Wenn eines Tages in Syrien die Waffen schweigen, beginnt (hoffentlich) die Zeit der großen Bildungsprogramme. Schließlich wurde einer ganzen Generation der Zugang zur Bildung verwehrt. Dabei wird es auch um die Aufarbeitung der gewaltsamen Konfliktvergangenheit gehen, zum Beispiel in Schulbüchern und im Unterricht. Eine weitere Herausforderung ist die Gewährleistung von Chancengleichheit für die verschiedenen ethnischen, religiösen und sozialen Gemeinschaften und Gruppen. Die Ausgestaltung des Bildungssystems wird mit darüber entscheiden, ob Feindbilder und Ungerechtigkeiten überwunden werden können.
Dabei ist die "Janusköpfigkeit" von Bildung stets kritisch zu reflektieren. Denn Bildungskontexte werden nach wie vor an vielen Orten missbraucht, um Menschen systematisch zu manipulieren und auszugrenzen. Schulen sind nicht automatisch unverzichtbare Lernorte für die Friedenserziehung; sie können auch ein Hort personaler, struktureller und kultureller Gewalt sein oder direkt zu Gewalt anstiften und so zur Verschärfungen und Verfestigung von ethnischen, religiösen und sozialen Spannungen, Konflikten und Diskriminierungen beitragen (vgl. Davies 2013).
Dass Schulbücher Konflikte zementieren können, indem sie einseitige Konfliktbeschreibungen an immer neue Schülergenerationen weitergeben, belegen die Untersuchungen des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung (GEI) in Braunschweig. Das Institut erforscht u.a., wie sich gesellschaftliche Konflikte in Schulbüchern niederschlagen, aber auch, wie mit entsprechenden Bildungsangeboten die gewaltsame Eskalation von Konflikten vermieden und eine konstruktive Bearbeitung unterstützt werden kann.
Wie schwierig und sensibel diese Arbeit ist, zeigt das Beispiel der Entwicklung eines israelisch-palästinensischen Schulbuches, die 2002 vom Peace Research Institute in the Middle East initiiert und vom Braunschweiger Institut unterstützt wurde. Darin werden die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Nahost-Konfliktes dargestellt. Die Verwendung des Schulbuches im Unterricht wurde im Jahre 2010 sowohl von israelischer als auch von palästinensischer Seite untersagt.
Für die Akteure in Friedensprozessen stellt sich die Aufgabe, durch breit gefächerte Bildungsarbeit und gezielte Friedenserziehung individuelle und kollektive Lernprozesse zur Förderung einer tragfähigen Kultur der konstruktiven Konfliktaustragung und Friedensförderung anzustoßen, zu begleiten und zu evaluieren. Nach jahrelanger Diskussion hat das Inter-Agency Network for Education in Emergencies (INEE) 2013 die bisherigen Erfahrungen systematisiert und u.a. einen "Leitfaden für die Entwicklung und Implementierung konfliktsensitiver Bildungsprogramme und -politiken" veröffentlicht.
Unmittelbare und strukturbezogene Friedenspädagogik
In der Friedenspädagogik lassen sich zwei grundlegende Ansätze unterscheiden (vgl. Jäger 2014): Zum einen die direkte, unmittelbare Friedenspädagogik, die von Lehrern, Ausbildern, Sozialarbeitern und Trainern vor Ort auf der Grundlage eigener Erfahrung und einschlägiger Ergebnisse der Friedensforschung und anderer Disziplinen geleistet wird. Sie konzipiert, implementiert und evaluiert friedenspädagogische Lernarrangements für ausgewählte Zielgruppen (z.B. Multiplikatoren, Jugendliche, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, Vertreter von Konfliktparteien) und schafft so Erfahrungsräume für gemeinsames Friedenlernen.
