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China - Tibet | Kriege und Konflikte | bpb.de

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China - Tibet

Kristin Shi-Kupfer

/ 9 Minuten zu lesen

Die chinesische Regierung baut in Tibet ihr Kontroll- und Überwachungssystem mit Zwangsumsiedlungen und Arbeitstransferprogrammen sowie digitaler und sozialer Kontrolle weiter aus. Auch im Ausland sind Tibeter zunehmend Ziel von Repression.

Exil-Tibeter/-innen bei einem Protest in Dharmsala (Indien) in Erinnerung an den Aufstand der Tibeter von 1959 in Lhasa. (© picture-alliance/AP, Ashwini Bhatia)

Aktuelle Situation

In ihrem Ende 2023 veröffentlichten Bericht über die „Politische Maßnahmen der Kommunistischen Partei Chinas bezüglich der Verwaltung Tibets in der neuen Ära: Ansätze und Erfolge“ zeichnet die Zentralregierung das Bild eines umfassenden wirtschaftlichen Fortschritts in der Region. So sei in der autonomen Region Tibet (Tibetan Autonomous Region – TAR) das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 2012 jährlich um durchschnittlich 8,6 % gewachsen.

Seit 2016 wurden verstärkt Umsiedlungs- und Arbeitsprogramme als Mittel zur Armutsbekämpfung umgesetzt. Durch die seit 2018 intensivierte Einrichtung von Wirtschafts- und Technologie-Entwicklungszonen sollten neue Einkommensmöglichkeiten geschaffen werden. Laut offiziellen Berichten existiert seit Ende 2019 in der TAR keine absolute Armut mehr – ein Jahr, bevor das Ziel für ganz China erreicht wurde. Besonders die jüngere Generation in den Städten soll von den gesellschaftlichen Vorteilen und dem persönlichen Nutzen der zentralstaatlichen Entwicklungsprogramme überzeugt werden.

Doch sowohl Dokumente von nationalen und lokalen chinesischen Behörden und Medien als auch Berichte von Betroffenen belegen den politischen Zwangscharakter der Modernisierungs- und Wachstumsprogramme. Die offiziell mit Wirtschafts- und Umweltzielen begründete Maßnahmen richten sich explizit gegen die tibetische Sprache und Kultur und zielen auf eine aktive Assimilierung. So werden im Rahmen der sogenannten Transferprogramme Viehhirten und Bauern, die noch weitgehend als Selbstversorger wirtschaften, einzeln oder kollektiv in urbane Regionen umgesiedelt.

Die Umsiedlungsprogramme sind darauf gerichtet, die „ideologische Abhängigkeit“ der Betroffenen von ihren angestammten Wohnstätten und ihrer Kultur zu tilgen. Anders als Peking behauptet, profitieren nach Angaben von Experten Tibeterinnen und Tibeter weniger vom wirtschaftlichen Wachstum. Die han-chinesische Bevölkerung in urbanen Zentren ist nicht nur besser ausgebildet und vernetzt. Bei Einstellungstests werden ethnische Tibeter diskriminiert. So wurden in jüngster Zeit die Anforderungen an Mandarin-Sprachkenntnisse verschärft. Ausländische Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen sehen starke Parallelen zum Vorgehen der chinesischen Behörden in anderen Regionen und insbesondere in Interner Link: Xinjiang.

Auf der 7. Arbeitskonferenz im August 2020 hat Staats- und Parteichef Xi Jinping ein verstärktes Vorgehen gegen „Separatismus“ und eine aktive Einbindung des tibetischen Buddhismus in einen „chinesischen Kontext“ angekündigt. Um den Einfluss der Klöster auf die Gesellschaft zu schwächen, hatte die chinesische Regierung bereits im Sommer 2018 sowohl den Besuch von Schulkindern in Klöstern als auch Sprachkurse in geistlichen Stätten verboten. Menschenrechtsorganisationen und die UNO berichten immer wieder über Zwangseinweisungen von tibetischen Kindern auf parteistaatliche Internate.

Auch im Ausland werden Tibeterinnen und Tibeter zunehmend Opfer von Repressionen des chinesischen Staates: So berichtet das renommierte Tibetan Center for Human Rights and Democracy auf Basis von 84 Befragungen in über 10 Ländern und zahlreichen Online-Berichten über Drohungen gegen Personen im Ausland und deren Familien in Tibet, Störungen von Kommunikations- und Geldtransfertechnologien sowie gezielte Desinformationen und Infiltrationskampagnen.

