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Aktuelle Situation
Nach dem Amtsantritt von Präsidentin Claudia Sheinbaum im Oktober 2024, die als erste Frau an der Spitze der mexikanischen Regierung wegen ihres überwältigenden Wahlsiegs mit großer Machtfülle ausgestattet ist, wurden im Sicherheitsbereich mehrere Verfassungsänderungen vorgenommen (bpb 2024). Die zwei wichtigsten sind eine grundlegende Justizreform, nach der Richter ab 2025 direkt vom Volk gewählt werden, sowie die Festlegung, dass die Nationalgarde (Guardia Nacional) dem Verteidigungsministerium unterstellt wird.
Die neue Regierung versucht, mit der Kontrolle über das Justizwesen und die Effektivierung des militärischen Vorgehens gegen die Drogenkartelle die beispiellose Sicherheitskrise in den Griff zu bekommen. 2024 wurden in dem knapp 130 Millionen Einwohner zählenden Land jeden Tag zwischen 70 und 100 Menschen ermordet oder verschleppt.
Die kriminelle Landschaft ist unübersichtlich. Die Revierkämpfe zwischen den beiden landesweit dominierenden Organisationen – dem Sinaloa-Kartell (Cartel de Sinaloa – CS) und dem Jalisco-Kartell (Cartel Jalisco Nueva Generación – CJNG) – können praktisch überall im Land aufflammen. Das CJNG ist mittlerweile in 28 Bundesstaaten tätig, das Sinaloa-Kartell in 24; in 18 kämpfen beide um die Vorherrschaft. Doch die Allianzen werden fragiler, zugenommen haben auch die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Kartelle. Zudem ist eine Tendenz zu beobachten, dass sich Kriminelle mehr in lockeren Netzwerken und weniger in Kartellen organisieren.
Die wichtigsten Bundesstaaten, in denen derzeit die Kartelle um die Kontrolle des Drogen- und Menschenhandels konkurrieren, sind Chiapas, Baja California, Zacatecas, der Bundesstaat México, Quintana Roo und Guerrero. Hinzu kommen noch mehrere weitere Revierkämpfe, die landesweit erheblich zur Eskalation der Gewalt beitragen. Die Rivalität der kriminellen Gruppen um die Kontrolle der lukrativen Aktivitäten führt in den umstrittenen Gebieten fast täglich zu Zusammenstößen, Entführungen, Straßensperren und Sprengstoffanschlägen. Betroffen sind viele Bundesstaaten, die auch für die legale Wirtschaft von existenzieller und strategischer Bedeutung sind. Laut US-amerikanischer Handelskammer Amcham haben für 2023 60 % der in Mexiko aktiven ausländischen Firmen angegeben, von Kriminalität betroffen zu sein.
Zwar ging nach den Statistiken der Regierung die Mordrate in den letzten Jahren leicht zurück: von 100 Morden pro Tag zu Beginn der sechsjährigen Regierung von Präsident Obrador auf 70 Morde pro Tag.
Im August 2024 erfolgte die Festnahme des Sinaloa-Kartell-Chefs Ismael Zambada (alias Mayo). Seine mögliche Aussage als Zeuge in einem Gerichtsverfahren in den USA könnte erneut ein Schlaglicht auf die politische Einflussnahme der OK auf höchste Kreise der mexikanischen Politik werfen. Vielerorts sind Politikerinnen und Politiker, nicht nur der Regierungspartei, in kriminelle Strukturen involviert. Wenn Politiker nicht mitmachen wollen, setzen sie sich großen Gefahren aus. So wurde Anfang Oktober 2024 – nur eine Woche nach seinem Amtsantritt – der Bürgermeister von Chilpancingo, der Hauptstadt des Bundesstaats Guerrero, enthauptet. Nach derzeitigem Ermittlungstand war der Täter ein hochrangiger Polizist des Bundesstaates.
In der zweiten Amtszeit von US-Präsident, Donald Trump, könnte sich die kriminelle Dynamik in Mexiko verändern. Der Kampf gegen illegale Einwanderung und Drogenschmuggel in die USA stehen ganz oben auf seiner Agenda. Trump will die Drogenkartelle als terroristische Vereinigungen deklarieren und schließt direkte Militäroperationen gegen sie nicht aus. Gleich Anfang Februar 2025 hat er Strafzölle von 25 % angedroht, um die mexikanische Regierung zu einer effektiven Eindämmung der illegalen Migration und des Schmuggels von Fentanyl zu zwingen. Weil sich die mexikanische Präsidentin Sheinbaum umgehend bereiterklärte, die 10.000 Soldaten an die Grenze zu den USA zu entsenden und Verhandlungen mit den USA aufzunehmen, wurde die Entscheidung für 30 Tage ausgesetzt.
