Anpassung ohne Konsequenz: Die deutsche Ukrainepolitik 2012-2022
Die deutsche Ukrainepolitik stand seit der Gründung des Landes immer im Schatten der Beziehungen Berlins zu Moskau. Seit den Ereignissen von 2014, dem Euromaidan und der Krim-Annexion, ist das Land aber plötzlich in den Fokus der deutschen Außenpolitik geraten. Dabei war schon vorher klar, dass die Größe des Landes – die Ukraine ist der zweitgrößte Flächenstaat Europas – und seine geopolitische Lage zwischen der EU und Russland ihm eine besondere außen- und sicherheitspolitische Bedeutung verleihen. Die Ukraine ist sozusagen die Sollbruchstelle der europäischen Sicherheitsordnung, insbesondere dann, wenn sich die Ukrainer – wie 2019 geschehen – klar auf die Zugehörigkeit zu einem der sich gegenüberstehenden Allianzsysteme festlegen.
Als wichtiges Agrar- und Industrieland mit einer Bevölkerung von ca. 40 Millionen Menschen ist die Ukraine zudem ein vor allem potenziell interessanter Partner und Markt für Deutschland und die EU. Seit der "Orangenen Revolution" 2004 und mehr noch dem Euromaidan 2013/14 ist überdies eine stärkere normative Schnittmenge mit den westlichen liberalen Demokratien entstanden, wodurch sich in Berlin und Brüssel auch ein Verantwortungsgefühl für die demokratische Zukunft des Landes herausgebildet hat.
Heute, inmitten des Ukraine-Krieges, geht es um sehr viel: Mit ihrer Ukrainepolitik stellt die deutsche Außenpolitik die Weichen dafür, in welche Richtung sich Europa in den kommenden Jahren entwickeln und welche Rolle Deutschland in diesem künftigen Europa spielen wird.
Grundtendenzen deutscher Ukrainepolitik bis 2014
Nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 hatte das Land für die deutsche Außenpolitik zunächst kaum größere Bedeutung. Der Fokus lag auf der Einbindung und Unterstützung der Transformation Russlands zu Marktwirtschaft und Demokratie. Ansonsten akzeptierten deutsche Regierungen implizit, dass Moskau die Ukraine als "nahes Ausland" und damit Teil der eigenen Einflusssphäre betrachtete. Für ein alternativen Ansatz fehlten in den deutsch-ukrainischen Beziehungen die Grundlagen: Aus deutscher Sicht war die Ukraine selbst nach der "Orangenen Revolution" von 2004 von institutioneller Instabilität und anhaltend verbreiteter Korruption geprägt und ihre Bevölkerung hinsichtlich Ost- bzw. Westorientierung gespalten.
Die Handelsbilanz der beiden Staaten lag im Jahr 2013 gerade einmal bei etwas über 8 Mrd. US-Dollar (Zum Vergleich: Der Handel Deutschlands mit Rumänien im selben Jahr umfasste Waren im Wert von fast 26 Mrd. US-Dollar)
Auffällig in dieser Phase war, dass man in Berlin gern bereit war, die über den bilateralen Alltagsbetrieb hinausgehende Definition der "großen Linien" der europäischen Ukraine-Politik den EU-Institutionen und EU-Partnern, wie Polen und Schweden, zu überlassen, die deutlich stärker an dem Land interessiert waren. Die Ukraine-Lobby in der EU und ihren Mitgliedsstaaten nutzte dann seit 2004 auch das neue Instrument der EU-Nachbarschaftspolitik, um das Land enger an den Westen zu binden. Berlin war nicht gegen die Aufnahme der Ukraine in die 2009 beschlossene, sogenannte Östliche Partnerschaft (ÖP). Doch die Bundesregierung verfolgte immer zuerst eine stabilitätsorientierte Außenpolitik – jegliche Integrationskonkurrenz mit Moskau sollte vermieden werden. Deshalb bestand Berlin noch ein Jahrzehnt später darauf, dass das ÖP-Format nicht mit einer EU-Beitrittsperspektive verwechselt werden sollte.
In Moskau wurde die Anbindungspolitik Brüssels dennoch als direkte und provozierende geopolitische Herausforderung wahrgenommen. Eine Folge war die vom Kreml erzwungene überraschende ukrainische Ablehnung des schon ausverhandelten Assoziierungsabkommens mit der EU im Spätherbst 2013. Diese Kehrtwende führte im Herbst 2013 direkt in die Proteste auf dem Euromaidan und damit mittelbar in den 2014 beginnenden Krieg.