Ursachen und Hintergründe

Mit den Unruhen von 2008 begann eine neue Phase des Konflikts. Am 12. März lösten chinesische Sicherheitskräfte friedliche Proteste von Mönchen aus Klöstern um Lhasa anlässlich des Jahrestags des tibetischen Aufstands vom 10. März 1959 gewaltsam auf. Daraufhin randalierten am 14. März Tibeter in der Innenstadt von Lhasa gegen Läden von Han-Chinesen. Laut dem Tibeter Zentrum für Menschenrecht und Demokratie (TCHRD) kamen bei den Ereignissen mindestens 100 Tibeter, nach Angaben Pekings 18 Zivilisten und ein Polizist [keine Angabe zum ethnischen Hintergrund der Opfer] ums Leben. Nach der auf die Krawalle folgenden Repression weiteten sich die Proteste auf die Nachbarprovinzen aus. Die chinesische Zentralregierung verurteilte mindestens sieben Menschen zum Tode und Dutzende zu lebenslangen Haftstrafen.

Die Welle von Selbstverbrennungsprotesten (2011-2013), zunächst von Geistlichen in einzelnen Klosterregionen (Gansu/Qinghai), später auch von Laien, insbesondere Schülern und Lehrern, in allen tibetischen Siedlungsgebieten, hat sich seit Anfang 2014 infolge der massiven Repression gegen Angehörige und ganze Dörfer abgeschwächt. Doch rigorose Überwachung und politische Disziplinierungskampagnen, insbesondere gegen Klöster, halten bis heute an. Laut Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen haben Folter und Todesfälle in Haft deutlich zugenommen.

Ethno-politische Auseinandersetzungen bilden den Kern des Tibet-Konflikts. Die Konfliktparteien vertreten unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf den politisch-administrativen und kulturellen Status der tibetischen Siedlungsräume in der Volksrepublik. Diese umfassen außer der autonomen Region im Himalaya auch Teile der Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Zusammengenommen machen sie rund ein Viertel des chinesischen Territoriums aus.

Der Dalai Lama, das geistige Oberhaupt der Tibeter, spricht sich für einen „mittleren Weg“ zwischen staatlicher Unabhängigkeit und kultureller Assimilation aus. Sein Ziel ist eine weitreichende Autonomie des einheitlichen Verwaltungsraums aller historischen tibetischen Siedlungsgebiete. Die chinesische Regierung lehnt dies als „Eingriff in die territoriale Integrität“ ab und will lediglich die bereits bestehende Teilautonomie für die TAR beibehalten. Nach dem „Gesetz über regionale Autonomie ethnischer Minoritäten" (1984, zuletzt überarbeitet 2005) könne Selbstverwaltung nur im Rahmen des zentralistischen Systems und unter Führung der Kommunistischen Partei eingeräumt werden. Peking schreibt u.a. vor, dass in den Schulen der autonomen Region alle Unterrichtsfächer – außer Tibetisch und Englisch – in Chinesisch zu unterrichten sind.

Die Zerstörung und Umwandlung von bedeutenden Klöstern und Studienzentren sind ein Zeichen der zunehmenden Kontrolle Pekings über die Ausbildung und Verbreitung des tibetischen Buddhismus. Solche Maßnahmen reihen sich zudem ein in den von chinesischen Behörden vorangetriebenen Ausbau der Infrastruktur und der touristischen Erschließung des Hochlands. Immer wieder aufflammende Proteste von Tibetern gegen ihre religiösen Heiligtümer werden als Sabotageakte „krimineller Banden“ strafrechtlich verfolgt.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Die chinesische Führung versucht, den Konflikt im Wesentlichen auf drei Wegen einzudämmen und zu befrieden: erstens durch politische Kontrolle und Repression der Tibeter im Inland, zweitens durch die aktive Beeinflussung der internationalen Nachrichtenlage und Kommunikation über die TAR sowie drittens durch die Kontrolle der tibetischen Diaspora und der Nachfolgeregelung für den Dalai Lama.