Der zweite Ansatz betrifft die strukturelle Verankerung der Friedenspädagogik in einer Post-Konfliktgesellschaft. Wege dazu sind die Entwicklung und Implementierung von Lehrplänen im formalen Bildungsbereich sowie der Aufbau von Netzwerken und bildungsbezogener Infrastruktur. Die Berghof Foundation (Berlin) verbindet in ihren Projekten "Gewaltfreie Erziehung in Jordanien" und "Friedenspädagogik im Iran" beide Ansätze. In Jordanien ist es ihr z.B. gelungen, gemeinsam mit über fünfzig MultiplikatorInnen aus den Bereichen Hochschule, Schule und Sozialarbeit ein Netzwerk für gewaltfreie Erziehung aufzubauen und damit zugleich auch Zugänge zum formalen Bildungsbereich zu öffnen.
Bei allen Unterschieden hinsichtlich der Definitionen von Friedenspädagogik dürfte bei Theoretikern und Praktikern Konsens über vier hauptsächliche Ziele bestehen:
die Auseinandersetzung mit und die Ächtung von Krieg;
die Bekämpfung aller Formen der Rechtfertigung und Ausübung von Gewalt und die Förderung der Aufarbeitung individueller und kollektiver Gewalterfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart;
die Wahrnehmung von Konflikten als Chance für positive Veränderungen und die Befähigung zum konstruktiven Umgang mit Konflikten und zur wertschätzenden Auseinandersetzung mit "dem Anderen";
die Entwicklung von Visionen für die Gestaltung des Friedens und des gemeinsamen Zusammenlebens.
In jeder Gesellschaft und jedem Kontext muss die "Landkarte zur Gestaltung des Friedens" immer wieder neu überdacht, angepasst und konzipiert werden. Die Friedenspädagogik darf sich nicht auf Standardmethoden beschränken; sie bedarf flexibler, kreativer und kontextspezifischer Zugänge (vgl. Del Felice u.a. 2015).
Friedenspädagogik macht den Unterschied
Wie vielfältig Friedenspädagogik in Konflikt- und Krisenregionen sein kann, zeigt eine Studie, die am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg durchgeführt wurde. Mithilfe empirischer Erhebungen in zehn Konfliktländern wurden über 800 Einzelaktivitäten identifiziert. Diese wurden wiederum zu 25 "Maßnahmenmustern" gebündelt. Dazu zählen u.a. der Aufbau von Kapazitäten, Austauschprogramme, bürgerschaftliche Bildung, Entwicklung von Lehrplänen, Lehr- und Lernmaterialien sowie Lehr- und Lernverfahren, Erinnerungsarbeit, Geschlechtergerechtigkeit, Friedensbildungspakete, Friedenserziehung im Rahmen beruflicher Bildung, Friedensinitiativen, Gemeinde- und Gemeinschaftsbeteiligung, Aufbau und Unterstützung integrierter Bildungseinrichtungen, interkulturelle und zwischengemeinschaftliche Begegnungen, Künste und Sport für den Frieden, Lehrerbildung, Menschenrechtsbildung, Schutz verwundbarer Gruppen, Staatsbürgerkunde, Medienarbeit, Trauma-Behandlung, Werteerziehung, Zugang zu qualitätsvoller Grundbildung.
Die Ergebnisse der Heidelberger Studie, die unter dem Titel "Friedenspädagogik macht den Unterschied" zusammengefasst wurden, zeigen z.B., dass sich die Teilnahme an friedenspädagogischen Projekten positiv auf die "Friedfertigkeit" der betroffenen Personen auswirkt. Sie sind eher bereit, auf Angehörige anderer Konfliktparteien zuzugehen und an den Erfolg ziviler Konfliktbearbeitung zu glauben als Menschen, die nicht an den jeweiligen Maßnahmen teilgenommen haben. Belegt ist auch die motivierende Bedeutung der Rolle externer Akteure in verfahrenen Konfliktsituationen (Lenhart u.a. 2010).
