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Meinung: Afghanistan – Mission 2001 – 2021: Vermeidbares Scheitern? | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Meinung: Afghanistan – Mission 2001 – 2021: Vermeidbares Scheitern?

Hans-Joachim Gießmann

/ 9 Minuten zu lesen

Der Versuch, den Krieg in Afghanistan durch Aufbauhilfe, militärische Unterstützung und schließlich auch Verhandlungen zu beenden, ist misslungen. Ein Grund ist die Hybris des Westens, andere Gesellschaften nach seinem Bilde formen zu wollen. Diese und weitere fatale Fehleinschätzungen und überzogene Erwartungen gehören jetzt auf den Prüfstand.

Menschen an Bord eines Evakuierungsfluges in Kabul, Afghanistan. (© picture-alliance, dpa/TASS | Valery Sharifulin)

Viel wäre zu sagen über die Begleitumstände des Sturzes der Islamischen Republik Afghanistan und seiner Regierung innerhalb nur weniger Monate – vom dilettantischen Deal zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020, über einen chaotisch durchgeführten Truppenabzug der USA und das abrupte Ende der Unterstützungsmission bis hin zum mangelnden Willen der eigentlich gut ausgebildeten Streitkräfte Afghanistans, sich verteidigend vor den Präsidenten, die Regierung und letztlich auch vor die Republik zu stellen. Die Konsequenz war der Fall Kabuls am 15. August 2021.

Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft

Die internationale Gemeinschaft muss sich ankreiden lassen, ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen zu haben, weil sie zu keiner geschlossenen Haltung gegenüber den an die Macht drängenden Taliban fand oder finden wollte. Doch es reicht nicht, allein auf die zurückliegenden Monate zu blicken. Die Gründe für das Scheitern der Islamischen Republik Afghanistan und der internationalen Mission liegen tiefer und in den Anfängen länger zurück. Unbestreitbar haben die Taliban 20 Jahre, nachdem sie entmachtet worden waren, die Herrschaft über Afghanistan zurückerobert. Mehr noch, anders als in den 1990er Jahren haben sie diesmal das gesamte Territorium des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Wenn es das Ziel der internationalen Afghanistan-Mission gewesen war, eine erneute Machtergreifung der Taliban zu verhindern, so ist diese Mission in der Tat krachend gescheitert.

Um zu ermessen, wie groß der Anteil der internationalen Mission an der Machtübernahme der Taliban ist, bedarf es einer gründlicheren Betrachtung. Zunächst ist festzuhalten, dass am Beginn der Mission die Entscheidung der US-Regierung von George W. Bush gestanden hatte, das für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortliche islamistische Al-Qaida-Netzwerk zu vernichten, seines Anführers Osama bin-Ladens habhaft zu werden und die Unterstützungsstrukturen der Taliban für Al-Qaida in Afghanistan zu zerstören. Während die USA anfänglich Luftangriffe gegen Ziele in Afghanistan durchführten und lediglich ca. 5.000 Soldaten vor Ort hatten, wurden die Boden-Operationen hauptsächlich von nicht-paschtunischen Milizen der sogenannten afghanischen Nordallianz bestritten. Zu dieser Allianz trugen wesentlich jene Warlords bei, die Afghanistan nach dem Sturz der Najibullah-Regierung im Jahr 1991 in einen blutigen Bürgerkrieg stürzten, und die später von den Taliban besiegt und teilweise aus dem Land vertrieben wurden. Es handelte sich um dieselben Kriegsherren, die 2001 nach Entmachtung der Taliban trachteten und ihre Ansprüche einer erneuten Machtbeteiligung geltend machten. Ihnen wurde, mit Billigung der USA und toleriert von der internationalen Gemeinschaft, eine direkte Beteiligung an der Macht, verbunden mit der Rückgewinnung von Privilegien, ermöglicht.

Die Taliban tauchten nach ihrer Entmachtung buchstäblich in der Bevölkerung Afghanistans unter und versuchten, sich an die neuen Machtverhältnisse anzupassen, während ihre Führer – sofern sie nicht gefasst und nach Guantanamo verbracht oder in Militärgefängnissen in Afghanistan oder Pakistan festgehalten wurden – außerhalb des Landes untertauchten und schnell begannen, von dort aus ihren Einfluss direkt und über Unterstützergruppen in Afghanistan zurückzugewinnen.

Die von der internationalen Mission beeinflusste Gründungsgeschichte der Islamischen Republik Afghanistan ist insofern für deren Ende von mitentscheidender Bedeutung:

Erstens wurde den – von den unterprivilegierten Stämmen und Bevölkerungsgruppen verhassten – ehemaligen Warlords erlaubt, unter dem Schutz der Republik und auch der sie stützenden internationalen Mission, in der Folgezeit weiteren Reichtum anzuhäufen, während sich die Lage für viele Afghaninnen und Afghanen zunehmend verschlechterte.

