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Libanon | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Libanon

Anne Bauer

/ 10 Minuten zu lesen

Der Libanon, der seit Jahren von politischen und wirtschaftlichen Krisen geplagt ist, wurde durch den Krieg zwischen der Hisbollah und Israel in eine noch tiefere Notlage gestürzt.

Israelische Luftschläge auf Ziele im Bezirk Nabatäa im Süden des Libanon am 23.09.2024. (© picture-alliance/AP)

Aktuelle Situation

Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 begann die libanesische Hisbollah-Miliz – als Zeichen der Unterstützung der Hamas – Raketen auf den Norden Israels zu schießen. Israel reagierte daraufhin mit Luftangriffen auf den Süden Libanons. Fast ein Jahr lang lieferten sich die Konfliktparteien einen mehr oder weniger kontrollierten Schlagaustausch, bevor der israelische Geheimdienst im September 2024 tausende mit Sprengstoff präparierte Kommunikationsgeräte im Besitz der Hisbollah explodieren ließ. Dies markierte den Beginn einer massiven Ausweitung der israelischen Angriffe, die sich nun auch gegen die Hauptstadt Beirut richteten. Dabei wurde der Generalsekretär der Hisbollah Hassan Nasrallah sowie viele weitere hochrangige Mitglieder getötet und die militärische Schlagkraft der Miliz enorm geschwächt.

Obwohl die Angriffe oft als „Präzisionsschläge“ beschrieben wurden, starben seit Ausbruch des Konflikts im Oktober 2024 bis zur Waffenruhe am 27. November 2024 laut Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums rund 4.000 Menschen im Libanon. Dem UNHCR zufolge flohen im Zuge der Auseinandersetzungen rund 1,3 Mio. Menschen aus ihren Heimatorten. Der bewaffnete Konflikt wurde am 27. November 2024 mit einer von den USA und Frankreich vermittelten Waffenruhe vorerst beendet. Trotz der angespannten Lage, insbesondere in den Grenzgebieten, und gegenseitiger Vorwürfe von Verstößen gegen die vereinbarten Bedingungen, scheint die Waffenruhe dennoch anzuhalten.

Der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel trifft den Libanon in einer Wirtschaftskrise, die von der Weltbank als eine der weltweit schwersten seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingestuft wird. Auslöser war der Zusammenbruch des Bankensystems im Herbst 2019. Im Laufe von Jahrzehnten war ein Finanzsystem entstanden, das auf ständigen Zufluss neuer Einlagen angewiesen war. Grundlage war ein sogenanntes Ponzi-Schema, bei dem Banken mit hohen Zinsen um Anleger warben, ohne dass dafür die erforderlichen Erträge erwirtschaftet wurden. Als das Vertrauen in Staat und Banken aufgrund von Misswirtschaft, Korruption und zusehends schlechteren Lebensbedingungen schwand, fiel das Konstrukt wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Das Bankensystem kollabierte, das libanesische Pfund verlor rund 95 % an Wert. Ersparnisse von Bürgern lösten sich über Nacht in Luft auf, wodurch rund 80 % der Bevölkerung laut UNO-Angaben unter die Armutsgrenze rutschten. Benzin, Lebensmittel, Medikamente und Trinkwasser wurden zur Mangelware. Die staatlichen Elektrizitätswerke liefern bis heute nur noch wenige Stunden Strom am Tag.

Als im August 2020 2.750 Tonnen unvorschriftsmäßig gelagertes Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut explodierten, wodurch ganze Stadtteile in Schutt und Asche gelegt und über 200 Menschen getötet wurden, offenbarte sich das ganze Ausmaß des politischen Verfalls und der eklatanten Fahrlässigkeit des libanesischen Staates gegenüber seinen Bürgern. Bis heute wurde niemand der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und die Politik zeigt sich weiterhin unwillig, dringend notwendige Reformen einzuleiten. Schlimmer noch: Die zerstrittenen parlamentarischen Blöcke lähmen sich durch politische Machtspiele gegenseitig. Seit Oktober 2022 gab es 12 gescheiterte Versuche, einen neuen Präsidenten zu wählen. Auch die Übergangsregierung war nur geschäftsführend im Amt. Die zweijährige exekutive Doppelvakanz konnte erst im Januar 2025 mit der Wahl eines neuen Präsidenten und der anschließenden Regierungsbildung beendet werden.

