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Libyen | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Libyen

Wolfram Lacher

/ 7 Minuten zu lesen

Libyen bleibt zwischen zwei konkurrierenden Regierungen und den Einflusssphären rivalisierender Milizen gespalten. Seit dem Ende des Bürgerkriegs im Juni 2020 ist der Konflikt eingefroren.

Der Bürgerkrieg in Libyen hinterließ viel Verwüstung. Seit 2020 ist der Konflikt eingefroren. (© picture-alliance, Photoshot)

Aktuelle Situation

Im Juni 2020 zwangen die Kräfte der Regierung in Tripolis mit türkischer Unterstützung die Truppen General Chalifa Haftars, sich aus Westlibyen zurückzuziehen. Damit endete der Versuch Haftars, durch eine im April 2019 begonnene Großoffensive die Kontrolle über die Hauptstadt Tripolis – und damit die Macht im Land – zu erringen.

Seit dem Ende des Krieges um Tripolis kam es zu keiner größeren Eskalation der Konflikte mehr. Libyen ist seither in zwei grobe Einflussbereiche gespalten. Die in Tripolis amtierende, international anerkannte Regierung der Nationalen Einheit unter Premierminister Abdelhamid Dabeiba beherrscht mithilfe von mächtigen Milizen den Nordwesten des Landes. Ihr Einflussbereich wird maßgeblich durch türkische Militärbasen in der Region gesichert. Dagegen kontrollieren Haftar und dessen Söhne mithilfe einer russischen Militärpräsenz den Osten, das Zentrum und den Süden des Landes. Keine der beiden Seiten ist in der Lage, die andere anzugreifen, ohne dafür die Unterstützung ihrer ausländischen Schutzmacht zu haben.

Auch politisch herrscht Stillstand, seit im Dezember 2021 der Versuch scheiterte, allgemeine Wahlen abzuhalten. Anfang 2021 war mit der Bildung der Einheitsregierung die politische Spaltung des Landes vorübergehend überwunden worden; davor hatten sich seit 2014 zwei konkurrierende Regierungen gegenseitig die Legitimität abgesprochen. Die Einheitsregierung sollte das Land bis zu den Wahlen am Ende desselben Jahres führen. Die rivalisierenden politischen Lager konnten sich jedoch nicht darauf einigen, welche Kriterien für die Zulassung für Präsidentschaftskandidaten gelten sollten. Folglich fanden die Wahlen nicht statt. Auf Betreiben Haftars bildeten Gegner der Einheitsregierung Anfang 2022 eine neue Regierung, der es allerdings nicht gelang, in Tripolis die Amtsgeschäfte zu übernehmen. Diese Regierung, unter den Premierministern Fathi Bashagha (2022-2023) und Usama Hammad (seit 2023), dient in den von der Haftar-Familie kontrollierten Gebieten als zivile Fassade. Damit ist Libyen zur politischen Spaltung zwischen zwei Regierungen zurückgekehrt. Die Hindernisse für Wahlen, durch die diese Pattsituation überwunden werden könnte, bestehen unverändert fort.

Die Verteilung staatlicher Gelder ist in den fortwährenden Machtkämpfen von zentraler Bedeutung. Libyen ist immer noch einer der größten Erdölproduzenten Afrikas, und seine Volkswirtschaft ist völlig von Erdölexporten abhängig. Der Ölreichtum hat unter anderem den Aufbau eines alles dominierenden öffentlichen Sektors ermöglicht. Die Mehrheit der Bevölkerung erhält durch die Beschäftigung im öffentlichen Dienst Gehalt, oft ohne tatsächlich dafür zu arbeiten.

Die Fördergebiete und meisten Exporthäfen befinden sich im Einflussbereich Haftars; die Einnahmen werden dagegen von der in Tripolis ansässigen National Oil Corporation (NOC) an die Zentralbank in der Hauptstadt geleitet. Seit 2016 hat Haftar die Erdölproduktion wiederholt lahmgelegt, um seinen Forderungen nach einem immer größeren Anteil an Geldern Nachdruck zu verleihen. Die Einheitsregierung in Tripolis hat Haftar weitgehende Zugeständnisse gemacht, darunter die Zahlung beträchtlicher monatlicher Pauschalbeträge sowie die Ernennung eines Haftar-Getreuen an der Spitze der NOC. Somit sind die zentralen Akteure trotz der formellen politischen Spaltung des Landes über die Gräben durch finanzielle Arrangements verbunden. Die Unterschlagung staatlicher Gelder durch die Haftar-Familie und Milizenführer in Tripolis nimmt immer größere Ausmaße an.

