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Meinung: Berg-Karabach und die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Meinung: Berg-Karabach und die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts

Hans-Joachim Heintze

/ 8 Minuten zu lesen

Der Hintergrund des Konflikts um Berg-Karabach ist der Anspruch Aserbaidschans auf territoriale Integrität, der der Forderung der armenischen Bevölkerung Berg-Karabachs nach Selbstbestimmungsrecht entgegensteht. Das Völkerrecht stützt die Position Aserbaidschans, fordert aber auch die Einhaltung der Minderheitenrechte der Berg-Karabacher Bevölkerung.

Ruinen von Wohnhäusern in Şuşa in Aserbaidschan, die im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um das autonome Gebiet Bergkarabach 1992-1994 zerstört wurden. (© picture-alliance, Yvan Travert/akg-images)

Der Konflikt um Berg-Karabach ist seit über 30 Jahren ungelöst. Der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien von 1992 um dieses Gebiet hatte zur Ausrufung des von Armenien unterstützten "Staates" Berg-Karabach mit noch nicht einmal 150.000 Einwohnern geführt. Der Status dieses Gebiets blieb ungeklärt. Die "Republik Arzach" wurde durch keinen Staat international anerkannt. Die OSZE bemühte sich seither um die Beilegung des Konflikts. Offensichtlich erfolglos, denn an den Grenzen kam es zwischen armenischen und aserbaidschanischen Truppen immer wieder zu Kampfhandlungen.

Im Sommer 2020 begannen an der "Konfliktlinie" erneut massive Feindseligkeiten, für deren Ausbruch sich beide Staaten gegenseitig beschuldigten. Im Herbst eroberten aserbaidschanische Truppen in einer groß angelegten Militäroperation ca. zwei Drittel der von Berg-Karabach kontrollierten Territorien. Armenische Truppen griffen auf der Seite Berg-Karabachs in die Kampfhandlungen ein, konnten die Niederlage jedoch nicht abwenden. In dem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen vom 10. November 2020 hat Armenien im Namen Berg-Karabachs die Gebietsverluste akzeptiert.

Die Einstellung der Kampfhandlungen wurde von der internationalen Gemeinschaft begrüßt. Die Europäische Union äußerte die Hoffnung, dass der Waffenstillstand "weitere Verluste von Leben verhindern und hoffentlich ein erster Schritt zu einer umfassenden Lösung" sein werde. Das Völkerrecht hat dabei zweifellos ein gewichtiges Wort mitzureden. Doch zugleich müssen die Hoffnungen auf eine für alle möglichen Fälle passende Lösung enttäuscht werden. Eine Entscheidung kann nur unter Abwägung der je konkreten historischen, politischen, (völker-)rechtlichen sowie ethisch-moralischen Umstände getroffen werden.

Das bestätigt auch ein Blick auf andere Fälle in der jüngeren Vergangenheit, wo sich eine um nationale Selbstbestimmung ringende ethnische Minderheiten und auf ihre territoriale Integrität pochende Staaten gegenüberstanden. Während des Biafra-Kriegs (1967-1970) unterstützte die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) Nigeria gegen die Separatisten. Die UNO beschränkte sich im Einvernehmen mit der nigerianischen Regierung auf humanitäre Nothilfe (Akinbi 2012). Eritrea erlangte 1994 nach einem 30jährigen Unabhängigkeitskrieg durch eine Entscheidung der aus den Kriegswirren hervorgegangenen neuen äthiopischen Regierung und ein Referendum (99,83%) seine Unabhängigkeit. Interner Link: Kosovo wurde 2008 nach dem Scheitern der von der UNO vermittelten Verhandlungen mit Serbien durch eine einseitige Erklärung des kosovarischen Parlaments unabhängig.