Seit Beginn des Kriegs in Syrien ist der Libanon außerdem Zufluchtsort für eine erhebliche Zahl syrischer Geflüchteter. Zusätzlich beherbergt das Land Hunderttausende Interner Link: staatenlose Palästinenser, die infolge der Kriege mit Israel (v.a. 1948 und 1967) in den Libanon flohen. Somit verzeichnet der Libanon die meisten Geflüchteten im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße weltweit – etwa jeder vierte Einwohner ist ein Flüchtling. Aufgrund politischen Unwillens und des institutionellen Verfalls ist der Staat weder in der Lage, die Geflüchteten noch die eigene Bevölkerung angemessen zu versorgen. Um vom eigenen Versagen abzulenken, instrumentalisiert die politische Elite die Flüchtlinge häufig als Sündenböcke für die Wirtschaftskrise und verschärft somit die Feindseligkeit gegenüber den Geflüchteten.

Ursachen und Hintergründe

Der Libanon ist zum Schauplatz des Konflikts zwischen dem Iran und Israel geworden. Die schiitische Hisbollah wird vom Iran politisch, militärisch und finanziell unterstützt. Die Organisation, die unter anderem von Deutschland und den USA als Terrorgruppe eingestuft wird, gehört zur sog. „Achse des Widerstands”, einem vom Iran angeführten Bündnis aus Akteuren mit anti-westlichen und anti-israelische Ideologien. Unter den iranischen Verbündeten besitzt die Hisbollah mit Abstand das umfangreichste Waffenarsenal und wird von Israel daher als ernstzunehmende Bedrohung angesehen. Umgekehrt besteht vor allem unter Libanesen im Süden des Landes die Angst, dass Israel, wie schon von 1982 bis 2000, Teile des Libanons besetzen könnte. Aufgrund dieser Angst und des Fehlens einer starken nationalen Armee sahen viele Libanesen die Hisbollah lange Zeit als einzige effektive Widerstandskraft im Land.

Nichtsdestotrotz ist klar, dass ein Großteil der libanesischen Bevölkerung nicht von der Hisbollah in einen Krieg mit Israel verwickelt werden will. Zudem wird ihre innenpolitische Rolle von Teilen der Gesellschaft seit Langem kritisch betrachtet. Im Jahr 2006 spaltete sich die politische Parteienlandschaft in zwei rivalisierende Lager, die die Hisbollah und den damit einhergehenden syrischen (und auch iranischen) Einfluss im Libanon entweder unterstützen oder ablehnen. Trotzdem erlangte die Hisbollah eine Vormachtstellung: Als politische Partei übt sie Kontrolle im Parlament aus, als Miliz übertrumpft sie die militärische Stärke der nationalen Armee, als soziale Organisation betreibt sie Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen.

Allerdings richten sich die Ressentiments in der Bevölkerung nicht nur gegen die Hisbollah, sondern auch gegen die anderen Parteien des traditionellen politischen Establishments sowie gegen die Bankenelite. Während der Massendemonstrationen im Herbst und Winter 2019, die als „Thawra“ (arabisch: Revolution) bezeichnet werden, forderten Protestierende erstmals konfessionsübergreifend die Abdankung der gesamten korrupten politischen Führung sowie die Abschaffung des Proporzsystem im Libanon. Gemäß dieser fragil austarierten Machtverteilung, die in mehrfach abgeänderter Form seit der Staatsgründung besteht, werden politische Schlüsselpositionen und andere staatliche Ämter nach Konfessionszugehörigkeit verteilt. So muss der Präsident ein maronitischer Christ sein, der Premierminister ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit.