Teil der verschärften Kontrolle und Repression ist neben der Nutzung digitaler Technologie die Einrichtung von kleineren, insbesondere über die Hauptstadt Lhasa verteilten Polizeistationen. Die dort tätigen Beamten sind angewiesen, Haushalten regelmäßige Besuche abzustatten und Daten über mögliche Konfliktherde zu sammeln. Ein weiteres wichtiges Element ist das sogenannte Rastersystem, bei dem 10 bis 15 Familien die kleinste soziale Kontrolleinheit bilden. Die Mitglieder müssen sich gegenseitig überwachen und übereinander Berichte schreiben.

Mit Blick auf den internationalen Diskurs hat der seit Oktober 2021 im Amt befindliche chinesische Parteisekretär der TAR, Wang Junzheng, im September 2024 ein „Xizang International Communication Center“ in Lhasa eröffnet. Wang war vorher Sicherheitschef in der autonomen Region Xinjiang. Das Zentrum soll als eines von dutzenden im ganzen Land den internationalen Diskurs über Tibet aktiv zu steuern. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Peking seit Ende 2023 in englischen Publikationen zunehmend chinesische Umschriften für tibetische Ortsnamen, u.a. auch Zangnan für Südtibet, nutzt.

Die seit 2002 stattfindenden Gesprächsrunden zwischen Vertretern des Dalai Lama und der Einheitsfrontabteilung der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) sind bisher ergebnislos geblieben. Das neunte und bislang letzte Treffen fand 2010 statt. Direkte Gespräche mit der tibetischen Exilregierung im indischen Dharamsala lehnt Peking ab und bezeichnet diese als eine „spalterische Clique, die das Vaterland verraten hat“.

Der 89-jährige und gesundheitlich angeschlagene Dalai Lama (Stand 2024), der im März 2011 seinen Rückzug aus dem politischen Leben verkündet hatte, erklärte erstmals im Herbst 2014 in einem Interview, dass er möglicherweise der letzte Amtsinhaber sein werde. Bereits früher hatte er gesagt, dass der nächste Dalai Lama auch außerhalb Tibets wiedergeboren und auch auf andere Weise als durch Wiedergeburt bestimmt werden könne. Peking hat, zuletzt im September 2024, mehrfach bekräftigt, dass das Reinkarnationssystem fortgesetzt werden würde. Ein im August 2007 verabschiedetes Gesetz knüpft die Anerkennung der Reinkarnation des nächsten Dalai Lama an zwei Bedingungen: Sie muss innerhalb der Volksrepublik stattfinden und durch das nationale Religionsbüro anerkannt werden. Auch aus Sorge über den wachsenden Einfluss radikaler exil-tibetischer Kräfte will Peking die Entwicklung einer neuen, charismatischen Führungsfigur, wie die des 14. Dalai Lama, oder gar die Existenz von zwei Dalai Lamas, einen von China und einen von der tibetischen Exilgemeinde anerkannten, verhindern.

Der Dalai Lama hatte zu Beginn der Amtszeit von Xi Jinping in Interviews mehrmals dessen „realitätsnahe Denkweise“ und zupackende Art gelobt. Ausländische Medien berichteten regelmäßig über eine Annäherung zwischen den beiden und eine mögliche Pilgerreise des geistigen Oberhaupts der Tibeter nach China. Peking hat jedoch durch seine anhaltende Diskreditierung des Dalai Lama und die Kritik seines „mittleren Weges“ jeder Art von Austausch öffentlich stets eine Absage erteilt. Auch Penpa Tsering, seit Mai 2021 der zweite demokratisch gewählte Präsident der tibetischen Exilregierung in Indien, verfolgt einen moderaten Kurs. Penpa Tsering, der in Interviews bestätigte, dass weiterhin inoffizielle Gesprächskanäle mit Peking existieren, setzt v.a. auf moralische Stärke und eine langfristige Perspektive in der Tibet-Fragen.

In der Exilgemeinschaft finden sich aber auch Stimmen, die für einen radikaleren Kurs plädieren. U.a. setzt sich der 1970 gegründete tibetische Jugendkongress mit nach eigenen Angaben weltweit 35.000 Mitgliedern für die „Befreiung Tibets von der chinesischen Herrschaft“ und politische Unabhängigkeit ein. Viele Tibeter empfinden die Gängelung der Klöster und die Entweihung von heiligen Bergen durch den Bau von Minen als Provokation.

