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Irak | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Irak

Achim Rohde

/ 11 Minuten zu lesen

Die seit Oktober 2022 amtierende Regierung unter Premierminister Muhammad Shia’ Al-Sudani profitiert von einer verbesserten Sicherheitslage und Wirtschaftswachstum. Doch grundlegende Konflikte bleiben ungelöst.

5. Januar 2025: Der irakische Premierminister Mohammed Shia Al-Sudani bei einer Militärparade aus Anlass des 104. Jahrestages der Gründung der irakischen Armee. (© picture-alliance, Anadolu)

Die aktuelle Situation

Die größten Massenproteste der irakischen Geschichte von Oktober 2019 bis Herbst 2021 richteten sich hauptsächlich gegen das sogenannte Muhasasa-System. Das nach der Invasion von 2003 und dem Sturz Saddam Husseins von der US-Übergangsverwaltung eingeführte Quotensystem sieht die Verteilung von politischer Macht und Ressourcen entlang eines ethnisch-konfessionellen Proporzes vor. Das System sichert den Parteien und Funktionären der schiitischen Bevölkerungsmehrheit quasi automatisch eine dominante Stellung im politischen System und in der Verwaltung des Landes.

Das ungerechte Quotensystem fördert Korruption, schürt die konfessionelle Spaltung der Gesellschaft und verhindert eine an Sachfragen orientierte Politik. Die „Oktober-Proteste“ wurden von der Regierung gewaltsam unterdrückt und verebbten schließlich während der Corona-Pandemie. Doch führten sie zum Rücktritt der Regierung unter Mustapha al-Kadhimi und zu vorgezogenen Neuwahlen im Jahr 2021. Daraus ging die Saairun-Liste („Allianz für Reformen“) unter Führung von Moqtada as-Sadr mit Abstand als größte Fraktion hervor. Der aus einer Familie schiitischer Geistlicher stammende Sadr war zuvor aus einem Bündnis schiitischer Parteien ausgeschert, das die irakische Politik seit Jahren dominiert. Er vertritt eine populistische Mischung aus Religiosität, Sozialkritik und einem konfessionsübergreifenden Patriotismus.

Die Sadristen bemühten sich über ein Jahr lang, eine Regierung jenseits des Quotensystems ohne die Parteien des schiitischen Bündnisses zu bilden, die z.T. vom Iran unterstützt und gelenkt werden. Als sie scheiterten, verließen die Sadristen im Sommer 2022 das Parlament und trugen ihren Protest auf die Straße. Es kam zur Erstürmung des Parlaments und zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sadristen und schiitischen Milizen in Bagdad und im Süden des Landes. Die anschließende Bildung einer Regierung aus mehrheitlich altgedienten Politikern unter Premierminister Muhammad Shia’ al-Sudani demonstrierte die Beharrungskräfte der 2003 von den USA installierten politischen Elite. Für Herbst 2025 stehen die nächsten Parlamentswahlen an.

Die autonome kurdische Region im Norden des Irak befindet sich seit der gescheiterten Abspaltung vom irakischen Staat im Herbst 2017 in einer politischen und wirtschaftlichen Krise. Regierungskritische Proteste werden gewaltsam unterdrückt. Das von den konkurrierenden Familienverbänden der Barzanis und Talabanis und den von ihnen geführten Parteien dominierte Klientelsystem ist unter Druck geraten. Wahlen zum kurdischen Regionalparlament wurden mehrmals verschoben und erst im Oktober 2024 abgehalten, ohne grundsätzliche Veränderungen der Kräfteverhältnisse herbeizuführen. Innerkurdische Konflikte eröffnen Spielräume für die Türkei und den Iran, die in Nordirak regelmäßig Rückzugsorte ihrer jeweiligen kurdischen Oppositionsgruppen bombardieren. Das türkische Militär hält im Kampf gegen die PKK seit Jahren einen sog. Sicherheitskorridor in Kurdistan-Irak besetzt.

