Geschlechterbilder in gesellschaftlichen Krisen und Konflikten
In gesellschaftlichen Krisen und Konflikten ist in aller Regel eine starke Polarisierung von Geschlechterbildern zu beobachten. Von Männern wird verlangt, Kampfbereitschaft und Dominanz zu zeigen. Frauen sollen der Gemeinschaft auf vielfältige Weise dienen. Ihre Rolle als Mutter gewinnt eine überhöhte Bedeutung für das vermeintlich gefährdete Überleben der Gemeinschaft. Ein Kennzeichen von Krisen ist auch, dass Angehörige sexueller Minderheiten stärker bedroht werden.
Eine solche Verengung der Geschlechterrollen ist ein Zeichen für die Abschottung und Militarisierung einer Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist die Verabschiedung des Gesetzes gegen "homosexuelle Propaganda" in Russland 2013, das die positive Bezugnahme auf Homosexualität strafbar macht. Daraufhin hat die Gewalt gegen Menschen, die sexuellen Minderheiten angehören, stark zugenommen (vgl. Human Rights Watch 2014).
Genderorientierter Friede – was ist gemeint?
Frieden wird als Prozess betrachtet, der auf die Reduzierung und Überwindung aller Formen direkter Gewalt und Benachteiligung von Menschen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum zielt. Dies gilt für Menschen jeglichen Geschlechts. Der Stand der Friedensentwicklung bemisst sich daran, inwieweit Menschen aller Geschlechtszugehörigkeiten das Recht auf körperliche Unversehrtheit, materielle Absicherung, persönliche Entfaltung und politische Mitgestaltung in Anspruch nehmen können (Harders/Clasen 2011, S. 331 f.).
UN-Resolution stärkt die Position von Frauen in der Friedensförderung
Um die Geschlechtergerechtigkeit in der Konfliktnachsorge und in Friedensprozessen zu fördern, verabschiedete der UN-Sicherheitsrat im Jahr 2000 eine Resolution mit dem Titel "Frauen, Frieden und Sicherheit". Sie drängt auf den Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt, die Ahndung sexualisierter Kriegsgewalt und die stärkere Beteiligung von Frauen an der Friedenskonsolidierung. In einigen Folgeresolutionen wurden diese Aspekte vertieft. Zeitgemäß wäre jedoch eine neue Resolution, die stärker die Rechte von sexuellen Minderheiten und die Berücksichtigung von Männern als Opfer von Gewalt thematisiert.
Geschlechtergerechtigkeit und Friedensförderung
Genderorientierte Friedensförderung umfasst drei Handlungsdimensionen; sie soll
Kriegserfahrungen und Schutzbedürfnisse von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft und ökonomischer Lage berücksichtigen,
die geschlechtergerechte Verteilung von Gütern und politischer Mitbestimmung gewährleisten sowie Strukturen abbauen, die Menschen zur Kriegsteilnahme bewegen oder zwingen,
Geschlechterbilder, die Gewalt legitimieren, und Feindbilder, die sich oft auf geschlechtliche Untertöne stützen, problematisieren und verändern.
Die Ansätze sollen sich ergänzen und miteinander verknüpft werden. Genderorientierte Friedensförderung setzt auf mittel- und langfristige Veränderungen. Voraussetzung dafür ist eine sorgfältige gendersensible Konfliktanalyse sowie die Beteiligung lokaler Akteure an der Planung und Umsetzung der Maßnahmen.
Die Kriegserfahrungen und Schutzbedürfnisse aller Gruppen berücksichtigen
Frauen und Frauengruppen machten als Erste auf "blinde Flecke" in Programmen der Friedensförderung und des Wiederaufbaus aufmerksam. Die vielfältigen Erfahrungen von Frauen mit Gewalt, Enteignung oder Vertreibung wurden und werden darin oft zu wenig berücksichtigt. So fehlt es an qualifizierter ärztlicher oder rechtlicher Beratung. Auch die Schutzbedürfnisse von Frauen werden oft nicht ausreichend einbezogen, etwa in Flüchtlingsunterkünften oder bei Zeugenaussagen in der Übergangsjustiz. Zudem steigt in Nachkriegsgesellschaften nach der Rückkehr der Männer die häusliche Gewalt gegen Frauen stark an und ihre Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt.