Das völkerrechtliche Prinzip "uti possidetis"

Doch was sagt das Völkerrecht zur Frage der nationalen Selbstbestimmung? Dazu müssen wir einen Blick in die jüngere Geschichte der internationalen Beziehungen und der Entwicklung der Völkerrechtsdoktrin werfen. Die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gingen auch in die Völkerrechtsgeschichte als das "Afrikanische Jahrzehnt" ein. In diesem Jahrzehnt befreiten sich die meisten afrikanischen Kolonien und gründeten mit Unterstützung der UNO eigene souveräne Staaten. Allerdings tat sich im Prozess der Dekolonisierung ein Problem auf, das in den Folgejahren zu zahlreichen schweren und blutigen Konflikten geführt hat: Die Grenzen der Kolonialgebiete waren von den europäischen Mächten willkürlich nach reinen Machtinteressen gezogen worden. Dabei wurden ethnische Kriterien vernachlässigt, sodass die Siedlungsgebiete vieler Völker plötzlich zu verschiedenen Staaten gehörten, was zu zahlreichen Komplikationen und Kriegen, wie in Biafra, führte.

Das rief die Regionalorganisation OAU, die Vorgängerin der heutigen Afrikanische Union (AU) auf den Plan. Sie entschied, dass im Rahmen der Dekolonisierung das Prinzip des uti possidetis anzuwenden sei. Der während der Dekolonisierung Lateinamerikas im 19. Jahrhundert entstandene Grundsatz besagt, dass der Nachfolgestaat in die Grenzen des Vorgängers einzusteigen habe (Simmler 1999a u. b). Es sollen keine Grenzveränderungen vorgenommen werden, weil dadurch ein Dominoeffekt von immer neuen Forderungen ethnischer Gemeinschaften nach staatlicher Unabhängigkeit ausgelöst werde. Das Risiko eines solchen Dominoeffekts besteht durchaus auch in anderen Weltregionen. Ein Beispiel war der mehrfache Versuch Quebecs, sich in den 1980er und 1990er Jahren von Kanada zu trennen. Kaum hatten die französischsprechenden Kanadier diese Forderung erhoben, meldeten sich die indigenen Völker der Region Quebec zu Wort und forderten ebenfalls die Unabhängigkeit ihres Siedlungsgebiets und einen eigenen Staat. Nicht zuletzt deshalb verzichtete Quebec auf die Loslösung von Kanada.

Vor dem Hintergrund der zu befürchtenden endlosen Kette von Loslösungen bezeichnete der UN-Generalsekretär die Festlegung der OAU zur Ablehnung jeder Grenzveränderung zwischen den afrikanischen Staaten als eine "weise Entscheidung". Das Prinzip des uti possidetis ist heute eine Norm des Völkergewohnheitsrechts (Heintze 2016: 117).

Die Staatsqualität der sowjetischen Unionsrepubliken

Mit Blick auf den Konflikt um Berg-Karabach spricht insbesondere die Staatsqualität der ehemaligen Unionsrepubliken für die Anwendung des uti possidetis-Prinzips. Die Auflösung der UdSSR erfolgte auf der Grundlage der sowjetischen Verfassung. Diese sah für alle Unionsrepubliken das Selbstbestimmungsrecht und folglich auch ein Austrittrecht aus der Union vor. Mit dem Ende der Herrschaft der KPdSU im Dezember 1991 wurden diese theoretische Möglichkeit praktisch. Bei der Entscheidung über die Staatennachfolge, d.h. konkret darüber, wer in die Verträge der UdSSR, in ihr Staatsvermögen und -schulden sowie in die Staats- und Verwaltungsarchive nachfolgen sollte, kam eindeutig das uti possidetis-Prinzip zur Anwendung.

Auch Professor Luchterhandt vertritt grundsätzlich die Auffassung hinsichtlich der Fortgeltung innerstaatlicher Grenzen, argumentiert aber zugleich, dass Aserbaidschan seine Hoheitsrechte über Berg-Karabach verwirkt habe, weil es sich 1991 eigenmächtig und willkürlich aus dem Verband der Sowjetunion gelöst und damit seinen Anspruch auf territoriale Integrität verwirkt habe. Es sei deshalb in dieser Übergangsphase kein Subjekt des Völkerrechts gewesen. Dem kann nicht zugestimmt werden, weil alle Sowjetrepubliken gemäß der UdSSR-Verfassung zu jedem Zeitpunkt de jure souveräne Staaten waren. Das kann ist schon allein daran ablesbar, dass die Ukraine und Belorussland, die denselben Status wie die Sowjetrepublik Aserbaidschan hatten, seit 1945 Mitgliedsstaaten in der UNO gewesen sind.

