Was ist ein Konflikt? Konflikte sind nicht grundsätzlich negativ zu bewerten. Im Gegenteil, sie sind "eine unvermeidbare und für den sozialen Wandel notwendige Begleiterscheinung des Zusammenlebens in allen Gesellschaften" (Ropers 2002: 11). Sozialer Wandel geht fast zwangsläufig mit Konflikten einher, die zuweilen auch gewaltsam und destruktiv sein können. Eine systematische Vermeidung und Diskreditierung von Konflikten wäre also letztlich kontraproduktiv, weil sie gesellschaftliche Veränderungsprozesse blockieren würde. Ein Ziel der Erforschung von Konflikten besteht darin, Mittel und Wege zu finden, wie Konflikte möglichst gewaltfrei und konstruktiv ausgetragen werden können, damit von ihnen möglichst produktive Lern- und Veränderungsimpulse für alle Beteiligte ausgehen.
Konfliktdefinition
Konflikte treten in sehr unterschiedlichen Formen in Erscheinung. Sie können sich als Gewissensbisse in einer Person abspielen, als Streit eine Ehe belasten, als Tarifkonflikt zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Unternehmen in einem Streik gipfeln oder als Bürgerkrieg zwischen einer Regierung und Rebellengruppen ausgetragen werden. Bei aller Unterschiedlichkeit lassen sich Konflikte auf eine mehr oder weniger gemeinsame Grundstruktur zurückführen. Jeder Konflikt umfasst idealtypisch drei Komponenten:
ein widerstreitendes Verhalten der Konfliktparteien, das den Konflikt anzeigt und ihn allzu oft weiter verschärft (z.B. Achtlosigkeit, Kommunikationsverweigerung, Konkurrenz, verbale Angriffe, physische Gewalt),
unvereinbar erscheinende Interessen und Ziele der Konfliktparteien (z.B. Streben nach sozialer Anerkennung oder nach materiellem Gewinn, Verfolgung von Demokratie oder Autokratie als ideale Staatsform),
unterschiedliche Annahmen und Haltungen der Beteiligten in Bezug auf die Ursachen des Konflikts, ihre eigene Stellung/Rolle innerhalb des Konflikts und die Bewertung der anderen Konfliktparteien (z.B. Stereotype
, Vorurteile und Feindbilder).
Die Konfliktforschung unterscheidet zusätzlich noch zwischen der sichtbaren bzw. manifesten und der latenten Ebene eines Konflikts. Das Verhalten der Konfliktparteien bildet die manifeste Ebene. Dagegen bleiben die Interessen und Ziele sowie die Annahmen und Haltungen der Konfliktparteien häufig im Dunkeln. Sie bilden die unsichtbare oder latente Ebene der Auseinandersetzung.
Dass sich Individuen oder Gruppen miteinander in einem Konflikt befinden, ist in der Regel am Verhalten der Beteiligten unmittelbar ablesbar. Die Atmosphäre ist belastet, es gibt Streit oder sogar verbale und im Extremfall physische Gewalt. Doch warum sich die Parteien so verhalten, ist dagegen deutlich schwerer erkennbar. Das kann verschiedene Gründe haben: Die meisten Konfliktparteien kennen zwar ihre eigenen Interessen und Ziele, nicht aber jene ihres Gegenübers. Darüber können sie oft nur spekulieren. Das hat auch damit zu tun, dass Konfliktparteien nicht selten versuchen, ihre wirklichen Interessen und Ziele zu verbergen.
Noch größere Unsicherheit herrscht in Bezug auf die Annahmen und Haltungen der Konfliktparteien. Warum Konfliktparteien eine Sache so oder so betrachten und auf die eine oder andere Weise damit umgehen, hängt von vielen Faktoren ab: von ihren Vorerfahrungen, Charaktereigenschaften, Wertvorstellungen, Glaubenssätzen, Motiven und Ängsten. Jeder Mensch hat ein solches Filter- und Referenzsystem, das ihm hilft, seine Umwelt zu verstehen und sich darin zurechtzufinden. Wie aus der Psychologie bekannt, bleiben diese Prägungen, die unsere Wahrnehmung, unsere Interessen und unser Verhalten beeinflussen und steuern, zu einem großen Teil im Bereich des Vor- und Unbewussten. Darum sind, insbesondere in eskalierten Konflikten, Beistand und Begleitung durch Außenstehende – z.B. Vertraute, Mediatoren oder Therapeuten – so wichtig. Sie können die Konfliktparteien u.a. dabei unterstützen, sich diese unterschwelligen Konflikttreiber bewusst zu machen.