Auf regionaler Ebene ist Irak indirekt in den Konflikt zwischen Israel und dem Iran verstrickt. Im Zuge der Kriege in Gaza und Libanon haben schiitische Milizen als Teil der von Iran geführten „Achse des Widerstands“ Raketen und Drohnen auf Ziele in Israel gefeuert; die israelische Luftwaffe flog im Gegenzug Angriffe gegen die Milizen im Irak. Noch ist nicht absehbar, wie sich nach dem Zusammenbruch des vom Iran unterstützten Assad-Regimes in Syrien die Beziehungen Iraks zu Damaskus entwickeln werden. Ein mögliches Wiederaufflammen des syrischen Bürgerkriegs oder eine fortgesetzte Eskalation zwischen der Türkei und der kurdischen autonomen Region in Syrien würde auch die Stabilität des Irak gefährden.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts

Die irakische Innen- und Außenpolitik sieht sich mit vier großen innerstaatlichen und regionalen Konflikten konfrontiert: (1) Seit der Etablierung des Muhasasa-Systems 2003 kämpfen religiöse und ethnische Fraktionen und Gruppen um die Kontrolle und politische Ausrichtung des irakischen Staates. (2) Die Spannungen zwischen dem irakischem Zentralstaat und der kurdischen Autonomieregion bleiben ungelöst und können jederzeit eskalieren. (3) In den Protesten der Jahre 2019 bis 2021 offenbarte sich eine tiefverwurzelte Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung und dem politischen System insgesamt. (4) Schließlich bedrohen regionale Konflikte die Stabilität des Irak. Die um sich greifende Umweltzerstörung und Klimakrise wirken wie ein Katalysator für die verschiedenen Konflikte.

  1. Die aktuellen interreligiösen und -ethnischen Konfliktlinien innerhalb Iraks sind maßgeblich auf die von den USA geführte Invasion von 2003 und die desaströsen Weichenstellungen der US-Besatzungsmacht zurückzuführen, insbesondere die weitgehende Zerschlagung staatlicher Strukturen, die Auflösung der irakischen Armee und die Einführung des ethno-konfessionellen Quotensystems. Vor allem arabisch-sunnitische Irakerinnen und Iraker wurden und werden systematisch benachteiligt. Die Narben des Bürgerkriegs der 2000er und 2010er Jahre sind nicht verheilt, der Wiederaufbau kriegszerstörter Regionen verläuft nur schleppend, traumatische Erfahrungen bleiben unverarbeitet, Binnenflüchtlinge kehren nur langsam in ihre Wohnorte zurück.

    Im Zuge des Bürgerkriegs verschlechterte sich auch die Lage der religiösen und ethnischen Minderheiten im Land (Jesiden, Christen, Turkmenen, Assyrer u.a.). Sie gerieten zwischen die Fronten sich erbittert bekämpfender schiitischer und sunnitischer Milizen. Die Schreckensherrschaft des IS von 2014 bis 2017 verschlimmerte ihre Lage zusätzlich. Insbesondere die kurdisch-jesidische Minderheit wurde zum Ziel einer genozidalen Kampagne des IS. Die Folge ist eine zunehmende räumliche Entflechtung der irakischen Gesellschaft – zwischen Kurden im Norden, Sunniten im Westen und Schiiten im Süden des Irak. Wie von den Kurden wurden auch von sunnitischer Seite Forderungen nach Teilautonomie erhoben.

  2. Im Windschatten des Krieges gegen den IS weitete die kurdische Regionalregierung die bereits bestehende Autonomie aus. Im Jahr 2017 scheiterte allerdings der Versuch, die kurdischen Provinzen auf dem Wege eines Referendums in die staatliche Unabhängigkeit zu führen. Mit Unterstützung der Türkei und des Iran gelang es der Zentralregierung, die territoriale Einheit des Irak zu erhalten und die kurdische Bewegung erheblich zu schwächen. Die gescheiterte Unabhängigkeit verstärkte die Machtkämpfe zwischen den beiden dominierenden Klans, den Barzani in den Provinzen Erbil und Dohuk und den Talabani in Suleimanija. Die innerkurdische Spaltung verhindert eine gemeinsame Verhandlungsposition gegenüber Bagdad mit Blick auf umstrittene Gebiete und den kurdischen Anteil an den nationalen Erdöleinnahmen.