Rückblickend verpasste Berlin hier eine Gelegenheit, sich mit mehr Engagement und Führung als ostpolitische Führungsmacht der EU zu profilieren. Stattdessen geriet es durch die aufkommende Dynamik unter Druck und konnte in einer geopolitisch so wichtigen Phase nur reagieren – eine Situation, die bei größerer strategischer Klugheit möglicherweise abwendbar gewesen wäre. Die passive Politik und die Unterschätzung zentraler regionaler und innerukrainischer Entwicklungen führte dazu, dass Berlin durch eine zunehmend gewalttätige Ereigniskette überrumpelt wurde.
Krim-Annexion und Krieg in der Ostukraine: deutscher Paradigmenwechsel?
Die ukrainische Maidan-Revolution im Spätherbst 2013 und die russische Aggression von 2014 bewirkten in der deutschen Politik ein Umdenken. Die von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgehenden diplomatischen Initiativen bedeuteten einen Bruch in der deutschen Politik gegenüber Russland und der Ukraine. Plötzlich übernahm Berlin eine Führungsrolle. Die Sanktionspakete der EU gegen Russland, die Spezielle Beobachtermission der OSZE, die umfangreichen Finanzhilfen für die Ukraine und das Minsker Abkommen sind hauptsächlich dank des Engagements und des Drucks von Bundeskanzlerin Merkel zustande gekommen. Diese Politik hat der Ukraine – die 2015 vor dem militärischen Kollaps stand – erst die Atempause verschafft, die sie für die Abwehr der Invasion Anfang 2022 benötigte.
Doch bei allen Veränderungen in der deutschen Ostpolitik, an einer Konstante wurde nicht gerührt: Russland blieb gerade für die Energiepolitik ein zwar schwieriger, aber strategisch wichtiger Partner. Noch heute hält es Angela Merkel für korrekt, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 bis zuletzt vorangetrieben zu haben.
Auch in Bezug auf die Ukraine agierte die deutsche Außenpolitik weiterhin zwiespältig und inkonsequent. So schwang sich Berlin nach 2014 einerseits zum größten Förderer des ukrainischen staatlichen und Demokratieprojekts im diplomatischen, ökonomischen und technischen Bereich auf. Ordnungspolitisch blieb Deutschland – wohl aus Rücksicht auf russische Interessen – dagegen weiterhin bei seiner auf Ausgleich bedachten Linie. Das beinahe stoische Negieren der sicherheitspolitischen Dimension nach 2014 bleibt symptomatisch für die deutsche Ukrainepolitik. Mehr als eine Unterstützungsmission zur zivilen Sicherheit (EUMM) war nicht konsensfähig, noch 2021 scheitert eine militärische Trainingsmission an Berlin.
Unterhalb der Ebene des Kanzleramtes wurde die Kontinuität der deutschen Politik noch deutlicher. Das SPD-geführte Außenministerium, viele Ministerpräsidenten und große Teile der Wirtschaft sorgten sich vor allem um die Folgen der Sanktionspolitik gegen Moskau. Die SPD rückte trotz der russischen Krim-Annexion und des Kriegs im Donbass nicht von ihrem Hamburger Grundsatzprogramm ab, in dem die strategische Partnerschaft mit Moskau als "unverzichtbar" bezeichnet wurde und die Ukraine erst gar nicht vorkam. Im Parteibeschluss zu einer "Neuen Ost- und Entspannungspolitik" von 2015 heißt es dann auch sehr deutlich, die Ukraine wäre 2013 vor die falsche Alternative "Europa oder Russland" gestellt worden und solle sich aufgrund ihrer "geografischen Lage" in alle Richtungen offen zeigen.
Die große Zäsur? Russlands Invasion und die "Zeitenwende" in Berlin
Wenig Aufmerksamkeit bei der Analyse deutscher Ukrainepolitik wird heute der Phase unmittelbar vor der Invasion Ende Februar 2022 gewidmet. Diese war von zunehmender bilateraler Entfremdung geprägt. Kiew äußerte sein Unverständnis sowohl wegen des deutschen Alleingangs bei der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 als auch wegen der sicherheitspolitischen Ignoranz der Bundesregierung angesichts des aggressiven Vorgehens Russlands gegen die Ukraine. In Berlin sorgten die undiplomatisch-fordernde Rhetorik Selenskyjs gegenüber dem Westen und dessen militärische Antwort auf die hybride Kriegsführung Russlands im Donbass für Irritation.
