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Kaschmir | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Kaschmir

Sandra Destradi

/ 9 Minuten zu lesen

Fünf Jahre nach der Aufhebung des Autonomiestatus der von Indien kontrollierten Teile Kaschmirs bleibt der Konflikt angespannt – und es besteht wenig Hoffnung auf eine Verbesserung.

Indische Paramilitärs stehen vor einem geschlossenen Laden in Srinagar in Jammu und Kaschmir, 17.12.2019. Kurz vor der Verkündung der Aufhebung der Autonomie von Kaschmir wurden zehntausende zusätzliche Truppen in das Gebiet entsandt und alle wichtigen Politiker der Region unter Hausarrest gestellt. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Idrees Abbas)

Aktuelle Situation

Im August 2019 hatte die indische Zentralregierung unter Premierminister Narendra Modi von der Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party – BJP) die Artikel 370 und 35A der indischen Verfassung aufgehoben, die dem einzigen Unionsstaat mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung ein hohes Maß an Autonomie eingeräumt hatten. Der Unionsstaat Kaschmir wurde aufgelöst und in zwei Unionsterritorien (Jammu und Kaschmir sowie Ladakh) aufgeteilt, die der Zentralregierung unterstellt sind und somit deutlich weniger Autonomie genießen.

Seit 2019 hat die Zentralregierung ihre Kontrolle über die Region weiter gefestigt. Kaschmir ist eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt. Die Anzahl der dort stationierten indischen Truppen wird auf eine halbe Million geschätzt. Die indische Regierung begründet diese massive Präsenz von Sicherheitskräften mit der Notwendigkeit, die Region zu stabilisieren und dadurch zu ihrer wirtschaftlichen Entwicklung beizutragen. Allerdings ist die Bilanz dieser Maßnahmen, auch wegen der Folgen der Corona-Pandemie, gemischt: Das Wirtschaftswachstum in Jammu und Kaschmir lag nach einer Phase der Rezession in 2019/20 und 2020/21 im Haushaltsjahr 2023/24 bei 7,4 % und damit auf einem mit den Jahren vor der Abschaffung des Autonomiestatus vergleichbaren Niveau (2017/18: 6,4 %, 2018/19: 7,9 %). Die lokale Bevölkerung leidet unter einer hohen Arbeitslosigkeit (April 2023: 23,1 %), insbesondere unter Jugendlichen.

Angesichts der Entwicklungen wächst die Unzufriedenheit in der Region. Die Zentralregierung in Neu-Delhi reagiert mit flächendeckender Repression und wiederholten Abschaltungen des Internets. Während separatistische Gruppen vor 2019 relativ sichtbar agierten und einzelne Rebellen in den sozialen Medien Berühmtheit erlangten, gingen nach 2019 diese Gruppen verstärkt in den Untergrund. Neben Anschlägen gegen indische Sicherheitskräfte griffen Terroristen auch mehrfach Einwanderer aus anderen Teilen Indiens an. Bei einem Anschlag auf einen Bus mit hinduistischen Pilgern kamen im Juni 2024 neun Menschen ums Leben und über 30 wurden verletzt.

Unmittelbar nach der Aufhebung von Art. 370 und Art. 35A der indischen Verfassung hatte Premierminister Modi versprochen, dass die Bevölkerung Kaschmirs weiterhin ihre politischen Vertreter in Form eines regionalen Parlaments wählen dürfe. Die Wahlen wurden jedoch unter Verweis auf die Sicherheitslage immer wieder verschoben. Zahlreiche lokale Politiker sind weiterhin inhaftiert, anderen wurde jegliche politische Tätigkeit untersagt. Die Zentralregierung veränderte außerdem den Zuschnitt der Wahlkreise, indem in den mehrheitlich von Hindus bewohnten Gebieten von Jammu zusätzliche Wahlkreise gebildet wurden – potenziell zum Vorteil der BJP (vgl. Donthi 2024).