  3. Die an die Aufstände des „Arabischen Frühlings“ erinnernden Massenproteste der Jahre 2019 bis 2021 richteten sich gegen die Untätigkeit der Regierung angesichts von Wirtschaftskrise, verfallender Infrastruktur, grassierender Armut und die Verwandlung des Irak in einen Art Mafia-Staat. Die Proteste signalisierten mit ihrer an Sachproblemen orientierten Agenda aber auch das Wiedererstarken einer irakischen Zivilgesellschaft jenseits konfessionalistischer Ideologie und Propaganda.

    Den Reformkräften gegenüber stehen ein von Islamisten dominierter Staat und von islamistischen Parteien gesteuerte Milizen. Sie sind bekannt für ihr reaktionäres Gesellschaftsbild und ihr brutales Vorgehen gegen Andersgläubige, kritische Journalisten und Angehörige der LGBTQ-Community. 2024 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das homosexuelle Handlungen mit Haftstrafen von bis zu 15 Jahren belegt. Aus den Reihen der Milizen wurden regelmäßig regierungskritische Demonstrationen angegriffen und zahlreiche bekannte Oppositionelle ermordet. Zudem sind die Milizen zentrale Akteure in der mafiösen Schattenökonomie des Irak.

  4. Infolge des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, dem Krieg im Gazastreifen und im Libanon sowie den ersten direkten militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Iran im Jahr 2024 ist die Gefahr eines regionalen Krieges gewachsen, in den der Irak hineingezogen werden könnte. Ob sich dagegen der Sturz des Assad-Regimes in Syrien dauerhaft stabilisierend auswirken wird, bleibt abzuwarten. Sollte die Befriedung Syriens scheitern und dort erneut kriegerische Auseinandersetzungen ausbrechen, könnte der Irak das Ziel von Fluchtbewegungen werden und zudem in regionale Machtkämpfe auf syrischem Territorium hineingezogen werden, etwa zwischen der Türkei und kurdischen Einheiten oder zwischen dem Iran und der Türkei.

Die Konflikte werden durch die Folgen des Klimawandels verschärft. Trockenheit und Extremtemperaturen forcieren die Umweltzerstörung und schmälern die ohnehin niedrige Produktivität der Landwirtschaft. Die Wassermenge von Euphrat und Tigris wird zusätzlich durch türkische Staudämme am Oberlauf der Flüsse gedrosselt. Der Zugang zu Trinkwasser wird knapper und die Wasserqualität verschlechtert sich. Sandstürme nehmen zu. Giftiger Smog gefährdet vielerorts die Gesundheit. Gleichzeitig wird die Bevölkerung bis 2030 auf über 50 Millionen Einwohner wachsen, ein Anstieg von etwa 10 Millionen innerhalb eines Jahrzehnts. Die Klimakrise ist längst kein Nischenthema mehr: Im November 2024 trat Umweltminister Nizar Amedi als erster Minister im Kabinett Al-Sudanis von seinem Amt zurück. Grund war der zunehmende Unmut in der Bevölkerung angesichts der Unfähigkeit der Regierung, wirksame Maßnahmen gegen die im Alltag spürbaren Folgen des Klimawandels zu ergreifen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Im Februar 2023, knapp 20 Jahre nach der US-geführten Invasion und dem Sturz von Saddam Hussein, erklärte Staatspräsident Abdul Latif Rashid den Irak für befriedet. Tatsächlich gibt es positive Indikatoren: Die Lebenserwartung steigt, die Wirtschaft wächst, die Sicherheitslage hat sich seit dem Krieg gegen den IS stabilisiert: von 2017 bis 2022 hat sich die Anzahl der dokumentierten zivilen Todesopfer von über 13.000 auf etwa 740 zivile Todesopfer reduziert. Im Jahr 2024 wurde der erste gesamtirakische Zensus seit 1987 durchgeführt, und Meinungsumfragen zeigen zunehmendes Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen. Zugleich belegen die Umfragen auch große regionale Unterschiede; vor allem in den drei autonomen kurdischen Provinzen herrscht große Unzufriedenheit und Skepsis angesichts politischer Stagnation und der schweren Wirtschaftskrise.