Die sowjetische Verfassung räumte den Unionsrepubliken ein grundsätzliches Austrittsrecht unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein. Berg-Karabach hatte als Autonomes Gebiet dagegen keinen Anspruch auf staatliche Unabhängigkeit. Aserbaidschan beschritt diesen Weg 1991 deshalb rechtens und kann folglich bis heute territoriale Integrität für sein gesamtes Staatsgebiet unter Einschluss von Berg-Karabach beanspruchen. Insofern ist die historische Herleitung des Anspruchs von Berg-Karabach auf Staatlichkeit nicht zu teilen. Das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet gehört rechtmäßig zum Staatsgebiet von Aserbaidschan.

Äußere und innere Selbstbestimmung

Neben Berg-Karabach kam es auch in der Autonomen Abchasischen Sowjetrepublik und im Autonomen Gebiet Südossetien – beide gehören zu Georgien – zu gewaltsamen Unabhängigkeitsbewegungen. Hinsichtlich des autonomen Gebiets Tschetschenien wurden die ethno-nationalen Konflikte besonders blutig ausgetragen. Der Westen kritisierte damals jedoch nicht den Anspruch der Russischen Föderation auf Verbleib Tschetscheniens in ihren Grenzen, sondern die überaus brutale Kriegsführung der russischen Truppen, die das humanitäre Völkerrecht massiv verletzte. Viele Menschen verloren ihr Leben und ihr Eigentum.

Die Auflösung der Sowjetunion bestätigt, wie berechtigt das Interesse der internationalen Staatengemeinschaft an Stabilität ist und warum das Völkerrecht den territorialen Besitzstand der Staaten unterstützt. Hätten sich alle Autonomen Sowjetrepubliken (20) und Autonomen Gebiete (12) nach 1991 unabhängig erklärt, wären aus der Sowjetunion nicht 15, sondern 47 neue Staaten hervorgegangen. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass bis heute die "Republik Arzach" noch nicht einmal von Armenien und Abchasien und Südossetien lediglich von Russland international anerkannt wurden.

Für ethnische Volksgruppen und Minderheiten sieht das Völkerrecht die Anwendung des inneren Selbstbestimmungsrechts vor. Ihnen werden Minderheitenrechte im Rahmen einer Selbstverwaltung zugestanden. In Anwendung des Prinzips der Subsidiarität sollen die Volksgruppen innerhalb des Titularstaates so viel wie möglich an der auf sie bezogenen Ausübung staatlicher Machtbefugnisse beteiligt werden. Die Akzeptanz dieser Komponente des Selbstbestimmungsrechts hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Vielzahl von substaatlichen Verwaltungseinheiten geführt. Beispiele dafür sind die vielfältigen Formen von Autonomieregelungen, wie beispielsweise in Südtirol oder den Aaland-Inseln. Das bedeutet, dass die Völker in ihren Siedlungsgebieten entsprechend ihren eigenen politischen, kulturellen und religiösen Vorstellungen, nach ihren eigen wirtschaftlichen Regelungen, mit ihrer eigenen Sprache usw. leben.

Notwehrrecht auf Sezession (remedial secession)

Professor Luchterhandt führt ein weiteres Argument zugunsten der Völkerrechtmäßigkeit der staatlichen Unabhängigkeit des Volkes von Berg-Karabach an. Die rechtliche Grundlage dafür sieht er im sogenannten Notwehrrecht, wonach ein Volk dann zur Sezession berechtigt ist, wenn es als ethnische Gruppe so schwerwiegend diskriminiert und unterdrückt wurde und wird, dass ihm kein Verbleib im Mutterstaat zugemutet werden kann. Das Argument ist nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, weil die Armenier in Berg-Karabach in der Vergangenheit immer wieder unter der aserbaidschanischen Unterdrückung gelitten haben (Halbach 2010). Gleichwohl vermag es aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen.

