Der Weg zum Frieden
Mazedonien hat 1991 im Zuge des Zerfalls der Jugoslawischen Föderation ohne Waffengewalt seine Unabhängigkeit erreicht. Lange schien es, als könnte sich das Land aus den jugoslawischen Nachfolgekriegen heraushalten. Doch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verschärften sich im Gefolge des Bürgerkriegs im benachbarten Kosovo auch in Mazedonien die Spannungen zwischen der slawo-mazedonischen Mehrheit (58,4 %) und der albanischen Minderheit (ca. 24,3 %). Die anderen ethnischen Gruppen sind Türken (3,9 %), Roma (2,5 %), Serben (1,3 %) sowie 0,9 % Bosniaken und 0,5 % Walachen.
Ermutigt durch die Erfolge der "Befreiungsarmee des Kosovo" (UÇK) artikulierten insbesondere jüngere Albaner ihre Forderungen nach politischer, wirtschaftlicher und kultureller Gleichberechtigung zunehmend radikaler. Im mehrheitlich von Albanern bewohnten Norden und Westen Mazedoniens formierte sich die sogenannte "Nationale Befreiungsarmee", deren Abkürzung nicht zufällig ebenfalls UÇK lautete. Die Führung übernahmen u.a. aus Mazedonien stammende Kommandeure der kosovarischen UÇK, die in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Der Konflikt eskalierte zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. So griffen am 11. März 2001 Aufständische in Tetovo eine Polizeistation mit Granaten an.
Die Kämpfe wurden nach massivem Druck seitens der USA, der NATO und der EU auf beide Seiten mit dem Rahmenabkommen von Ohrid (13. August 2001) beendet. Das Abkommen, das von den vier größten politischen Parteien unterzeichnet wurde, legt ein System der Machtteilung fest. Danach muss neben einer slawo-mazedonischen Partei immer auch mindestens eine albanische Partei in der Regierung vertreten sein. Zudem müssen Gesetze, die die albanische Volksgruppe betreffen, von mindestens 50 % der albanischen Abgeordneten akzeptiert werden. Neben Mazedonisch sollte Albanisch zur zweiten Amtssprache werden. Die albanische Universität in Tetovo wurde wiedereröffnet.
Erfolge und Fortschritte
Weitere Festlegungen des Ohrid-Abkommens, wie die Dezentralisierung der staatlichen Verwaltung, die Neufestlegung von Gemeindegrenzen und Wahlbezirken unter Berücksichtigung der territorialen Verteilung der ethnischen Gemeinschaften sowie die Stärkung der lokalen Selbstverwaltung, sind heute in der Verfassung verankert und in nationale Gesetze gegossen. Dazu gehört auch der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung und proportionalen Vertretung der ethnischen Gemeinschaften in der öffentlichen Verwaltung, der Armee, der Polizei und in staatlichen Unternehmen.
Der durch das Ohrid-Abkommen eingeleitete Transitions- und Friedensprozess galt lange als Erfolgsgeschichte. Zwischen 2001 und 2020 fanden sieben Parlaments- und fünf Präsidentschaftswahlen statt, die zweimal zu einem grundlegenden Machtwechsel zwischen den beiden größten (slawo-mazedonischen) Parteien – der sozialdemokratischen SDSM und der nationalkonservativen VMRO-DPMNE – geführt haben. Dies wird allgemein als erfolgreicher Demokratietest gewertet. Seit 2017 regiert die SDSM gemeinsam mit zwei kleineren albanischen Parteien. Seit den letzten Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2019 stellt sie mit Stevo Pendarovski auch den Präsidenten.
Die SDSM-Regierung hat nach der tiefen innenpolitischen Krise im Jahr 2015 das Land auf den Weg der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen zurückgeführt. Auslöser der Krise war ein Abhörskandal. Dem damaligen Oppositionsführer und Vorsitzenden der SDSM, Zoran Zaev, waren Anfang 2015 Telefonmitschnitte des Geheimdienstes zugespielt worden. Darauf war u.a. zu hören, wie sich Regierungsmitglieder und Politiker der VMRO-DPMNE im Stil von Mafiabossen über Wahlbetrug, Erpressungen und die Beeinflussung von Medien und Justiz austauschten. In der Folge demonstrierten überall im Land zehntausende Menschen gegen die Regierung und verlangten ihren Rücktritt.
Die damals regierende VMRO-DPMNE und ihr Vorsitzender und Ministerpräsident, Nikola Gruevski, hatten seit Ende der 2000er Jahre versucht, in Mazedonien eine autoritäre Herrschaft zu etablieren. Zivilgesellschaftliche Aktivisten und Journalisten wurden eingeschüchtert, kritische Medien von der Regierung nahestehenden Unternehmen gekauft, Gerichte auf Regierungskurs gebracht. Hinzu kamen massive Wahlmanipulationen (z.B. gefälschte Wahllisten, Stimmenkauf, Einschüchterung). Diese Vorgänge sind als eines der ersten Beispiele für die Kaperung des Staates durch ein korruptes Machtkartell in Europa zu betrachten (Dzankic 2018).