Auf die Erhöhung des Drucks könnten die Kartelle mit Anpassungen ihres Geschäftsmodells reagieren und noch stärker auf Netzwerkstrukturen setzen als bislang. Falls es zudem – wie angekündigt – zu massiven Deportationen von Migranten aus den USA nach Mexiko kommen sollte, würden die kriminellen Organisationen wahrscheinlich versuchen, die Migranten für viel Geld erneut in die USA zu schleusen oder sie als billige Arbeitskräfte in die eigenen Organisationen zu zwingen.
Ursachen und Hintergründe
In dem seit 2006 andauernden Konflikt zwischen dem mexikanischen Staat und mehreren Drogenkartellen geht es um die Vorherrschaft in den verschiedenen Landesteilen und Regionen. Auch 2023 haben die Auseinandersetzungen die Intensitätsstufe eines begrenzten Krieges erreicht (HIIK 2024: 116). In jedem Monat finden 55 bis 90 Gefechte zwischen staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Trupps der Kartelle statt. In dem für Zivilisten zweitgefährlichsten Konflikt weltweit sind allein von Dezember 2023 bis November 2024 über 8.100 Menschen ums Leben gekommen, die große Mehrheit waren Zivilisten.
Die wichtigsten Gründe für die kriminelle Gewalt sind: erstens die starke Nachfrage nach Drogen in den USA und Europa, zweitens das Unvermögen des mexikanischen Staates, die kriminellen Aktivitäten wirksam einzudämmen, und die Bereitschaft von immer mehr Repräsentanten von Staat und Verwaltung, mit der OK zu kollaborieren, drittens die riesigen Gewinnmargen, die sich im Drogenhandel erzielen lassen sowie viertens die bittere Armut breiter Bevölkerungsschichten und die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher, die es den Banden leicht macht, immer wieder neue Mitglieder zu rekrutieren.
Die USA, die mit Mexiko eine mehr als 3.000 Kilometer lange Grenze teilt, sind der weltweit größte Markt für illegale Drogen.
Mittlerweile haben Fentanyl
Die um territoriale Kontrolle kämpfenden Kartelle finanzieren immer ungenierter auch Wahlkämpfe mit und verlangen als Gegenleistung nicht nur Einflussmöglichkeiten auf lokale Sicherheitskräfte. Die so geförderten Politikerinnen und Politiker verlangen ihrerseits nicht selten Unterstützung seitens der Kriminellen, um beispielweise politische Gegner unter Druck zu setzen oder auszuschalten. Dies führt, insbesondere im Vorfeld von Wahlen, landesweit zu stark erhöhter Gewalt.
In Mexiko bestehen zudem enorm große soziale Unterschiede. Trotz erheblicher Staatsausgaben für soziale Unterstützungsprogramme leben in Mexiko immer noch mehr als 35 % der Menschen in Armut. Die armen Bevölkerungsschichten, insbesondere junge Männer, werden von den Kartellen als billige Reservearmee genutzt. Außerdem werden illegal in die USA einwandernde Migranten angeworben oder unter Druck gesetzt, um Drogen zu schmuggeln.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum verfolgt eine ähnliche Strategie wie ihr Vorgänger. Allerdings könnten einige bemerkenswerte Abweichungen zu einem verbesserten Sicherheitsumfeld beitragen: So hat sie den Bundesstaaten, die Brennpunkte des organisierten Verbrechens sind, klare Ziele zur Verringerung von Mord und finanzieller Erpressung vorgegeben und somit die Rechenschaftspflicht erhöht. Der reaktive Ansatz ihres Amtsvorgängers wird so in gewisser Weise umgekehrt. Auch sollen die institutionellen Kapazitäten auf staatlicher und kommunaler Ebene verbessert werden, vor allem durch die Verbesserung nachrichtendienstlicher Mittel zur Untergrabung der OK, insbesondere ihrer Finanzen. Die erweiterte Strategie zielt darauf ab, die staatlichen und kommunalen Polizeikräfte zu professionalisieren und die Koordination und den Austausch von Informationen zwischen den Bundesstaaten zu verbessern. Das ist ein realistischer Ansatz, da die Regierungspartei MORENA nun zwei Drittel der mexikanischen Bundesstaaten regiert.