Friedenspädagogik und zivile Konfliktbearbeitung
Im vierten Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplanes "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" heißt es: "Friedenserzieherische Arbeit mit Schülern und Jugendlichen leistet einen wichtigen Beitrag, um gewaltfreie Konfliktlösungsmechanismen von früh auf zu trainieren. Die Bundesregierung unterstützt und berät z.B. Partnerregierungen dabei, Aspekte eines konfliktsensiblen Bildungssystems, wie muttersprachlicher Unterricht, interkulturelles Lernen, Friedenspädagogik, Menschenrechts- und Demokratieerziehung in Curricula für Schulen und Lehrerbildung, zu integrieren und entsprechende Lehr- und Lernmaterialien zu entwickeln" (Bundesregierung 2014: 39).
Insgesamt steht die systematische Einbeziehung von Ansätzen der Friedenspädagogik in die Entwicklungszusammenarbeit und die Zivile Konfliktbearbeitung immer noch am Anfang (vgl. Frieters-Reermann 2016). Es gibt aber schon zahlreiche Projekte und Maßnahmen, in denen wertvolle Erfahrungen gesammelt werden konnten. So engagiert sich die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), die das Gros der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik abwickelt, seit Jahren in Sri Lanka. Dort berät sie die zuständigen Ministerien in Sachen Friedenspädagogik und trägt mit zur Etablierung eines Netzwerkes von Schulen mit konfliktsensitivem Schulprofil bei.
Auch für den Zivilen Friedensdienst (ZFD) spielt die Förderung von Bildungsmaßnahmen eine große Rolle und mehrere Projekte verfolgen eine explizit friedenspädagogische Zielsetzung. Der ZFD, zu dem sich zahlreiche staatliche, kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen haben, wird zu einem Großteil vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert. Seit Gründung des ZFD 1999 wurden mehr als 1.100 Fachkräfte in über 50 Länder entsandt.
In den letzten Jahren hat sich das Interesse bei internationalen Organisationen und bei politisch Verantwortlichen an Friedenspädagogik sichtbar verstärkt. So weisen z.B. die einschlägigen Unterorganisationen der UNO mit wachsendem Nachdruck auf die positiven, friedensfördernden Effekte von Bildung hin: "Bildung ist kein marginaler Akteur in der Friedensförderung, sondern eine Kernkomponente beim Aufbau eines nachhaltigen Friedens" (Unicef 2011: 7). Im "Education for All Global Monitoring Report" der UNESCO heißt es: "Innerstaatliche bewaffnete Konflikte sind oft mit Unzufriedenheit und wahrgenommenen Ungerechtigkeiten verbunden, die mit Identität, Glauben, Ethnizität und Region zu tun haben. Bildung kann in all diesen Bereichen den Unterschied machen, indem sie den Ausschlag zugunsten von Frieden – oder Konflikt gibt" (UNESCO 2010: 27).
Doch solange die meisten friedenspädagogischen Maßnahmen außerhalb des staatlichen Erziehungssystems stattfinden und an den staatlichen Schulen weiterhin "negative Stereotype und Hass gegen die jeweils anderen Gruppen gepredigt werden, können punktuelle Friedensprojekte (...) sehr wenig bewirken" (Pfaffenholz 2008: 10). Deshalb muss das Zusammenspiel zwischen der unmittelbaren und der strukturellen Friedenspädagogik entschlossener gefördert werden. Ein wichtiger Schritt, um künftig den Einfluss friedenspädagogischer Projekte zu erhöhen, ist die Ausbildung einflussreicher Multiplikatoren in verschiedenen Bildungsbereichen und auf den verschiedenen Ebenen – von den Grundschulen bis in die Ministerien.
Die breitere Förderung und Umsetzung friedenspädagogischer Projekte setzt aber die Bereitstellung von ausreichenden Ressourcen durch die lokalen Regierungen voraus. Hier ist auch die internationale Staatengemeinschaft gefordert – zum Beispiel dann, wenn es eines Tages um die Sicherung und Gestaltung des Friedens im Post-Konflikt-Syrien gehen wird.