Von den Veröffentlichungen der Abhörprotokolle wurde die EU-Kommission auf dem falschen Fuß erwischt. Jahrelang hatte Brüssel sich von der mazedonischen Regierung täuschen lassen und in diplomatisch formulierten jährlichen "Fortschrittsberichten" dem Land einen insgesamt erfolgreichen Annäherungsprozess an die EU bescheinigt. Als sich die Krise zuspitzte, ergriff die EU-Kommission die Initiative und beauftragte im Mai 2015 eine unabhängige Expertenkommission mit der Untersuchung der "systemischen Probleme", die durch die veröffentlichten Abhörprotokolle "enthüllt oder bestätigt" worden waren (European Commission 2015).
Die Empfehlungen der nach ihrem Leiter benannten Priebe-Kommission gingen in Vereinbarung zwischen den Vorsitzenden der vier großen mazedonischen Parteien ein, die im Juli 2015 durch Vermittlung der EU zustande kam. Das "Abkommen von Przhino" sieht u.a. folgende Punkte vor: Ernennung eines Sonderstaatsanwalts für die Untersuchung der in den Protokollen genannten Straftaten, Eintritt der Opposition in die Regierung, Bereinigung der Wählerlisten, Veränderung des Wahlrechts sowie Garantie der Medienfreiheit. Des Weiteren wurde vereinbart, dass Ministerpräsident Gruevski einhundert Tage vor den Parlamentswahlen zurücktritt. Im November 2018 hat sich Gruevski mit Hilfe ungarischer Diplomaten nach Ungarn abgesetzt und sich so einer zweijährigen Haftstrafe wegen Korruption entzogen.
Nach dem Länderbericht zu Nordmazedonien des Bertelsmann-Transformations-Index (bti) für 2022 ist es der SDSM-Regierung seit 2017 gelungen, insbesondere in den Bereichen staatliches Gewaltmonopol, Verwaltungshandeln, Presse- und Meinungsfreiheit sowie Bürger- und Menschenrechte, signifikante Fortschritte zu erreichen (Bertelsmann-Stiftung 2022). Die politischen Spannungen zwischen Mitgliedern innerhalb der politischen Elite werden nicht mehr mit Gewalt ausgetragen. Der Hauptkonflikt verläuft nun zwischen den beiden slawo-mazedonischen Parteien. Albanische Politiker besetzen zunehmend auch hohe Posten, wie z.B. den des Parlamentspräsidenten. Im Januar 2019 trat ein Gesetz in Kraft, mit dem Albanisch 18 Jahre nach dem Rahmenabkommen von Ohrid offiziell zur zweiten Amtssprache erhoben wurde.
Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wies in der vergangenen Dekade insgesamt eine positive Tendenz auf. Zwischen 2012 und 2019 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich drei Prozent im Jahr. Um mittelfristig das durchschnittliche EU-Niveau zu erreichen, müsste das jährliche Wachstum jedoch mindestens 6 % betragen. 2021 belief sich das mazedonische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung auf 5.660,47 €. Das ist gerademal ein Fünftel des EU-Durchschnitts (28.227,71 €). Wie fragil das Wachstum immer noch ist, belegen die Rückschläge in Folge der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrisen von 2008/09 und 2011/12 sowie der Corona-Pandemie 2020. Auch von den aktuellen Turbulenzen der Weltwirtschaft ist Nordmazedonien mit einer Inflationsrate zwischen 18 und 19 Prozent (Stand Ende 2022) im besonderen Maße betroffen.
In der Folge bleibt die soziale Situation trotz einiger Fortschritte insgesamt prekär. So ist die offizielle Arbeitslosenrate seit 2009 zwar rückläufig und hat sich mit 16,2 % für 2021 halbiert. Ein großes Problem bleibt jedoch die Jugendarbeitslosigkeit mit 36,9 % (2020). Von Armut und Ausgrenzung sind je nach Indikator zwischen 30 und 40 % der Bevölkerung tangiert. Wegen der Perspektivlosigkeit verlassen viele arbeitsfähige und gut ausgebildete Menschen das Land. Das entlastet zwar kurz- und mittelfristig die Arbeitslosenstatistik, stellt aber für die künftige Entwicklung des Landes eine riesige Hypothek dar. Die Bevölkerung ist seit Anfang der 2000er Jahre um 9,2 % auf 1,837 Mio. gesunken (2021). Dazu hat zuletzt auch die vergleichsweise hohe Übersterblichkeit infolge der Corona-Epidemie beigetragen (ca. 4.000 Tote) (Bertelsmann-Stiftung 2022).
