auf Papier eingesetzt. Der Supreme Court rügte dies auf Antrag Itulas im Nachhinein als illegal, bestätigte aber die Wahlen und ihr Ergebnis. Dennoch muss die Legitimität des politischen Systems als erschüttert gelten. Dafür spricht auch die zeitliche Parallelität zwischen dem "Fishrot"-Skandal, der auch mehr als ein halbes Jahr nach seinem Aufbrechen die Öffentlichkeit beschäftigt, und den fragwürdigen Aspekten des Wahlganges, zu dem neben der auf 60% abgesunkenen Wahlbeteiligung (2014: 70%) die tagelange Verzögerung gehörte, mit der die Wahlkommission das Ergebnis veröffentlichte.
Im ersten Halbjahr 2020 wurde auch in Namibia die drohende Corona-Pandemie mit einem landesweiten "lockdown" bekämpft. Dieser scheint zumindest im urbanen Bereich effektiv gewesen zu sein, wofür die sehr niedrigen gemeldeten Infektionszahlen sprechen. Bei anhaltender sozialer Unzufriedenheit und durch den "lockdown" zweifellos verstärkten Krisenmomenten darf dies zugleich als Beweis für ein erhebliches Maß an Handlungsfähigkeit von Seiten des Staates und an Loyalität von Seiten der Bevölkerung gesehen werden.