Im Dezember 2023 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Veränderung des Autonomiestatus von Kaschmir, ordnete aber auch gleichzeitig die Durchführung von Wahlen für das lokale Parlament bis spätestens Ende September 2024 an. Diese sind für den Zeitraum vom 28. September bis 4. Oktober geplant. Das neu zu wählende lokale Parlament wird aber kaum eigenständige Kompetenzen haben, da Kaschmir weiterhin ein „Union Territory“ unter direkter Kontrolle der Zentralregierung bleibt.

Der Konflikt um Kaschmir hat auch Auswirkungen auf Indiens Beziehungen zu Pakistan und China. Pakistan, das den Westen und Norden der Region kontrolliert und Anspruch auf ganz Kaschmir erhebt, betrachtet jede Statusveränderung als Provokation. Das bilaterale Verhältnis hat sich 2016 verschlechtert, als von Pakistan unterstützte militante Gruppen im von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs Anschläge gegen indische Truppen verübten. Die indische Regierung hatte darauf mit Luftschlägen gegen Trainingscamps islamistischer Terroristen, u.a. auf pakistanischem Territorium, reagiert. 2021 wurde zwar ein Waffenstillstand vereinbart, der aber immer wieder an der umstrittenen Grenzlinie zwischen beiden Staaten („Line of Control“) verletzt wird.

Die angespannten Beziehungen zwischen Indien und China haben auch mit dem Konflikt um Kaschmir zu tun, da China seit 1962 die benachbarte Region Aksai Chin besetzt hält, die beide Staaten für sich beanspruchen. Dementsprechend protestierte auch die chinesische Regierung gegen die Veränderung des Status quo in Kaschmir, da sie ihre territorialen Ansprüche durch die Schaffung eines indischen Unionsterritoriums im angrenzenden Ladakh bedroht sieht. An der „Line of Actual Control“, dem umstrittenen Grenzverlauf zwischen Indien und China, kam es im Sommer 2020 zu schweren Auseinandersetzungen zwischen indischen und chinesischen Truppen.

Ursachen und Hintergründe

Kaschmir steht seit der Unabhängigkeit von Indien und Pakistan im Jahr 1947 im Mittelpunkt des bilateralen Konflikts zwischen beiden Staaten. Die Unabhängigkeit ging mit der Teilung Britisch-Indiens in das säkulare Indien und das muslimische Pakistan einher. So wie andere Fürstentümer musste Kaschmir entscheiden, ob es Indien oder Pakistan beitreten will. Die Entscheidung gestaltete sich besonders schwierig, da der Herrscher hinduistischen Glaubens, die Bevölkerung dagegen mehrheitlich muslimisch war.

Kaschmir wollte zunächst ein unabhängiger Staat werden und lavierte deshalb zwischen Indien und Pakistan. Erst als pakistanische Freischärler vollendete Tatsachen zugunsten Pakistans schaffen wollten, akzeptierte der Maharadscha den Beitritt zur Indischen Union. Das war die Gegenleistung, die Neu-Delhi für die Entsendung indischer Streitkräfte verlangte. Der Krieg endete am 1. Januar 1949 mit einem von der UNO vermittelten Waffenstillstand, der zur De-facto-Teilung Kaschmirs zwischen Indien und Pakistan führte. Die Waffenstillstandlinie von 1949 entspricht der heutigen „Line of Control“, der De-facto-Grenze zwischen beiden Ländern.

Bis heute beanspruchen sowohl Indien als auch Pakistan das gesamte Gebiet Kaschmirs für sich. Aus historischen Gründen sahen beide Staaten Kaschmir lange Zeit nicht nur als essentiellen Bestandteil des eigenen Territoriums, sondern vor allem der eigenen Identität an. Pakistan beansprucht Kaschmir aufgrund dessen mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Pakistan versteht sich seit seiner Gründung 1947 als Staat für die Muslime Südasiens. Mit der Unabhängigkeit Bangladeschs von Pakistan (1971) hat dieses Selbstbild zwar Risse bekommen, doch der Anspruch wird bis heute aufrechterhalten.

