Der Weg zum Frieden
Die Unterdrückung und Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen zugunsten einer kleinen wirtschaftlichen Elite führte in den frühen 1960er Jahren zur Entstehung revolutionärer Bewegungen in Guatemala. Anfang der 1980er Jahre erreichte der Bürgerkrieg unter Diktator Efraín Ríos Montt (1982-1983) seinen Höhepunkt. Um der Guerilla ihre ländlichen Rückzugsgebiete zu entziehen, verfolgte das Militär eine Politik der verbrannten Erde, bei der insbesondere im Norden systematisch Dörfer vernichtet und die Einwohner massakriert wurden. Schätzungen zufolge flüchteten rund 100.000 Menschen ins benachbarte Mexiko; über 40.000 wurden allein in den UN-Flüchtlingslagern im Süden Mexikos registriert. Hinzu kam rund eine Million Binnenvertriebene. Die offizielle Wahrheitskommission geht in ihrem 1999 vorgelegten Bericht "Memory of Silence" davon aus, dass der Bürgerkrieg zwischen 1960 und 1996 rund 200.000 Menschenleben kostete. 93% der von ihr untersuchten Fälle von Ermordungen und Folterungen wurden von Angehörigen der nationalen Sicherheitskräfte verübt. Die überwiegend an der indigenen Bevölkerung begangenen Verbrechen wurden als Völkermord eingestuft.
Wegen der massiven Menschenrechtsverletzungen wurde Guatemala international isoliert. Investitionen aus dem Ausland und die Einnahmen aus dem Tourismus gingen zurück. Deshalb forderten Wirtschaftsvertreter und Teile der Mittelschicht eine Öffnung des politischen Systems. Angesichts des wachsenden inneren und äußeren Drucks leiteten reformorientierte Kreise im Militär schließlich einen graduellen Übergang zu mehr Demokratie und Freiheit ein. 1984 ließ die Militärregierung Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung abhalten. Ein Jahr später fanden allgemeine Wahlen im Rahmen der neuen Verfassung statt.
Die politische Transition gab wichtige Impulse für den erst sechs Jahre später einsetzenden Friedensprozess. Die aus den Wahlen von 1985 hervorgegangene Regierung Vinicio Cerezo stand noch unter starkem Einfluss des Militärs. Dennoch setzte sie sich, wie alle nachfolgenden Regierungen, für eine Verhandlungslösung des Konflikts ein. Aufgrund der Vorbehalte des Militärs konnten direkte Friedensverhandlungen mit der Guerilla aber erst 1991 unter Cerezos Nachfolger Jorge Serrano beginnen. Der aus dem konservativ evangelikalen Spektrum stammende Präsident löste 1993 den Kongress und den Obersten Gerichtshof auf. Der Staatsstreich scheiterte jedoch, da sich wichtige gesellschaftliche Gruppen gegen Serrano stellten und das Militär den Anweisungen des Obersten Gerichtshofs folgte. Der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte, Ramiro de León Carpio, wurde zum Interimspräsidenten ernannt.
Die politische und konstitutionelle Krise des Jahres 1993 machte deutlich, dass die schrittweise Demokratisierung zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Akteure beigetragen hatte. Der einflussreiche Unternehmerverband (Comité Coordinador de Asociaciones Agrícolas, Comerciales, Industriales y Financieras – CACIF) rückte von seiner ablehnenden Haltung gegenüber Friedensverhandlungen ab. Die Guerilla vollzog ebenfalls eine Abkehr von früheren Positionen. Die Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG) rief 1995 erstmals die Bevölkerung zur Teilnahme an Wahlen auf und signalisierte so ihre Bereitschaft, den bestehenden institutionellen Rahmen anzuerkennen. Im Dezember 1996 wurde der Bürgerkrieg schließlich mit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen Regierung und Guerilla beendet.
Ergebnisse des Friedensprozesses
Der Friedensvertrag legte u.a. die Wiedereingliederung der Guerilla und eine teilweise Amnestie für beide Bürgerkriegsparteien fest. Bereits 1994 hatten beide Seiten ein umfassendes Menschenrechtsabkommen unterzeichnet, das die Schaffung internationaler Kontrollmechanismen und den Einsatz einer UN-Mission (Misión de Verificación de las Nacionas Unidas en Guatemala – MINUGUA) vorsah. Noch im selben Jahr verständigten sich die Konfliktparteien in zwei weiteren Verträgen auf die Rückführung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus den benachbarten Ländern und die Aufklärung der Kriegsverbrechen durch eine internationale Wahrheitskommission. 1995 wurde ein Abkommen über die Identität und die Rechte der indigenen Bevölkerung unterzeichnet. 1996 folgten Abkommen über sozioökonomische Fragen und die Rolle der Streitkräfte in einer demokratischen Gesellschaft. Letzteres sah neben der Demobilisierung auch einen deutlich reduzierten Einfluss des Militärs in Staat und Gesellschaft vor.