Der im September 2021 neu gewählte Bundeskanzler, Olaf Scholz, betonte zunächst die Absicht zur Kontinuität mit der Politik Merkels gegenüber der Ukraine, maß dem Thema jedoch nicht mehr denselben Stellenwert bei. Zugleich kündigten sich Meinungsverschiedenheiten mit dem grünen Koalitionspartner an.
Die Ende Februar 2022 von Olaf Scholz nach der russischen Invasion ausgerufene "Zeitenwende" hat bisher hauptsächlich in der deutschen Russland- und Ukrainepolitik stattgefunden. Während gegenüber Moskau eine fast vollständige politische und ökonomische Isolation, ein Ölembargo, und ein Auslaufen der Gasimporte beschlossen wurden, wurde gegenüber der Ukraine nicht nur mit dem ehernen Grundsatz gebrochen, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, sondern in präzedenzloser Weise bislang schwere Waffen im Wert von über 1,2 Mrd. Euro geliefert.
Allerdings war und ist Deutschland – anders als in 2014 – nun allenfalls Mitkonstrukteur, nicht Initiator dieser Politik. Bei tieferer Analyse wird deutlich, dass viele der von Deutschland mit eingeleiteten Schritte eher der Sorge um die Beziehungen zu den Alliierten geschuldet sind und sich nur sekundär an den Bedürfnissen der ukrainischen Verteidiger orientieren. Sowohl beim Ölembargo und dem Herunterfahren der Gasimporte als auch bei den Waffenlieferungen war Berlin zunächst immer unter den Skeptikern. Erst als klar wurde, dass man sich in der Minderheit befand und der politische Druck immer stärker wurde, zog auch die Bundesregierung nach. Wir haben es hier mit einer Politik der vorsichtigen Gefolgschaft gegenüber den USA zu tun, ohne echten eigenen strategischen Impuls.
In dieses Bild passt auch die plötzliche deutsche Unterstützung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine im Juni sowie die erklärte Führungsbereitschaft beim Wiederaufbau des Landes. Diese können als Platzhalterthemen interpretiert werden, die von der weiter fehlenden deutschen Bereitschaft ablenken sollen, die sicherheitspolitische Komponente der Unterstützung klar zu priorisieren. Allerdings zeichnete sich zu Jahresbeginn 2023 eine neue Entwicklung ab. Mit der angekündigten Lieferung von Leopard-Panzern und der Übernahme einer Führungsrolle bei der Ausbildung ukrainischer Soldaten im Rahmen einer neuen EU-Mission zeigte die Bundesregierung Bereitschaft, selbst Impulse zu setzen . Dazu passt, dass sich innerhalb der Regierungspartei SPD ein Überdenken der alten ostpolitischen Maximen beobachten lässt. Insbesondere der Parteivorsitzende Lars Klingbeil setzt sich für eine neue deutsche und europäische Russland- und Chinapolitik ein, in der kooperative Ansätze deutlich stärker durch einen Kurs der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit und Stärke flankiert werden sollen.
Schluss
Seit dem Fanal der russischen Krim-Annexion von 2014 hat sich die deutsche Außenpolitik an die neue Lage angepasst – ohne dabei konsequent zu sein. Die Frage muss gestellt werden, ob der brutale Angriffskrieg Russlands Ende Februar 2022 nicht hätte vermieden werden können, wenn die Bundesregierung und ihre europäischen Partner schon seit 2014 nicht nur in die wirtschaftliche und diplomatische, sondern auch in die sicherheitspolitische Unterstützung der Ukraine investiert hätten?
Mit dem Kandidatenstatus für die Ukraine vom Juni 2022 riskieren Deutschland und die EU nun, die Fehler von 2013/2014 zu wiederholen. Wieder fehlen dem Integrationsangebot sowohl die sicherheitspolitische Komponente als auch ein strategisches Konzept. Dabei bergen die nach dem russischen Angriffskrieg signifikant zunehmenden zentrifugalen Tendenzen im post-sowjetischen Raum auch Chancen für die Neugestaltung der Region. Wenn Berlin diese nutzen will, dann muss es eine umfängliche Rolle in Bezug auf die Gestaltung und die Führung der europäischen Ukraine-Politik übernehmen.