Auf den ersten Blick mag dies als Versuch gewertet werden, eine repräsentative Demokratie zu garantieren. Das Ergebnis ist jedoch ein schwaches, korruptes, klientelistisches System. Politiker nutzen staatliche Ressourcen und Posten, um sich die Loyalität innerhalb ihrer Konfessionsgruppe zu sichern, anstatt für die nationale Einheit und eine gute Regierungsführung für alle libanesischen Bürger einzustehen. Gleichzeitig wurden staatliche Strukturen massiv zur persönlichen Bereicherung missbraucht, weswegen die libanesische Führungselite heute als nahezu vollständig diskreditiert gilt. So stehen führende Politiker und Banker, wie der ehemalige Zentralbankchef Riad Salameh, der über 300 Millionen US-Dollar veruntreut haben soll, auf internationalen Sanktionslisten.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Bei den Waffenstillstandsverhandlungen im Herbst 2024 zwischen Israel und der Hisbollah spielte die Entwaffnung der Hisbollah eine entscheidende Rolle. Bereits nach dem Libanon-Krieg im Sommer 2006 hätte sich die Miliz gemäß der UN-Resolution 1701 aus dem Süden des Libanon zurückziehen und entwaffnet werden müssen. So sollte sichergestellt werden, dass die libanesische Armee die einzige militärische Macht im Land ist. Auch Israel verpflichtete sich, seine Streitkräfte aus dem Libanon abzuziehen. An der Grenze sollte eine demilitarisierte Zone eingerichtet und die Einhaltung gemeinsam mit der UN-Blauhelmtruppe UNIFIL gewährleistet werden. Doch die Resolution wurde nie vollständig umgesetzt und deshalb bei den jüngsten Verhandlungen erneut als Grundlage herangezogen. Auf dieser Basis gelang es, unter amerikanischer und französischer Vermittlung und Überwachung Ende November 2024 die bislang anhaltende Waffenruhe auszuhandeln.

Auch nach Beendigung der Kampfhandlungen ist der bankrotte und weitgehend führungslose libanesische Staat jedoch nicht in der Lage, die vielschichtigen Krisen zu bewältigen. Internationale Geberinstitutionen und ausländische Regierungen leisten Unterstützung, um bspw. Binnenvertriebene zu versorgen oder die libanesische Armee zu finanzieren. Analysten warnen, dass die Bereitstellung umfassender Finanzhilfen ohne tiefgreifende strukturelle Reformen lediglich bedeutet, Geld aus dem Fenster zu werfen. Gleichzeitig würde dies den korrupten politischen und wirtschaftlichen Eliten erneut Legitimität verschaffen. Stattdessen wird gefordert, die Interessen libanesischer Bürger an die erste Stelle zu rücken und Unterstützung an klare Bedingungen zu knüpfen, um politische Reformen voranzutreiben. Der Internationale Währungsfonds bezeichnet die Umstrukturierung des Bankensystems als Voraussetzung für ein Darlehen an den Libanon. Darüber hinaus kann die Sanktionierung von Einzelpersonen, wie etwa das Einfrieren von Vermögen innerhalb der EU, ein wirksames Druckmittel sein.

Obgleich die internationale Gemeinschaft eine bedeutende Rolle bei der Bewältigung der Krisen im Libanon spielt, muss der Reformprozess letztlich unter libanesischer Führung stattfinden, um langfristig erfolgreich zu sein. Bereits im Taif-Abkommen, das 1990 den libanesischen Bürgerkrieg beendete, erkannten die Konfliktparteien an, dass das Proporzsystem den Libanon anfällig für interne und externe Krisen macht und deshalb schrittweise abgeschafft werden sollte. Dennoch hält sich das System, insbesondere deshalb, weil die ansonsten notorisch zerstrittenen Parteien lieber am Status quo festhalten, als Einbußen in Bezug auf ihre angestammten Machtpositionen zu riskieren, wie zuletzt während den Massenprotesten in den Jahren 2019 und 2020.

Auch die Hisbollah trug lange zur systematischen Straffreiheit der politischen Elite bei, wodurch bspw. eine strafrechtliche Aufklärung der Beiruter Hafenexplosion bis zum heutigen Tag verhindert wurde. Durch die Schwächung der Hisbollah könnte diese „Schutzfunktion“ nun wegfallen. Viele hoffen deshalb auf eine Neuordnung des politischen Machtgefüges. In den letzten Jahren immer lauter werdende Stimmen fordern die gänzliche Überwindung des konfessionellen Systems der Machtverteilung und die Schaffung nachhaltig demokratischer Grundlagen für eine unabhängige Regierung, Justiz und Armee, einen funktionierenden Sozialstaat und eine effektive Korruptionsbekämpfung.