Ursachen und Hintergründe

Zentrale Konfliktursache ist das im Bürgerkrieg 2011 zerbrochene staatliche Gewaltmonopol. Die libysche Revolution 2011, die im Zuge des „Arabischen Frühlings“ ausbrach, war nicht nur ein Kampf gegen die vierzigjährige Herrschaft Muammar al-Gaddafis, sondern auch ein Bürgerkrieg zwischen Anhängern und Gegnern des Regimes. Beide Seiten übten willkürliche Gewalt gegen Bewohner einzelner Städte aus, die entweder als Hochburgen der Revolutionäre oder des Regimes galten. Mit dem Sturz Gaddafis wurden überall im Land die Waffenarsenale des Regimes geplündert, und es entstanden zahlreiche neue Milizen. So schuf der Bürgerkrieg von 2011 den Nährboden für neue Gewalt und Konflikte.

Der nach dem Sturz Gaddafis im Oktober 2011 begonnene Übergangsprozess war durch heftige Machtkämpfe gekennzeichnet. Den revolutionären Kräften gelang es auch nach der Wahl zum Nationalkongress im Juli 2012 nicht, ein geschlossenes Regierungsbündnis zu bilden. Rivalisierende Gruppen nutzten ihre Stellung im Staatsapparat, um unter dem Deckmantel offizieller Institutionen ihre eigenen Milizen aufzubauen. Diese Machtkämpfe eskalierten nach den Parlamentswahlen Mitte 2014 in einen erneuten Bürgerkrieg.

Mit dem zweiten Bürgerkrieg 2014 kollabierte der Übergangsprozess. Von da an konkurrierten zwei Regierungen und Parlamente miteinander – die einen mit Sitz in Tripolis und die anderen im Osten des Landes. Beide sprachen sich gegenseitig die Legitimität ab. Auch die Aushandlung eines Abkommens zur Bildung einer Einheitsregierung Ende 2015 konnte die Spaltung nicht überwinden; die mit Haftar verbündete Regierung im Osten bestand weiter. Das vorgesehene Referendum über die 2017 ausgearbeitete neue Verfassung konnte nicht stattfinden. Deshalb gibt es bis heute keine allgemein anerkannte Grundlage für Neuwahlen, und sämtliche Institutionen befinden sich in einer tiefen Legitimitätskrise.

Der Kampf um die Macht in Libyen ist auch ein Kampf um die Reichtümer des Landes. Die staatlichen Institutionen werden von den Erdölexporten gespeist und bieten zahlreiche Möglichkeiten zur Selbstbereicherung. Amtsinhaber und Parlamentarier auf beiden Seiten haben nur ein geringes Interesse an einer Konfliktlösung. Aus einer Unzahl bewaffneter Gruppen haben sich über die Jahre hinweg mächtige Milizen gebildet, deren Anführer – allen voran Haftar und seine Söhne – immer größeren politischen Einfluss ausüben und staatliche Ressourcen unter sich aufteilen. Zu den kriminellen Aktivitäten, denen sie nachgehen, gehört auch das Geschäft mit Migranten, die aus dem subsaharischen Afrika kommend über Libyen Europa erreichen wollen und von den libyschen Behörden oftmals unter furchtbarsten Bedingungen in Lagern festgehalten werden, unter anderem um Lösegelder zu erpressen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Die Geschichte internationaler Interventionen und Bemühungen um die Konfliktlösung in Libyen seit 2011 spiegelt den schwindenden Einfluss westlicher Staaten und die wachsende Rolle regionaler Mächte sowie Russlands wider. Nach dem Ausbruch des Aufstands gegen Gaddafi im Februar 2011 autorisierte der UN-Sicherheitsrat im März 2011 eine Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung. Die darauffolgenden Luftschläge unter NATO-Kommando stellten sich bald als ein einseitiger Eingriff in den Bürgerkrieg zugunsten der Revolutionäre heraus. Im September 2011 wurde die UN-Unterstützungsmission in Libyen (UNSMIL) eingerichtet, um der Übergangsregierung beratend zur Seite zu stehen. Seit dem Kollaps des Übergangsprozesses konzentriert sich die Mission vor allem auf Vermittlungsbemühungen zwischen den Konfliktparteien. Diese führten im Dezember 2015 zu einem ersten Abkommen zur Bildung einer international anerkannten Einheitsregierung.

Die Einheitsregierung verfehlte allerdings ihr Ziel, da Haftar die Unterordnung verweigerte und sein Einfluss dank fortwährender Unterstützung aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Ägypten und Frankreich immer stärker wurde. Für seine Offensive gegen Tripolis 2019 erhielt Haftar Militärhilfe aus den VAE und Russland sowie politische Rückendeckung aus Frankreich und den USA. Daraufhin wandte sich die Regierung in Tripolis für Unterstützung an die Türkei.