Als einer der wenigen westlichen Akteure in dem Konflikt haben die USA ihre Unterstützung für Tibet beständig ausgebaut: Ende Dezember 2020 hat der US-Kongress den Tibet Policy and Support Act verabschiedet. Darin ist z.B. festgelegt, dass Entscheidungen über die Nachfolge von tibetischen buddhistischen Führungspersonen die alleinige Angelegenheit der Tibeter sei. Chinesische Politiker, die sich in diesen Prozess einmischen, können mit Sanktionen im Rahmen des Global Magnitsky Act belegt werden. Im November 2020 wurde erstmals ein amtierender Chef der tibetischen Exilregierung im US State Department (Außenministerium) empfangen. Unterstützt von Demokraten und Republikanern unterzeichnete Präsident Biden 2024 den Resolve Tibet Act. Durch das Gesetz wird China aufgefordert, Gespräche mit dem Dalai Lama aufzunehmen, um sich mit ihm über Tibet zu einigen.

Geschichte des Konflikts

Der heutige Konflikt hat direkt mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 begonnen und der kurz darauffolgenden Ankündigung Mao Zedongs, auch Tibet „zu befreien“. 1950/51 drang die Volksbefreiungsarmee bis nach Lhasa vor. Im Mai 1951 unterzeichneten Repräsentanten der tibetischen und chinesischen Regierung das „17-Punkte-Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets“, das die Souveränität Chinas über die tibetischen Gebiete, die Stationierung von Truppen bei gleichzeitiger Anerkennung der regionalen politischen Autonomie und der Klerus-Herrschaft festschreibt. Der Dalai Lama hatte das Dokument per Telegramm anerkannt. Später beschrieben er und andere Stimmen der exiltibetischen Gemeinschaft dies als unter militärischem Druck Chinas erzwungene und damit nicht wirkliche Anerkennung.

Die wachsende Unzufriedenheit der Tibeter angesichts zunehmender sozialer und politischer Kontrolle Pekings führte schließlich zu einer offenen Revolte. Bei dem größten Aufstand am 10. März 1959 in Lhasa kamen vermutlich Tausende ums Leben. Der Dalai Lama, ein großer Teil seiner Administration sowie rund 80.000 Tibeter flohen nach Indien. 1965 gründete die chinesische Regierung in dem ehemaligen Einflussgebiet des Dalai Lama die Autonome Region Tibet.

Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik 1978/79 erlaubte Peking religiöse Aktivitäten im Rahmen politischer Kontrolle (u.a. erzwungene Verleugnung der Autorität des Dalai Lama durch Geistliche). 1995 bestimmten der Dalai Lama und Peking zwei unterschiedliche tibetische Kinder als Reinkarnation des Pantschen Lama, des zweithöchsten geistlichen Führers. Der Verbleib des vom Dalai Lama eingesetzten Mönches ist nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen beschuldigen Peking, ihn entführt und eingesperrt zu haben.

In der Auseinandersetzung um die Statusfrage Tibets interpretieren beide Seiten die Geschichte der Region unterschiedlich. Die tibetische Exilregierung in Dharamshala verweist auf die Unabhängigkeitserklärung des 13. Dalai Lama nach dem Fall der Qing-Dynastie 1911. Eine Anerkennung durch andere Staaten erfolgte damals nicht. Aufgrund der inneren Unruhen in China durch Kriege war Tibet von 1911 bis 1949 de facto unabhängig. China betont jedoch, dass die tibetischen Gebiete bereits während der Yuan-Dynastie (1279-1368) in das chinesische Staatsgebiet eingegliedert worden seien und diese Zugehörigkeit nie durch eine andere politische Souveränität unterbrochen wurde.

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Kristin Shi-Kupfer ist Professorin für Gegenwartsbezogene Sinologie an der Universität Trier und Senior Associate Fellow der Berliner Denkfabrik MERICS. Dort hat sie von Oktober 2013 bis Oktober 2020 den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien geleitet. Shi-Kupfer hat von 2007 bis 2011 als Korrespondentin für verschiedene deutschsprachige Medien aus China berichtet. Sie war u.a. im März 2008 in Lhasa, Tibet und 2009 bei den Unruhen in Urumuqi, Xinjiang als Berichterstatterin vor Ort.