Das guatemaltekische Friedensabkommen ging in seinen Bestimmungen weit über die Vereinbarungen hinaus, die Anfang 1992 im benachbarten El Salvador getroffen wurden. Allerdings konnten die hohen Erwartungen, die das Vertragswerk weckte, kaum erfüllt werden. Bei vielen Punkten fehlten konkrete Maßgaben zu Zeitrahmen, Durchführungsweise und zuständigen Stellen. Für einen Teil der Bestimmungen waren außerdem Verfassungsänderungen notwendig, die zunächst in einem Referendum angenommen werden sollten. Der Aushandlungsprozess erwies sich jedoch als äußerst langwierig und mündete erst drei Jahre später in einem umfassenden Reformpaket, das in vier Blöcken zur Abstimmung gestellt wurde. Kernelemente waren die Anerkennung und Förderung der kulturellen Eigenarten der indigenen Bevölkerungsmehrheit, größere soziale Inklusion, die Stärkung der demokratischen Institutionen und die Unterordnung des Militärs unter die zivile Herrschaft.
Sein Zustandekommen war nicht zuletzt dem anhaltenden Druck der internationalen Gemeinschaft zu verdanken. Allerdings wuchs der Widerstand der traditionellen Eliten. Im Mai 1999 wurden schließlich alle vier Blöcke mit knapper Mehrheit und bei einer Beteiligung von weniger als 20% abgelehnt. Das Nein im Verfassungsreferendum bedeutete einen schweren Rückschlag für die Befürworter einer über einen lediglich formalen Frieden hinausgehenden Transition und erwies sich in den folgenden Jahren als schwere Bürde. Andererseits ist es angesichts der unveränderten Machtverhältnisse fraglich, inwieweit eine Verfassungsänderung den politischen und gesellschaftlichen Wandel tatsächlich beschleunigt hätte.
Gleichwohl sind seit dem Ende des Bürgerkriegs konkrete Fortschritte zu verzeichnen. Zivile Regierungen, die aus freien und fairen Wahlen hervorgegangen sind, bestimmen die Geschicke des Landes. Der Einfluss des Militärs wurde deutlich reduziert, und die ehemalige Guerilla beteiligt sich als politische Kraft am demokratischen Prozess. Doch die Beendigung des bewaffneten Konflikts hat nicht zur Überwindung der tiefen kulturellen und sozialen Gräben geführt, die Staat und Gesellschaft Guatemalas bis heute prägen.
Probleme und Defizite
Seit dem Abschluss des Friedensabkommens ist es nicht gelungen, die strukturellen Ursachen des Bürgerkriegs zu überwinden. An der starken Konzentration des Landbesitzes in den Händen einer Minderheit hat sich ebenso wenig geändert wie an der ungleichen Verteilung des Wohlstands. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Am stärksten ist die indigene Landbevölkerung von wirtschaftlicher und sozialer Marginalisierung betroffen. Für eine Verbesserung der Situation wären u.a. Investitionen in Infrastruktur und Bildung erforderlich. Doch Gelder für öffentliche Ausgaben sind knapp und fallen häufig der Korruption anheim. Guatemalas Eliten sind nicht bereit, einen Beitrag zur Reduzierung der sozialen Exklusion zu leisten. Der Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt liegt bei rund 10%. Damit hat das Land weltweit eine der niedrigsten Steuerquoten. Gleichzeitig bedienen sich Vertreter der politischen Klasse an der Staatskasse. Im November 2020 setzten Demonstranten im Zuge von Protesten den Kongress in Brand. Zuvor hatte das Parlament einen Haushaltsplan verabschiedet, der trotz eines Rekordbudgets Kürzungen in den Bereichen Gesundheit und Soziales vorsah. Auch das Budget des Justizapparates sollte um die Hälfte gekürzt werden. Kritiker befürchteten, dass ein Großteil des Budgets in dunkle Kanäle fließt.
Fünf Jahre zuvor wurde Guatemala von einem massiven Korruptionsskandal erschüttert, in dessen Folge nicht nur hohe Funktionäre und Minister, sondern auch Vizepräsidentin Roxana Baldetti und Staatspräsident Otto Pérez Molina unter dem Eindruck von Massenprotesten zurücktreten mussten. Pérez und Baldetti wurden verhaftet und wegen der Gründung einer kriminellen Vereinigung angeklagt, die den Staat um Millionen betrogen haben soll. Das war nicht zuletzt das Verdienst der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit (Comisión Internacional Contra la Impunidad en Guatemala, CICIG), die 2007 mithilfe der Vereinten Nationen geschaffen wurde. CICIG sollte die Verbindungen zwischen organisiertem Verbrechen und staatlichen Funktionsträgern aufdecken und die Schuldigen vor Gericht bringen. Weil die Kommission zahlreiche Erfolge verbuchen konnte, war sie den korrupten Staatseliten ein Dorn im Auge. Pérez wollte ihr Mandat bereits 2015 auslaufen lassen, was nur durch öffentliche Proteste und internationalen Druck verhindert wurde.