Der Sicherheitsminister, Omar García Harfuch, bringt Erfahrungen aus seiner Zeit als Leiter des Ministeriums für Bürgersicherheit (SSC) in Mexiko-Stadt (2018-24) in sein Amt mit. Während seiner Amtszeit ging die Zahl der Tötungsdelikte und anderer Straftaten (wie finanzielle Erpressung und gewalttätige Raubüberfälle) zurück. Allerdings wird es angesichts der unterschiedlichen kriminellen Dynamiken in den einzelnen Bundesstaaten weitaus schwieriger sein, auch auf nationaler Ebene Ergebnisse zu erzielen. Außerdem bestehen nach wie vor institutionelle Unzulänglichkeiten. Die Sicherheitskräfte sind oft schlecht ausgebildet und ausgerüstet, und die Korruption ist dort weit verbreitet.
Im Großen und Ganzen wird die mexikanische Regierung mit Unterstützung der USA aber auch weiterhin auf die sogenannte Kingpin-Strategie
Die wichtigste Voraussetzung für dauerhafte Erfolge im Kampf gegen das organisierte Verbrechen wäre eine nachhaltige Stärkung der mexikanischen Institutionen. Nur so könnte verhindert werden, dass Mitglieder krimineller Organisationen und ihre Erfüllungsgehilfen in Politik, Justiz und Sicherheitsapparat weitgehend straflos agieren. Doch ist eine gegenteilige Bewegung zu verzeichnen. Unabhängige Institutionen werden seit der Machtübernahme durch die MORENA-Partei zunehmend abgeschafft oder unter Kontrolle gebracht (Weiss 2024).
Kritische Stimmen und Journalisten bezeichnen diese Politik gar als integralen Teil eines nahezu allumfassenden „Narco-Systems“. Dies besteht im Kern aus einem Tauschhandel: keine wirksame staatliche Verfolgung der Kriminellen als Gegenleistung für millionenschwere Unterstützung der politischen Klasse und führender Sicherheitsverantwortlicher, egal welcher Couleur (vgl. z.B. Hernandez 2012, 2024).
Geschichte des Konflikts
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden im „goldenen Dreieck“ zwischen den Bundesstaaten Sinaloa, Durango und Chihuahua Marihuana und Schlafmohn angebaut und in die USA exportiert. Die Entwicklung des Drogengeschäftes vollzog sich parallel zur 71-jährigen Herrschaft der Partei der institutionalisierten Revolution (Partido Revolucionario Institucional – PRI). Die PRI regierte einen korporatistischen Staat mit weitgehender Kontrolle über die vertikal organisierte Gesellschaft. Dazu gehörte ein stillschweigendes Übereinkommen mit dem organisierten Verbrechen: Die Kartelle halten sich an die Spielregeln der Politik und der Staatsapparat toleriert den illegalen Drogenhandel. Wichtige Parteifunktionäre wurden großzügig an den Gewinnen beteiligt. Die seit der Unabhängigkeit bestehenden engen Verbindungen zwischen politisch Mächtigen und in Polizeiuniformen gekleideten Banditen haben in Mexiko Tradition.
Die institutionellen Rahmenbedingungen änderten sich mit der schrittweisen Demokratisierung und Dezentralisierung der Macht. Im Jahr 2000 verdrängte die Partei der Nationalen Aktion (Partido Acción Nacional – PAN) die PRI von der Macht. Das heikle Gleichgewicht zwischen Staat und organisiertem Verbrechen zerbrach. Gleichzeitig hatten sich die Machtverhältnisse im Drogenhandel verändert. Die Schwächung der kolumbianischen Kartelle führte in den 1990er Jahren dazu, dass mexikanische Organisationen das Geschäft übernahmen. Um die Jahrtausendwende waren sie zu den mächtigsten Akteuren im Drogenhandel aufgestiegen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der mexikanische Staat die Kontrolle über das organisierte Verbrechen verloren.
Die journalistischen Enthüllungen der letzten Jahre scheinen darauf hinzuweisen, dass die als Erneuerungsbewegung von Andrés Manuel López Obrador ins Leben gerufene Movimento de Renovación Nacional (MORENA) die jahrelang von der PRI erprobte Strategie eines Übereinkommens mit dem organisierten Verbrechen zumindest teilweise übernommen hat (vgl. z.B. Hernandez 2022).