Ein Beispiel für die Unterstützung von Frauen, die in Kriegs- und Krisengebieten sexualisierte Gewalt erlitten haben, ist die Arbeit der deutschen NGO medica mondiale. Zusammen mit Partnerorganisationen stellt sie medizinische, psychologische und rechtliche Beratung bereit. Auf der politischen Ebene setzt sie sich für die Stärkung der Frauenrechte ein.
Genderorientierte Friedensförderung bedeutet zudem, die Kriegserfahrungen und Schutzbedürfnisse von Männern und Menschen, die geschlechtlichen Minderheiten angehören, einzubeziehen. Veteranen machen oft die Erfahrung, dass sie nach ihrer Rückkehr nicht als "Helden" gefeiert werden, sondern überlieferte Männerrollen, z.B. als Ernährer der Familie, nicht mehr ausfüllen können. Die (nicht verarbeitete) Erfahrung fehlender Anerkennung kann sie anfällig für erneute nationalistische Propaganda machen.
Es gibt immer noch zu wenige Programme, die Männer bei der Überwindung von Traumatisierungen unterstützen, wie etwa das Zentrum für Kriegstraumata (Centar za ratnu traumu) in Novi Sad, Serbien. Es bietet psychologische Beratung und Gesprächsgruppen für Veteranen und Veteraninnen an. Das Zentrum ermutigt sie, die stark tabuisierten psychischen und gesellschaftlichen Folgen des Krieges, etwa in Gespräche an Schulen und Jugendeinrichtungen, öffentlich zu thematisieren.
Vernachlässigte Zielgruppen der Friedensarbeit sind zudem Männer, die sich keiner bewaffneten Gruppe angeschlossen haben, Männer, die Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind, sowie Menschen, die sexuellen Minderheiten angehören. Ein Beispiel aus diesem Bereich sind NGOs, die die Schutzbedürfnisse von lesbischen und schwulen Flüchtlingen thematisieren (LesMigras 2016).
Geschlechtergerechtigkeit fördern und Anreize für Kriege abbauen
Frauen sind in den militärischen und außenpolitischen Eliten und folglich auch bei Friedensverhandlungen deutlich unterrepräsentiert. Die geringe Beteiligung an Entscheidungsgremien über Krieg und Frieden ist ein Demokratiedefizit (Harders 2011, S. 132). Erprobte Strategien zur Stärkung des Frauenanteils sind beispielsweise Quoten für den Anteil weiblicher Abgeordneter in den lokalen und nationalen Parlamenten in Nachkriegsgesellschaften, etwa in Ruanda und Bosnien-Herzegowina, die Förderung weiblicher Nachwuchskräfte, z.B. durch das Women Peace and Security Network-Africa in Ghana, oder das Bekanntmachen erfolgreicher Friedensaktivistinnen, z.B. durch die Organisation PeaceWomen Across the Globe.
Im Nachkrieg werden viele Bereiche des öffentlichen Lebens neu geordnet und Verteilungskämpfe zwischen den Konfliktparteien geregelt. Oftmals kommt es dabei zu Rückschlägen, d.h. Beschränkungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe von Frauen. Für viele Bereiche der Friedensförderung wurden daher Leitfäden entwickelt, damit alle Zielgruppen von den Maßnahmen profitieren (z.B. United Nations 2001; Zuckermann/Greenberg 2004; Tielemans et al 2015).
Bei Entwaffnungsprogrammen in Liberia machte die Frauenorganisation WIPNET (Liberian Women in Peacebuilding Network) darauf aufmerksam, dass kaum Frauen teilnahmen, obgleich der Anteil der Kombattantinnen bei etwa 35 % gelegen hatte. WIPNET setzte sich dafür ein, dass auch entwaffnete Armeeangehörige das Programm in Anspruch nehmen konnten und informierte über Radioprogramme darüber.