Zweitens wurden durch die von den USA unerbittlich geführte Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung zwischen 2001 und 2019 tausende Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen. Es reichte schon aus, verdächtigt oder durch Landsleute denunziert zu werden, mit den Taliban zu kollaborieren. In die Zehntausende gehen die Opfer von "Kollateralschäden" militärischer Einsätze gegen mutmaßliche Terroristenverstecke. In der Folge machte sich Hass auf die beteiligten Sicherheitskräfte der Regierung und der USA, aber auch auf die anderen internationalen Einsatzkräfte breit, unabhängig davon, wie sie die Einsatzziele für sich definierten (Gopal 2015, 101-117).

Drittens und letztlich ausschlaggebend, wie sich später zeigen sollte, etablierten die politischen Eliten unter dem Dach einer fortschrittlichen Verfassung ein sich selbst reproduzierendes System politischer Korruption, welches, abgesehen von einigen im Ausland gern gesehenen Schaufensterprojekten, die vorhandene Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land sowie zwischen Mehrheiten und Minderheiten nicht überwand, sondern sogar noch weiter vertiefte.

Begrenzte gesellschaftspolitische Fortschritte

Die internationale militärische Mission, nach der Entmachtung der Taliban auf Unterstützung für einen umfassenden Transformations- und Modernisierungsprozess ausgerichtet, wurde im Laufe der Jahre in weiten Teilen des Landes immer weniger als legitim und immer mehr als Absicherung der Herrschaft von nur wenigen über viele angesehen. Natürlich ist zutreffend, dass es positive Entwicklungen, vor allem auch dank internationaler Unterstützung, gegeben hat, die zu gesellschaftspolitischen Fortschritten führten. Beispiele sind das Bildungswesen und die Beteiligung von Frauen in verantwortlichen Positionen von Staat und Regierung.

Jedoch: Die wenigen messbaren und im Westen hochgejubelten Fortschritte – insbesondere in Bezug auf die Beteiligung von Frauen am politischen und öffentlichen Leben und den Zugang zur Bildung von Mädchen und jungen Frauen – wurden von korrupten Eliten genutzt, um Staatsversagen und Vetternwirtschaft auf vielen Ebenen zu kaschieren. Die Realität nach 20 Jahren internationalem Engagement ist niederschmetternd. Und diese bedrückende Realität spiegelt nicht erst das spätere endgültige Scheitern wider, sondern begleitete die internationale Mission von Beginn an. Sie zeigt sich beispielhaft an einer Reihe statistischer Indikatoren.

Afghanistan gehört auch nach 20 Jahren und trotz massiver finanzieller, technischer und organisatorischer Unterstützung noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt. Das Bruttoinlandprodukt war 2020 mit 19,13 Mrd. USD geringer als ein Quartalsgewinn von Apple. Dies allein der afghanischen Regierung anzulasten, greift zu kurz. Auch hier muss sich die internationale Gemeinschaft kritische Fragen gefallen lassen. Die exorbitante Abhängigkeit der afghanischen Regierung und Wirtschaft von ausländischen Zuwendungen knebelte die Chancen des Landes, Reformen in eigener Verantwortung anzustrengen. Das BIP beruhte zuletzt zu 43 % auf ausländischen Hilfszahlungen. Die zivilen Staatsausgaben wurden zu 75 %, die Aufwendungen für den Sicherheitssektor zu 90 % aus dem Ausland finanziert. Ein Großteil der Hilfszahlungen versickerte in dunklen Kanälen, um später auf privaten Konten im Ausland zu landen. Der fortwährende Zufluss von Hilfsgeldern fütterte die Korruption im Austausch gegen die fragwürdige Zusicherung einer stabilen Partnerschaft.

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International rangierte Afghanistan im vergangenen Jahr nur auf Platz 165 unter 180 Staaten. Im Index Menschlicher Entwicklung der UNDP tauchte Afghanistan mit fallender Tendenz erst auf Platz 169 unter 189 Staaten auf. Im Global Peace Index 2020 wird Afghanistan das vierte Jahr in Folge auf dem allerletzten Platz (163) geführt, d.h. noch hinter Syrien, Jemen und Somalia. Selbst bezüglich der oft betonten Bildungserfolge ist die Lage prekär. Mit einer Alphabetisierungsquote von 28 % (und nur 17 % bei Mädchen und Frauen) lag Afghanistan auch hier 2020 am unteren Ende der globalen Statistik.