Die beiden größten Erfolge auf außenpolitischem Gebiet sind zweifellos die Aufnahme in die NATO im März 2020 und die erste Regierungskonferenz mit der EU-Kommission zur Vorbereitung der EU-Beitrittsverhandlungen im Sommer 2022. Der Weg zum Beginn des Beitrittsprozesses wurde durch eine Einigung mit Griechenland im sogenannten Namensstreit freigemacht. Im Abkommen von Prespa (2018) akzeptierte die Regierung in Skopje die Umbenennung des Landes in Republik Nordmazedonien. Nationalisten in Griechenland hatten geargwöhnt, dass die Namensgleichheit mit der griechischen Region Makedonien früher oder später expansionistische Begehrlichkeiten bei den nördlichen Nachbarn wecken könnte.
Doch kaum war das Veto Griechenlands überwunden, erhob Bulgarien massive Einwände. Hintergrund ist ein inzwischen stark eskalierter identitätspolitischer Streit zwischen Sofia und Skopje. Zunächst konnte der bulgarische Widerstand gegen den NATO-Beitritt mit einer förmlichen Erklärung der mazedonischen Regierung gegenüber der UNO überwunden werden. Skopje versicherte darin, dass sich die Bezeichnung "Nordmazedonien" nicht auf Gebiete im heutigen Bulgarien bezieht. An seinem Nein zum Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen hielt Sofia jedoch fest.
Probleme und Defizite
Nordmazedonien krankt bis heute an den Folgen der autoritären Politik der VMRO-DPMNE-Regierung unter Ministerpräsident Gruevski von 2006 bis 2016, die die Gesellschaft tief gespalten und die Beziehungen zu den Nachbarstaaten vergiftet hat. Als größte Oppositionspartei bedient sie sich weiter ethnonationalistischer Rhetorik sowohl gegen die albanische Minderheit als auch gegen die Namensänderung des Landes nach dem Prespa-Abkommen mit Griechenland. Dabei kann sich die Partei weiterhin auf Anhänger und Gewährsleute in Justiz, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Kultur stützen.
Wie die Kommunalwahlen im Oktober 2021 gezeigt haben, sind auch die Sozialdemokraten nicht vor Rückfällen in nationalistische Rhetorik gefeit. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb hat die SDSM bei den Wahlen eine herbe Niederlage erlitten. Ein großer Teil ihrer Wähler blieb angesichts der enttäuschenden Bilanz der letzten Jahre den Urnen fern. Zu nennen sind u.a. das schlechte Management der Corona-Pandemie und die anfängliche Weigerung wichtiger Regierungsmitglieder angesichts der Waldbrandkatastrophe im Sommer 2021 ihren Urlaub zu unterbrechen. Außerdem bekommt die Regierung strukturelle Probleme, wie die Nähe der Justiz zur Politik und die Korruption, nicht in den Griff. Im Korruptionsindex von Transparency International für 2022 rangiert das Land zwischen Surinam und Belarus auf dem 89. Platz von 180 Ländern.
Bei der Suche nach den externen Ursachen für den dramatischen Stimmenverlust der SDSM, der im Januar 2022 zu einem Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten von Zoran Zaev zu Dimitar Kovačevski führte, stößt man erneut auf die Blockade der EU-Beitrittsgespräche durch Bulgarien, die im Sommer 2020 mit einem von allen Abgeordneten des Parlaments unterstützten Memorandum ihren Höhepunkt erreichte. Das Memorandum wurde als offizieller Standpunkt des Landes an alle EU-Mitgliedsstaaten versandt. Die abermalige Enttäuschung der Hoffnungen auf einen schnellen Beginn der Beitrittsverhandlungen hat nicht nur der politischen Autorität und Beliebtheit der SDSM-Regierung spürbar geschadet, sondern auch der EU-skeptischen Propaganda der VMRO-DPMNE Auftrieb gegeben.
Nach Einschätzung externer Beobachter war das schlechte Abschneiden der SDSM bei den Kommunalwahlen auch eine Niederlage für die EU und ihre Erweiterungspolitik gegenüber dem Westbalkan. Durch den deutlichen Schub in Richtung Polarisierung und Destabilisierung haben sich die Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Reform-Agenda der Regierung deutlich verschlechtert. Als Ministerpräsident Kovačevski im Sommer 2022 erklärte, die Bedingungen anzunehmen, begannen im Anfang Juli in Skopje tagelange antibulgarische und Anti-EU-Demonstrationen und Ausschreitungen mit zahlreichen Verletzten. Die Proteste wurden hauptsächlich von der VMRO-DPNME organisiert.
Die fortwirkenden internen und externen Probleme und Defizite des Post-Konfliktlandes Nordmazedonien erklären, warum das Land noch weit von einem stabilen und nachhaltigen Frieden entfernt ist. Nach den Erhebungen des Fragile State Index für das Jahr 2022 wird das Land trotz leichter Verbesserungen immer noch in der Kategorie "Warning" geführt. Nordmazedonien belegt zwischen Belize und der Dominikanischen Republik den 111. Rang von insgesamt 179 Staaten, für die die breitgefächerten zwölf Risiko-Indikatoren erhoben wurden. Alle Länder in dieser Kategorie weisen "Merkmale auf, die wesentliche Teile ihrer Gesellschaften und Institutionen anfällig für ein Scheitern machen".