Indien ist hingegen laut Verfassung ein säkularer Staat. Dieser Aspekt wurde jahrzehntelang von der indischen Regierung als wichtiges Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem Rivalen im Nordwesten verstanden, sodass aus indischer Sicht die Zugehörigkeit Kaschmirs zu Indien den säkularen und pluralistischen Charakter des indischen Staates verdeutlichte. Der Kaschmirkonflikt war somit lange Zeit viel mehr als ein reiner Territorialkonflikt zwischen zwei Atommächten, sondern für beide Staaten identitätsstiftend.

Unter der BJP-geführten Regierung von Premierminister Modi verliert der Säkularismus zunehmend an Bedeutung. Stattdessen hat sich ein hindu-nationalistischer Mehrheitsdiskurs etabliert, der mit der Marginalisierung und Verfolgung der muslimischen Minderheit einhergeht. Die hindu-nationalistische Ideologie („Hindutva“) beruht auf der Gleichsetzung der indischen Identität mit dem Hinduismus. Sie wird von einer Vielzahl hindu-nationalistischer Organisationen aus dem Umfeld der BJP propagiert, u.a. von der Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). Diese Organisationen waren in den vergangenen Jahren für die Stimmungsmache gegen Muslime verantwortlich.

Die hindu-nationalistische Ideologie gibt zudem vor, Indien solle ein „starker Staat“ sein, der eine entschlossenere Außenpolitik als in der Vergangenheit betreibt. Indien solle insbesondere gegenüber den Rivalen Pakistan und China selbstbewusster auftreten. Das führt dazu, dass sich die Regierung Modi in Bezug auf den Status Kaschmirs noch weniger verhandlungsbereit zeigt als die Vorgängerregierungen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Seit dem ersten indisch-pakistanischen Krieg von 1947 bis 1948 wurden immer wieder Versuche unternommen, eine Lösung für den Kaschmirkonflikt zu finden. Die UNO sah 1949 eine Volksabstimmung zur Zukunft der Region vor, die jedoch bis heute nicht durchgeführt wurde, u.a. weil Indien dies dezidiert ablehnt. Außerdem entsandte die UNO eine Beobachtermission zur Überwachung des am 1. Januar 1949 erklärten Waffenstillstands. Die UNMOGIP genannte Mission wurde seitdem immer wieder verlängert, agiert aber wenig effektiv.

Indien und Pakistan haben sehr unterschiedliche Ansätze, was die Konfliktregelung betrifft. Während Pakistan auf die Einhaltung bestehender UN-Resolutionen pocht, möchte Indien das Problem bilateral lösen – unter Ausschluss von Vertretern kaschmirischer Gruppen und ohne internationale Vermittler. Der bisher bedeutsamste und vielversprechendste Ansatz war der im Jahr 2003 vom indischen Premierminister Vajpayee lancierte „Verbunddialog“. Die grundlegende Idee war dabei, eine möglichst breite Palette an Themen und Problemen zu behandeln – beispielsweise auch Fragen von Handel und Transport – und sich nicht ausschließlich auf die Kaschmirfrage zu fokussieren. Der Verbunddialog führte zwischen 2004 und 2008 zu einer deutlichen Verbesserung der bilateralen Beziehungen, bis der Prozess durch den Anschlag einer pakistanischen Terrorgruppe auf die indische Metropole Mumbai im November 2008 unterbrochen wurde.

Nach einer langsamen Normalisierung haben sich die Beziehungen seit dem Amtsantritt von Modi im Mai 2014 wieder verschlechtert. Die Modi-Regierung verfolgt in der Kaschmir-Frage und gegenüber Pakistan einen deutlich härteren Kurs. Die Regierung plant und implementiert keine Maßnahmen, um den Konflikt konstruktiv zu bearbeiten. Insgesamt sieht sich Indien als aufstrebende Großmacht, die in einer anderen Liga spielt als Pakistan und sich nicht allzu sehr um diesen als lästig wahrgenommenen, krisengeplagten Nachbarn kümmern muss. Eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen zu Pakistan ist keine Priorität der indischen Regierung – ganz im Gegenteil: der populistische Anführer Modi nutzte den Konflikt immer wieder zur innenpolitischen Mobilisierung. Insbesondere in den (sozialen) Medien wird eine anti-pakistanische Stimmung geschürt, die die Regierung im Falle eines erneuten Anschlags dazu nutzen könnte, um noch dezidierter zu reagieren. Gleichzeitig scheint Premierminister Modi darauf bedacht zu sein, eine unkontrollierte Eskalation des Konflikts mit dem nuklear bewaffneten Nachbarstaat zu vermeiden.