Genderorientierte Friedensförderung soll nicht zuletzt Strukturen abbauen, die die Kriegsteilnahme idealisieren und Menschen Anreize zum Eintritt in bewaffnete Gruppen geben oder sogar Zwangsrekrutierungen ermöglichen. Armeen versprechen ihren Mitgliedern Prestige, Einkommen und im gewissen Sinne Schutz. Fehlende Alternativen, um diese Bedürfnisse abzudecken, können ein erneutes Aufflammen von Konflikten begünstigen. Zur Prävention erneuter Kriege gehören Unterstützungsangebote für Menschen, die sich bewusst keiner Armee anschließen oder desertieren.
Wichtige Arbeit leistet hier das Netzwerk War Resisters‘ International. Es unterstützt z.B. Männer und Frauen, die den Wehrdienst verweigern und dafür Repressionen ausgesetzt sind, beobachtet und dokumentiert militärische Rekrutierungsmethoden und wendet sich gegen die Militarisierung von Jugendlichen, z.B. an Schulen.
Gewalt legitimierende Geschlechterbilder verändern
Im Vorfeld von Kriegen wird die Teilnahme am Militär immer wieder neu mit dem Erwerb "echter" Männlichkeit, mit männlicher Pflicht oder männlichem Abenteuer gleichgesetzt. Frauen gelten hingegen als besonders bedroht und schützenswert. Dieser Schutz ist dabei zweischneidig, da er oft mit massiven Einschränkungen einhergeht. Nach dem Krieg werden Frauen in den Medien vielfach als Opfer dargestellt. Sie stehen symbolisch für die "geschundene" Nation. Mit diesen Bildern können dann erneute militärische Schutzmaßnahmen und Vergeltungsschläge legitimiert werden.
Deshalb muss eine nachhaltige Friedensförderung auch geeignete Maßnahmen einschließen, die sexualisierte Stereotype und Identitäten thematisieren. In vielen Kontexten stellen zivilgesellschaftliche Gruppen und andere Akteure festgefahrene Vorstellungen in Frage und stoßen Veränderungen an. Häufig geht es darum, Männlichkeitsnormen, die Gewalt legitimieren, in Frage zu stellen.
Für die stärkere Akzeptanz von Wehrdienstverweigerern warb die Kampagne "Prigovor Savjesti" in Bosnien-Herzegowina Anfang der 2000er Jahre. Mit Plakaten stellte sie indirekt die Kompetenz des Militärs, Männlichkeit zu verleihen in Frage, indem sie beispielsweise betonte, dass Militärdienst in erster Linie Unterordnung und nicht etwa männliche Dominanz bedeutet (vgl. Schroer-Hippel 2016).
Auch Feindbilder und Begründungsmuster für Kriege arbeiten mit geschlechtlichen Unterstellungen. In vielen Konflikten werden die "anderen" Männer entweder als sexuell aggressiv oder als "impotent" und verweichlicht dargestellt. Bewaffnete Gewalt wird oft damit begründet, dass die "eigenen" Frauen bedroht seien und mit ihnen das ganze Volk. Dies war z.B. in der Krise vor den Zerfallskriegen Jugoslawiens der Fall (Bracewell 2000, S. 582).
Um Spannungen zu verringern und den erneuten Rückfall in Gewalt zu vermeiden, ist es nötig, die sexuelle Dämonisierung des Feindes zu beenden und inklusive Identitäten zu fördern. Medien können einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Bei Begegnungen zwischen Mitgliedern ehemals verfeindeter Gruppen sollten auch die gegenseitigen geschlechtsbezogenen Vorurteile reflektiert werden. Die Überwindung von Gewalt legitimierenden Geschlechterbildern ist ein langfristiger Prozess, der von vielen Akteuren getragen werden muss.