Die drei Komponenten und zwei Ebenen eines Konflikts können im sogenannten Konfliktdreieck anschaulich dargestellt werden. Dieses weitverbreitete Werkzeug der Konfliktanalyse wurde von Johan Galtung eingeführt – einem der Mitbegründer der Friedens- und Konfliktforschung (Galtung 2009). Zwischen den drei "Ecken" eines Konflikts besteht ein enger, sich wechselseitig verstärkender Zusammenhang – und zwar in negativer wie in positiver Richtung. Das wird durch den kreisförmigen Pfeil innerhalb des Dreiecks angezeigt (siehe Abschnitt "Die Dynamik von Konflikten"). Selbst wenn an allen drei "Ecken" Gegensätze und Unvereinbarkeiten vorliegen, heißt dies nicht, dass ein Konflikt auch wirklich ausbricht. Ein Konflikt ist keine objektive Kategorie, sondern ein komplexes Interaktionsgeschehen zwischen Menschen. Entscheidend sind die Wahrnehmung und das Handeln der Beteiligten. Erst wenn mindestens eine Partei das Verhalten der anderen Seite als beeinträchtigend und inakzeptabel für das eigene Wohlbefinden, Selbstverständnis, Entscheidungs- und Handlungsvermögen oder die eigene Sicherheit empfindet, kann von einem Konflikt gesprochen werden.
Kurzdefinition
Ein Konflikt ist eine mindestens von einer Seite als emotional belastend und/oder sachlich inakzeptabel empfundene Interaktion, die durch eine Unvereinbarkeit der Verhaltensweisen, der Interessen und Ziele sowie der Annahmen und Haltungen der Beteiligten gekennzeichnet ist.
Inwieweit Individuen und Gruppen das Verhalten, die Interessen und Ziele oder die Annahmen und Haltungen anderer Individuen und Gruppen als belastend oder gar bedrohlich wahrnehmen, ist also in hohem Maße von ihren Annahmen und Haltungen abhängig.
Der Einfluss des sozialen und kulturellen Umfelds von Konflikten
Die Wahrnehmung und das Verhalten der Konfliktbeteiligten werden in hohem Maße durch das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld geprägt, in dem sie leben. Was Menschen seit ihrer Geburt als selbstverständlich und natürlich erfahren und erleben, formt das Bild, das sie sich von der Welt und von sich selbst machen. In Westeuropa gelten beispielsweise bürgerliche Rechte und individuelle Freiheiten als normal. Die garantierte Vielfalt der individuellen Bestrebungen bildet die Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt und Stabilität. Dagegen wird in autoritären Staaten von vielen Menschen die Unverletzlichkeit, ja Heiligkeit der eigenen Nation, Religion oder Ideologie und oft auch des politischen Führers als wichtigster Bezugspunkt für die eigene Identität, das eigene Wohlbefinden und die eigene Sicherheit angesehen.
Diese Grundüberzeugungen werden schon früh durch Elternhaus, Schule und Medien vermittelt. Die Folge ist nicht selten ein unreflektiertes und verklärtes Selbstbild: "Unsere Werte, unsere Kultur, unser Glaube sind einzigartig und anderen überlegen". Dies geht mit Fremd- oder gar Feindbildern einher, die in dem Maße auf andere Gruppen projiziert werden, wie diese von der "Normalität" der eigenen Gruppe – z.B. Regeln des Zusammenlebens, ethnische Merkmale, religiöse Praktiken, Sitten und Gebräuche – abweichen. Das Ergebnis ist eine strikte Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe und "den Anderen".
In dem Maße, wie die allgemein akzeptierten kulturellen Muster und Prägungen die sozialen Strukturen innerhalb einer Gruppe, einer Gesellschaft oder eines Staates legitimieren, rechtfertigen sie auch bestehende Ungerechtigkeiten, Machtasymmetrien und Diskriminierungen. Diese äußern sich u.a. im ungleichen Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge und Beschäftigung, in ungerechten Gehalts- und Arbeitszeitregelungen, in einer großen Kluft zwischen Arm und Reich sowie in beschränkten politischen Artikulations- und Partizipationsmöglichkeiten.
Geprägt und beeinflusst durch soziale Konventionen, Alltagsmythen, oft wissenschaftlich verbrämte Ideologien und/oder religiöse Dogmen, sind sich die meisten Menschen der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der sozialen Verhältnisse und Strukturen gar nicht bewusst oder nehmen sie als gegeben hin. Das ändert sich erst, wenn entweder die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten das individuell tolerierbare Maß übersteigen oder die sie legitimierenden kulturellen und normativen Überzeugungen und Narrative in eine Krise geraten. Wenn der Glaube in die Selbstverständlichkeit der sozialen und politischen Ordnung schwindet, treten auch die strukturellen Asymmetrien und Defizite deutlicher hervor.