Außen- und Innenpolitik sind im Kaschmir-Konflikt eng miteinander verwoben: Indiens Muslime werden häufig von der hindu-nationalistischen BJP und ihren Vorfeldorganisationen als „fünfte Kolonne“ Pakistans dargestellt. Premierminister Modi betont zwar das Engagement seiner Regierung für die wirtschaftliche Entwicklung von Jammu und Kaschmir und für die Integration der Region in den indischen Staat. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass die Regierung beabsichtigt, durch die Ansiedlung von Hindus aus anderen Landesteilen die Demographie der Region zu verändern und diese dadurch stärker zu kontrollieren. Die Abschaffung des Autonomiestatus des einzigen mehrheitlich muslimischen Unionsstaats war hierfür eine wichtige Voraussetzung und stand schon lange auf der Agenda der regierenden hindu-nationalistischen BJP. Durch die Verfassungsänderung und die Einführung entsprechender Gesetze können indische Staatsbürger aus anderen Regionen in Kaschmir Land erwerben, wohnhaft sein und sich auf Stellen im öffentlichen Dienst bewerben.

Geschichte des Konflikts

Nach dem ersten Krieg um Kaschmir 1948/49 wurde der indische Teil Kaschmirs im Jahr 1957 zum Unionsstaat Jammu und Kaschmir. Dem Unionsstaat wurden weitreichende Autonomierechte gewährt. Der pakistanische Teil Kaschmirs besteht aus der autonomen Teilregion Azad Kaschmir und dem Sonderterritorium Gilgit-Baltistan. Auch China ist an dem Konflikt um Kaschmir beteiligt, da es 1962 das im Osten Kaschmirs gelegene Hochlandgebiet Aksai Chin eroberte und bis heute kontrolliert.

Der zweite Kaschmirkrieg, den Pakistan 1965 in der Hoffnung begann, das gesamte Territorium zu erobern, veränderte den Grenzverlauf nicht. 1972 unterzeichneten Indien und Pakistan das Shimla-Abkommen, in dem sie erklärten, die als Line of Control bezeichnete Waffenstillstandslinie zu respektieren und eine endgültige Lösung für Kaschmir bilateral, ohne die Beteiligung weiterer Akteure, auszuhandeln.

1999 trugen Indien und Pakistan in der Hochgebirgsregion Kargil einen weiteren kurzen bewaffneten Konflikt aus. Nachdem beide Länder 1998 Atomwaffen getestet hatten, kam es 1999 zu einer begrenzten militärischen Konfrontation beider Staaten. Der Kargil-Konflikt, in dem sich indische Truppen und von Pakistan unterstützte Einheiten bekämpften, blieb regional begrenzt und endete mit dem Rückzug der pakistanischen Einheiten aus den zuvor besetzten Gebieten. Die Lage in Kaschmir blieb unverändert.

Neben dem indisch-pakistanischen Konflikt ist Kaschmir seit Jahrzehnten von den Aktivitäten mehrerer bewaffneter Gruppen betroffen. Hierzu gehören Separatisten, die aus Teilen Kaschmirs auf beiden Seiten der Line of Control einen unabhängigen Staat bilden wollen, sowie von Pakistan aus unterstützte islamistische Gruppen, die in Jammu und Kaschmir operieren. Die insbesondere seit 1989 wiederholt aufflammenden Unruhen im indischen Teil Kaschmirs werden vor allem durch die massiven Menschenrechtsverletzungen seitens der indischen Armee angestachelt. Die Proteste und Akte des Widerstands finden weitgehend ohne pakistanische Unterstützung statt.

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Prof. Dr. Sandra Destradi ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Universität Freiburg und DAAD-Langzeitdozentin an der Reichman University in Herzliya.