Auch bei der Demokratisierung gibt es Fortschritte: Seit 2003 wurden fünf weitgehend freie und faire Parlamentswahlen abgehalten, die jeweils in eine friedliche Machtübergabe mündeten. Im Laufe der Jahre kam es zu einer deutlichen Pluralisierung des Parteienspektrums im Parlament. Dadurch erweitert sich auch der Handlungsspielraum für Allianzen und Koalitionen jenseits konkordanzdemokratischer Quoten. Nach dem Scheitern von Moqtada as-Sadr 2021/22 versucht nun Muhammad Shia’ Al-Sudani seine Wiederwahl als Premierminister durch eine Öffnung gegenüber schiitischen und kurdischen Parteien abzusichern.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen, die turnusmäßig im Oktober 2025 stattfinden, verschärft sich die Auseinandersetzung zwischen den von al-Sudani repräsentierten moderaten Reformkräften und den Verfechtern einer zunehmenden Islamisierung und Autokratisierung des irakischen Staates. Der Exponent dieses Kurses ist der ehemalige Premierminister und Vizepräsident, Nuri al-Maliki, als starker Mann innerhalb des verbleibenden Bündnisses schiitischer Parteien. Noch sind die Signale der Sudani-Regierung widersprüchlich. Auf der einen Seite hat der Premierminister den Nationalen Entwicklungsplan für 2024 bis 2028 vorgestellt, der u.a. eine verbesserte Kooperation mit den Kurden sowie die Bekämpfung der Korruption und die Einführung von Transparenzprinzipien verspricht. Auf der anderen Seite wird durch die schiitisch-islamistische Mehrheit im Parlament die Islamisierung des Rechtssystems vorangetrieben, etwa im Personenstandsrecht.

Auf regionaler Ebene bemüht sich die Sudani-Regierung sowohl um die Zurückdrängung des iranischen Einflusses als auch um die Verbesserung der Beziehungen zur Türkei. Im August 2024 unterzeichnete Bagdad z.B. ein Protokoll über die Sicherheitskooperation mit Ankara. Allerdings führt die Türkei weiterhin Angriffe gegen kurdische Ziele auf irakischem Boden durch, ohne Bagdad zu konsultieren, wie der Angriff auf das Lager Makhmour am 11. September 2024 gezeigt hat.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten könnten die Stabilisierung und Demokratisierung des Irak unterstützen, indem sie den Dialog über das gesamte politische Spektrum und die Zivilgesellschaft hinweg fördern, um eine Revision der 2005 verabschiedeten Verfassung zu erreichen. Gemäß der International Crisis Group (ICG) sollte zudem die EU-Beratungsmission im Irak (EUAM Iraq) auf Reformen des Sicherheitssektors und eine stärkere Einhegung der Milizen drängen. Die ICG sieht auch eine Vermittlerrolle für die EU in den kurdischen Autonomiegebieten. Schließlich ist das mehrjährige Kooperationsprogramm 2021-27 zwischen der EU und Irak ein Rahmen für die Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes.