Sein Nachfolger, Jimmy Morales, scheiterte im August 2017 beim Versuch, den kolumbianischen Chef der CICIG des Landes zu verweisen. Die Kommission hatte zunächst gegen einen Sohn und Bruder des Präsidenten ermittelt. Schließlich beantragte sie wegen illegaler Wahlkampfspenden die Aufhebung der Immunität von Morales. Als der Rückhalt der US-Regierung für CICIG bröckelte, verhinderte Morales ein Jahr später die Rückkehr des CICIG-Chefs nach Guatemala. Auch ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes konnte ihn nicht davon abbringen. 2019 ließ der Präsident das Mandat der CICIG schließlich auslaufen. Seither wird auch die zur Generalstaatsanwaltschaft gehörende Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straffreiheit (Fiscalía Especial Contra la Impunidad, FECI), die in den vergangenen Jahren der ausführende Arm der CICIG war, zunehmend in ihrer Arbeit behindert. Mit der Zerschlagung der CICIG wurden viele Errungenschaften der vergangenen Jahre zunichte gemacht. Die guatemaltekische Justiz war stets ein Instrument der Mächtigen, das die bestehenden gesellschaftlichen Ungleichgewichte zementierte. Die Tätigkeit der CICIG hatte in dieser Hinsicht einen großen Unterschied gemacht.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei der Verfolgung der Bürgerkriegsverbrechen. Eine strafrechtliche Aufarbeitung fand lange nicht statt. Die meisten Verbrechen bleiben ungesühnt. Die Ergebnisse der beiden Wahrheitskommissionen hatten zunächst keine strafrechtlichen Folgen. Erst in den vergangenen Jahren hat sich die Situation allmählich verändert. Seit 2008 wurden etwas mehr als 30 Befehlshaber und Angehörige des Militärs und der Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen (Patrullas de Autodefensa Civil, PAC) wegen schweren Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Der ehemalige Diktator Ríos Montt, der noch bis in die erste Hälfte der 2000er Jahre einer der einflussreichsten Politiker Guatemalas war und 2003 sogar als Präsidentschaftskandidat antrat, wurde 2013 wegen Völkermords verurteilt. Das Verfassungsgericht kassierte den Entscheid jedoch aufgrund eines Verfahrensfehlers. Der Fall musste neu aufgerollt werden. Ríos Montt verstarb 2019, ohne für seine Verbrechen belangt zu werden.
Die in den vergangenen Jahren erzielten Fortschritte sind in Gefahr. Angespornt durch das Vorgehen der Regierung gegen CICIC haben ultrakonservative Kreise im Parlament 2019 mehrere Anläufe unternommen, um ein Amnestiegesetz für Bürgerkriegsverbrechen zu verabschieden. Dadurch würden die bereits Verurteilten unmittelbar aus der Haft entlassen und alle laufenden Verfahren eingestellt. Trotz des massiven Widerstands der internationalen Gemeinschaft und ungeachtet der Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs und des guatemaltekischen Verfassungsgerichts ist das Gesetz bereits mehrmals nur um Haaresbreite an der notwendigen dritten Lesung gescheitert.
Viele Bürgerkriegsverbrecher, die unmittelbar von der Verabschiedung des Amnestie-Gesetzes profitieren würden, sind inzwischen Mitglieder krimineller Netzwerke, die über enge Kontakte in Politik und Wirtschaft verfügen und häufig von Unterstützern im Justiz- und Sicherheitsapparat gedeckt werden. Diese Gruppen arbeiten teilweise eng mit den mexikanischen Drogenkartellen zusammen, die ihren Einfluss in Guatemala in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet haben. Weite Teile des dünn besiedelten Nordens befinden sich unter dem Einfluss des organisierten Verbrechens.
Derweil leiden die Städte unter der Gewalt von Jugendbanden. Die sogenannten Maras, deren Mitgliederzahl auf rund 22.000 geschätzt wird, kontrollieren ganze Stadtteile und sind unter anderem in Schutzgelderpressungen, Auftragsmorde und Drogenhandel verwickelt. Die nach wie vor weitverbreitete Kultur der Gewalt in Guatemala äußert sich außerdem in einer hohen Zahl an Morden an Frauen sowie Fällen von Lynchjustiz. Um der Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen haben bereits Hunderttausende das Land in Richtung Mexiko und USA verlassen.