Die Dynamik von Konflikten
Werden die Konfliktparteien sich nicht rechtzeitig eines entstehenden Konflikts bewusst und reagieren auf die ersten Anzeichen unangemessen, also z.B. mit Verdrängung, Abwehr, Schuldzuweisungen oder einem verbalen Angriff, droht eine Eskalation. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl vergleicht die Dynamik von Konflikten mit einem Fluss im Gebirge:
"Wir geraten in den Strudel der Konfliktereignisse und merken plötzlich, wie uns eine Macht mitzureißen droht. Wir müssen all unsere Sinne wach halten und sehr überlegt handeln, damit wir uns nicht weiter in die Dynamik des Konflikts verstricken" (Glasl 2017: 39).
Wenn es den Konfliktparteien nicht gelingt, innezuhalten und der Negativdynamik konstruktiv entgegenzuwirken, geraten sie fast unweigerlich in eine gefährliche Eskalationsspirale, die einem mehr oder weniger allgemeingültigen Muster folgt. Glasl unterscheidet insgesamt neun Stufen der Konflikteskalation – von der Verhärtung der Meinungen und Standpunkte bis zur totalen Konfrontation, selbst um den Preis der eigenen Vernichtung. Umgekehrt kann eine freundliche Geste oder ein symbolisches Angebot an die Gegenseite den Weg in Richtung einer Öffnung und schrittweisen Überwindung der angespannten Situation bereiten und eine produktive Dynamik in Gang setzen.
Eskalationsstufen nach Glasl (2017)
Eskalationsstufen nach Glasl (2017)
Glasl spricht von "Erwartungskoordination" zwischen den Konfliktparteien. Alle Beteiligten reagieren aufgrund ihres "intuitiven Wissens um solche Schwellen" hoch sensibel auf das, was die Gegenseite tut (ebd.: 231). Die Konfliktparteien verständigen sich – mehr unbewusst als bewusst – darauf, auf welcher Eskalationsstufe sie sich gerade befinden. Für jede Stufe gelten bestimmte Regeln. Sobald die Regeln von einer Seite verletzt werden, ist der Weg frei für den nächsten Eskalationsschub. Umgekehrt schafft die Einhaltung der Regeln die Voraussetzung dafür, die Dynamik wieder schrittweise in Richtung Konfliktlösung umzukehren.
Das Konzept der Konfliktdynamik kann auch erklären, warum einmal erreichte Konfliktlösungen so fragil sind. Eine Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien allein reicht nicht aus, um mental und sozio-kulturell wieder aus der Eskalationsdynamik herauszufinden und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Es bleiben negative Erinnerungen, schmerzhafte Wunden sowie verfestigte Vorurteile, Ängste und Traumata zurück. Deshalb können längst überwunden geglaubte Auseinandersetzungen unversehens wieder aufbrechen. Aus diesem Grund ist die emotionale, sozio-kulturelle und politisch-juristische
Schlussfolgerungen für die Konfliktbearbeitung
Angesichts der Komplexität von Konflikten ist ihre Bearbeitung ein sehr anspruchsvolles Unterfangen. Grundsätzlich sollten entsprechende Bemühungen an allen drei "Ecken" ansetzen. Für eine nachhaltige Konfliktbearbeitung ist es in der Regel nicht ausreichend, lediglich das Verhalten der Akteure – also die Art und Weise zu kommunizieren und miteinander umzugehen – zu verändern. Auch die unterschiedlichen Interessen und Ziele müssen überbrückt und die inkompatiblen Annahmen und Haltungen der Konfliktparteien verändert werden.
Die größte Herausforderung im Rahmen eines Bearbeitungsprozesses stellt zweifellos die Berücksichtigung und Bearbeitung ihrer strukturellen und kulturellen Dimensionen dar. Ein möglicher Einstieg könnte z.B. sein, die Konfliktparteien dabei zu unterstützen, sich ihre kulturellen und sozialen Prägungen bewusst zu machen und diese schrittweise in Richtung eines konstruktiven Umgangs mit dem Konflikt zu verändern. Dazu könnte z.B. gehören, tief verinnerlichte Verlierer- und Opfer-Identitäten zu erkennen und zu überwinden. Auch wird ein Konflikt letztlich nur dann dauerhaft zu überwinden sein, wenn wirksame Maßnahmen zur Angleichung des Machtgefälles zwischen den Konfliktparteien ergriffen und auch wirklich umgesetzt werden.