Eine aktivere Rolle der EU in Irak scheint möglich und angebracht, da die USA in der zweiten Amtszeit Trumps Anstalten machen, ihr militärisches, finanzielles und diplomatisches Engagement in Irak (und Syrien) zu reduzieren. Zugleich übt die US-Regierung Druck auf Irak aus, seine engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran einzuschränken. Im Zuge der erneut verschärften US-Sanktionen wurde etwa im März 2025 die bis dato für Irak geltende Ausnahmegenehmigung gestrichen, Strom aus Iran zu importieren. Da Bagdad seinen Strombedarf aus eigener Kraft nicht decken kann, stellt diese Entscheidung das Land vor ernste Probleme, bei deren Lösung europäische Länder Hilfe leisten könnten.

Geschichte des Konflikts

Die Revolution von 1958 führte zur Gründung der Republik Irak, und zu Versuchen, das Land unabhängig von den beiden Machtblöcken des Kalten Krieges zu entwickeln. Bis in die späten 1960er Jahre wechselten sich von unterschiedlichen Teilen der Armee gestützte, mehr oder weniger populäre autokratische Regenten in schneller Folge ab. Im Juli 1968 übernahm die Ba’th-Partei nach einem Putsch für mehr als drei Jahrzehnte die Macht.

Nach seinem Aufstieg zum Präsidenten (1979) etablierte Saddam Hussein eine Diktatur. Die auch unter autoritären Bedingungen in Irak existierende politische und zivilgesellschaftliche Vielfalt wurde seit dem Militärputsch der Ba’th-Partei von 1968 zerstört, unterdrückt oder in die neuen Machtstrukturen eingebunden. Religiöse Parteien wurden verfolgt, doch blieben Moscheen und religiöse Vereinigungen bestehen. Ein Hauptziel der Repression waren die Kurden, z.B. mit der genozidalen Anfal-Kampagne Ende der 1980er Jahre, mit der das arabisch-nationalistische Regime die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen ein für alle Mal brechen wollte. Im Anschluss an den Golfkrieg von 1991 richteten die Alliierten eine Flugverbotszone über den drei kurdisch geprägten Provinzen des Irak ein, um diese vor weiteren Angriffen des Regimes zu schützen. Das war die Keimzelle der heutigen kurdischen autonomen Region.

Religiöse Akteure konnten seit den 1990er Jahren Handlungsspielräume zurückgewinnen. Das war auch in den Entbehrungen der Embargo-Jahre begründet. Um seiner Herrschaft neue Legitimität zu verleihen, verstärkte das Regime diesen Trend zusätzlich durch eine populistische Hinwendung zu religiösen Werten und Diskursen. Die Herrschaft der Ba’th-Partei – seit den 1980er Jahren eine personalisierte Diktatur Saddam Husseins – stellte damit die Weichen für die Dominanz islamistischer Kräfte, die seit 2003 zu den maßgeblichen Akteuren der konfessionellen Spaltung des Landes wurden.

Ungeachtet des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein wurde der Irak in den 1980er Jahren aufgrund seiner Prellbock-Funktion gegenüber dem revolutionären Iran zu einem Verbündeten des Westens. Doch nach der irakischen Besetzung Kuwaits im August 1990 fiel das Regime im Westen in Ungnade. Der Irak wurde im Golfkrieg von 1991 weitgehend zerstört und konnte aufgrund des bis 2003 andauernden UN-Embargos nur unzureichend wiederaufgebaut werden. Dadurch wurden alle Entwicklungserfolge der 1970er zunichte gemacht.

Weitere Inhalte

Der Islamwissenschaftler und Nahostexperte Achim Rohde ist Leiter der Abteilung Gedenkstättenförderung in der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und assoziierter Wissenschaftler am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg. Rohde ist Autor von „State-Society Relations in Ba’thist Iraq. Facing Dictatorship" (London: Routledge, 2010), Herausgeber von „Iraq between Occupations. Perspectives from 1920 to the Present“ (New York: Palgrave Macmillan, 2010) und Autor zahlreicher Aufsätze zur irakischen Geschichte vor und nach 2003. Gemeinsam mit Eckart Woertz ist er Herausgeber des Themenhefts des Middle East Journal „Iraq since the US invasion“ (2024).