Insbesondere ist darauf zu verweisen, dass es auch zu massiven Übergriffen der Armenier auf aserbaidschanische Bevölkerungsgruppen gekommen ist. Vor allem wurden diese Verbrechen von beiden Seiten nie aufgearbeitet; es wurde kein Versuch zur Schaffung von Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben der Mehrheit der Aserbaidschaner mit der armenischen Minderheit unternommen. Stattdessen wurde wiederholt die militärische Lösung gesucht, die auf beiden Seiten viele Menschenleben forderte und schließlich zur Bildung des "Staates" Berg-Karabach und zur militärischen Besetzung der angrenzenden Provinzen Aserbaidschans führte. Der UNO-Sicherheitsrat hat die völkerrechtswidrige Besetzung mehrfach verurteilt und den Rückzug der Okkupationstruppen und ein Rückkehrrecht der aus ethnischen Gründen vertriebenen Bevölkerung in ihre traditionellen Heimatgebiete gefordert (Heintze 2020). Dies entspricht dem Grundsatz, wonach Rechtsverhältnisse, die unter Verstoß gegen das Gewaltverbot zustande gekommen sind, völkerrechtlich unzulässig sind und deshalb von der Staatengemeinschaft nicht durch Anerkennung ex post legitimiert werden dürfen (Dawidowicz 2010).

In der völkerrechtlichen Literatur wird zwar verschiedentlich die Existenz einer "remedial secession" behauptet (z.B. Tomuschat 2006). Allerdings weisen auch diese Experten ausdrücklich darauf hin, dass vorher alle anderen Mittel zur Beilegung des Konflikts ausgeschöpft werden müssen. Schließlich lässt sich für eine erfolgreiche Verwirklichung dieses Notwehrrechts kein Praxisfall anführen. Die Behauptung, der Kosovo sei dafür ein Beispiel, ist umstritten. Das Gutachten des IGH zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo äußert sich dazu nicht (vgl. Halbach et al. 2011). Vielmehr hatte die UNO nach der von der NATO mit dem Schutz der Menschenrechte begründeten Intervention die Verwaltung des Gebietes des Kosovo übernommen. Dabei ging es vor allem darum, die Sicherheit der dort lebenden Menschen zu schützen.

Erst nachdem dies erreicht wurde, legte die UNO als Verwaltungsmacht des Kosovo mit dem Ziel einer einvernehmlichen Klärung Serbien einen Lösungsvorschlag vor, der allerdings nicht angenommen wurde. Durch diese Ablehnung sah sich die UNO veranlasst, die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo hinzunehmen. Übrigens ist bis heute der Status nicht abschließend geklärt, immer noch übt die UNO auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) im Kosovo hoheitliche Kompetenzen aus. Und die Staatlichkeit der Republik Kosovo wurde bislang weder durch alle Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates noch durch alle EU-Mitgliedsstaaten anerkannt. Es gibt folglich keine anerkannte Staatenbildung auf der Grundlage der "remedial secession".

Fazit

Alle nach 1945 in die UNO aufgenommenen Staaten sind aus der Dekolonisierung hervorgegangen oder sind einvernehmlich durch die betroffenen Parteien gebildet worden (wie z.B. die Slowakei als vormaliger Teilstaat der Tschechoslowakei). Auch im Falle des Berg-Kabach-Konflikts unterstrich der Sicherheitsrat bereits 1992 die Forderung nach Beendigung der Besetzung aserbaidschanischer Gebiete und die Staatengemeinschaft war nicht bereit, den aus dem Krieg hervorgegangenen "Staat" Berg-Karabach anzuerkennen. Die von der OSZE geschaffenen Minsk-Gruppe wurde mit der friedlichen Streitbeilegung beauftragt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen kam es zu einer militärischen Lösung und der weitgehenden Wiederherstellung der territorialen Integrität Aserbaidschans. Allerdings steht noch ein Friedensvertrag aus, in dem auch die Rechte der armenischstämmigen Bevölkerung Berg-Karabachs festgeschrieben werden. Wie die internationalen Erfahrungen zeigen, bietet sich hier eine Autonomieregelung für das Gebiet an, die durch Garantiemächte abgesichert werden sollte.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. iur. Hans-Joachim Heintze lehrt Völkerrecht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum.Externer Link: http://www.ruhr-uni-bochum.de