Während des Bürgerkriegs 2019 lancierten UNSMIL und die deutsche Bundesregierung den „Berliner Prozess“. Er sollte unter den intervenierenden Staaten eine Einigung auf eine politische Lösung erzielen und sie dazu bewegen, den Konflikt nicht länger mit militärischer Unterstützung zu befeuern. Da westliche Staaten kaum Druck auf die involvierten Staaten ausübten, nahmen Waffenlieferungen und die Stationierung von Söldnern nach der Berliner Konferenz im Januar 2020 weiter stark zu. Das änderte sich auch durch die zur Überwachung des UN-Waffenembargos eingerichtete EU-Marineoperation IRINI nicht. Denn ein Großteil der Waffenlieferungen gelangte über den Luftweg nach Libyen.

Beendet wurde der bewaffnete Konflikt, als die Intervention der Türkei Haftars Kräfte und die russische Gruppe Wagner zum Rückzug aus Westlibyen zwang. Das dadurch entstandene Kräftegleichgewicht ermöglichte auch die Wiederaufnahme der Vermittlungsbemühungen durch UNSMIL. Diese führten im Oktober 2020 zu einem Waffenstillstand und im März 2021 zur Bildung einer neuen Einheitsregierung. Dagegen scheiterten sowohl der von UNSMIL ausgehandelte Plan, Wahlen abzuhalten, als auch die Bemühungen um einen Abzug russischer und türkischer Kräfte. Angesichts der widerstrebenden Interessen ausländischer Mächte ist der UN-Sicherheitsrat hinsichtlich Libyens kaum handlungsfähig, was die Rolle von UNSMIL schwächt.

Geschichte des Konflikts

Im Februar 2011 brachen in mehreren libyschen Städten Aufstände aus. Das Gaddafi-Regime versuchte, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen, trug so aber zu einer weiteren Eskalation bei. Am 17. März 2011 autorisierte der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 1973 eine Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung. Zu dem Zeitpunkt herrschten bereits bürgerkriegsähnliche Zustände. Mit der Gefangennahme und anschließenden Ermordung Gaddafis im Oktober 2011 endete der Bürgerkrieg.

Der nach dem Sturz des Regimes eingeleitete Übergangsprozess verzeichnete einige Erfolge, darunter die Parlamentswahlen vom Juli 2012. Zunächst flackerten nur punktuell bewaffnete Konflikte auf. Doch aufgrund der Uneinigkeit der aufeinanderfolgenden Übergangsregierungen verschlechterte sich die Sicherheitslage zusehends. In Bengasi kam es immer öfter zu Anschlägen gegen Mitglieder des ehemaligen Sicherheitsapparates. In Darna, Bengasi und Sirte wurden dschihadistische Gruppen aktiver.

Mit der Mobilisierung bewaffneter Gruppen in Bengasi durch Haftar ab Mai 2014 entwickelten sich die Konflikte zu einem landesweiten Machtkampf. Zwei Monate später griffen die Kämpfe auf Tripolis über, wo eine von bewaffneten Gruppen aus Misrata angeführte Allianz gegen westlibysche Verbündete Haftars kämpfte. Im Frühjahr 2015 entstand eine Pattsituation, die es den Konfliktparteien in Westlibyen ermöglichte, lokale Waffenstillstände auszuhandeln. In Bengasi führte Haftar dagegen weiter Krieg und errang schließlich die Kontrolle über den gesamten Osten des Landes. In den folgenden Jahren weitete Haftar langsam sein Territorium aus, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand seitens der Ende 2015 gebildeten Einheitsregierung in Tripolis zu stoßen. Erst mit seiner Offensive gegen Tripolis im April 2019 bildete sich eine breite Koalition bewaffneter Gruppen hinter der Einheitsregierung, die Haftars Truppen schließlich mit türkischer Unterstützung zurückschlug.

Zentrale Konfliktakteure sind die Milizen, die fast durchweg als staatliche Einheiten agieren, tatsächlich aber eigene Interessen verfolgen. Aus einer anfänglichen Unzahl bewaffneter Gruppen bildete sich über die Jahre hinweg eine kleine Zahl immer mächtigerer Milizen. Deren Anführer – wie Haftar, seine Söhne und deren Gegenspieler in Westlibyen – haben im Verlauf der Konflikte immer größeren Einfluss auf staatliche Institutionen und Zugang zu Geldern errungen.

Weitere Inhalte

Wolfram Lacher, geboren 1977, ist seit 2010 Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Libyen und die Sahelzone. Seine Arbeiten beruhen maßgeblich auf regelmäßigen Gesprächen mit Akteuren und Beobachtern vor Ort. Er studierte Arabistik, Afrikanistik und Politikwissenschaft in Leipzig, Paris, Kairo, London und Berlin. Er ist Autor des Buches "Libya's Fragmentation: Structure and Process in Violent Conflict" (London: I.B. Tauris, 2020) sowie zahlreicher Aufsätze und Analysen zu den Konflikten in Libyen.