Geschichte des Konflikts

Im Jahr 1920 wurde unter französischem Mandat der Großlibanon errichtet. Um einen wirtschaftlich lebensfähigen Staat zu schaffen, wurden die konventionellen Grenzen des mehrheitlich christlichen Libanongebirges um die angrenzenden muslimischen Hafenstädte und landwirtschaftlichen Gebiete erweitert. Um der Religionsgemeinschaft der maronitischen Christen eine dominierende Stellung zuzusichern, sorgte Frankreich dafür, dass die Machtverteilung in den staatlichen Institutionen nach einem konfessionellen Proporzsystem festgeschrieben wurde. Dies führte dazu, dass sich eine Mehrheit der muslimischen Bevölkerung der neuen Nation nicht zugehörig fühlte und stattdessen die Vereinigung mit dem benachbarten Syrien anstrebte. Die koloniale Gestaltung des Staates Libanon trug maßgeblich dazu bei, dass sich kein einheitliches Gründungsnarrativ bilden konnte und sich konfessionelle Spaltungen vertieften.

Obwohl Christen und Muslime 1943 mit dem Nationalpakt einen historischen Kompromiss schlossen, der den Weg für die Unabhängigkeit von Frankreich ebnete, blieb das Proporzsystem und damit die Rivalität um Macht und Einfluss entlang konfessioneller Linien bestehen. Hierbei basierten die festgelegten konfessionellen Quoten für staatliche Ämter lose auf einer Volkszählung von 1932, die aufgrund der politischen Sensibilität der demografischen Frage im Libanon bis heute die letzte Zählung geblieben ist. In den Jahrzehnten nach der Staatsgründung forderten insbesondere muslimische politische Kräfte immer lauter ein demokratisches Wahlsystem mit gleicher Stimmgewichtung. Der Zustrom hunderttausender palästinensischer Flüchtlinge, die vor und während des ersten arabisch-israelischen Kriegs (1948) flohen bzw. vertrieben wurden, stellte eine zusätzliche Zerreißprobe dar.

Der libanesische Bürgerkrieg (1975-1990), der 150.000 Menschen das Leben kostete und fast eine Million zur Auswanderung zwang, war die tragische Folge des defizitären politischen Systems, das den intern sowie extern einwirkenden Krisen nicht gewachsen war. Bei allen taktischen Veränderungen von Allianzen und Fronten während des Bürgerkriegs spielte sich der Hauptkonflikt zwischen muslimischen und christlichen Parteien ab. Erstere forderten mehr politische Rechte und kämpften hierfür an der Seite der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die sich im Libanon etabliert hatte und von dort aus Angriffe auf Israel durchführte. Die christlichen Parteien hingegen wollten ihre Privilegien verteidigen und versuchten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der demografischen Frage, die mehrheitlich muslimische PLO aus dem Libanon zu verdrängen.

Das militärische Eingreifen, insbesondere Israels und Syriens, aber auch der USA und Frankreichs, während des Bürgerkriegs goss zusätzlich Öl ins Feuer. Israel errichtete eine Besatzungszone im Südlibanon (1982-2000) und kämpfte an der Seite christlicher Streitkräfte vor allem gegen die PLO. Letztere zog sich zwar im Jahr 1982 aus dem Libanon zurück, doch formierte sich im selben Jahr als direkte Reaktion auf die israelische Besatzung die Hisbollah als neue Widerstandsbewegung.

Der Bürgerkrieg endete 1990 mit dem Taif-Abkommen, das das Proporzsystem zugunsten der muslimischen Parteien neu austarierte, jedoch nicht abschaffte. Die israelische Armee zog sich erst im Mai 2000 aus dem libanesischen Staatsgebiet zurück. Die Hisbollah konnte diesen Rückzug als Sieg für sich reklamieren, was ihr Ansehen im Land und in der Region stärkte. Gleichzeitig nutzte die Hisbollah das staatliche Vakuum, um vor allem die schiitische Bevölkerung durch den Aufbau von grundlegender Infrastruktur und Dienstleistungen – wie etwa Gesundheitsversorgung, Bildungsangebote und Sozialleistungen – an sich zu binden (sog. Staat im Staat).

Weitere Inhalte

Anne Bauer widmet sich in ihrer journalistischen und wissenschaftlichen Arbeit der Region Nahost, in der sie den Großteil ihres beruflichen und akademischen Lebens verbracht hat. Bis 2024 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Libanon-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung tätig. Hier setzte sie sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Flucht und Migration auseinander, insbesondere mit den Folgen des Syrien-Kriegs. Davor lebte sie mehrere Jahre in Israel und den palästinensischen Gebieten, wo sie verschiedene friedensfördernde Projekte und Forschungsarbeiten mit dem Fokus Konfliktlösung und Mediation umsetzte.