Das Versagen der internationalen Mission liegt nicht, wie oft behauptet, in deren verfehlten Zielen. Es liegt vor allem darin, dass sich die beteiligten Regierungen und die Verantwortlichen vor Ort auf Akteure verlassen haben, denen es bei der Durchführung bescheidener und gegenüber der Öffentlichkeit eigentlich gut zu vermittelnder Reformen vor allem um den Erhalt und Zuwachs ihrer Macht ging, nicht aber um eine tatsächliche Demokratisierung des Landes und schon gar nicht um eine Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land.

Die nackten Zahlen entzaubern den bereits seit Jahren gepflegten Mythos erfolgreicher Hilfe zur Selbsthilfe für die afghanische Bevölkerung. Die sich immer weiter verschlechternden Lebensverhältnisse beeinflussten auch die Überzeugungen jener 50 % der afghanischen Bevölkerung, die keinerlei Erinnerung an die Taliban-Herrschaft der 1990er Jahre besitzt, weil sie jünger als 20 Jahre sind. Sie wurden zunehmend unzufriedener angesichts einer Regierung, politischen Parteien, Sicherheitskräften und Verwaltungsbeamten, denen die eigenen Besitzstände wichtiger waren als das Schicksal der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Der schrittweise wiedererrungene Rückhalt der Taliban in der Gesellschaft ist folglich nicht deren Verdienst, sondern vor allem die Schuld einer politischen Führungsschicht, welche sich auf Dauer auf den Schutz von außen durch die internationale Gemeinschaft eingerichtet zu haben schien. Noch im Januar 2021 gab mir der der afghanische Präsident Ashraf Ghani in einem Gespräch in Kabul zu verstehen, dass die USA Afghanistan schon nicht im Stich lassen würden.

Wie weiter?

All dies bedeutet natürlich nicht, dass die Taliban für Afghanistan die bessere Lösung im Vergleich zur entmachteten Regierung bereithalten. Sie müssen erst unter Beweis stellen, dass sie das Land einen und führen können. Andenfalls könnte sogar eine deutliche Verschlechterung eintreten, sowohl in politischer und rechtsstaatlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Die internationalen Akteure stehen somit erneut vor schwierigen Entscheidungen. Sollen sie die Taliban weiter mit Sanktionen belegen und in Kauf nehmen, dass das Land in eine soziale und humanitäre Katstrophe abgleitet, oder auch die neue Regierung wie bisher massiv unterstützen, auf die Gefahr hin, eine islamistische Diktatur zu festigen und zu legitimieren? Gibt es einen dritten Weg, d.h. allein humanitäre Unterstützung ohne Anerkennung der machtausübenden Regierung? Und was bedeutete dies auf lange Sicht für die Zukunft des Landes?

Die Erfolgsbedingungen internationaler Unterstützung für einen inklusiven Friedensprozess haben sich nicht verbessert, so viel steht fest. Die Gründe dafür liegen in den verpassten Chancen der Vergangenheit, angefangen von der ersten Petersberg-Konferenz im Dezember 2001 und weiteren Konferenzen, von denen die Taliban regelmäßig ausgeschlossen wurden, bis hin zum Intra-Afghanischen Dialog von 2019, der zwar erstmals Aussichten auf Aussöhnung eröffnete, jedoch nicht fortgesetzt wurde, auch weil die Verhandlungen zwischen USA und Taliban um den Abzug der Truppen und ohne Einbindung der afghanischen Regierung alles zu überschatten begannen.

Der seit den Präsidentschaftswahlen (September 2019) schwelende Streit um die Vorherrschaft in Afghanistan und die mangelnde Einigungsbereitschaft innerhalb der internationalen Gemeinschaft ließen den Taliban freie Hand, eigene Gesprächskanäle aufzubauen und die mangelnde Einheit unter den internationalen und offiziellen afghanischen Akteuren zum eigenen Vorteil zu nutzen, um den Verhandlungsprozess bis zum vereinbarten Abzug hinauszuzögern und sich selbst in den Augen vieler Afghanen zunehmend zu einer "Regierung im Wartestand" aufzuwerten.

Fazit und Schlussfolgerungen

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der vorstehenden Analyse für künftige internationale Missionen, auch unter Beteiligung Deutschlands?

  1. Jede internationale Mission, deren Ziele nicht von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden, wird früher oder später zwangsläufig scheitern.

  2. Externe Unterstützungsmissionen dürfen die einheimischen Akteure niemals aus der Eigenverantwortung für das Gelingen von Reformprozessen entlassen. Das setzt voraus, dass sie nicht der Hybris verfallen, andere Gesellschaften nach ihren Vorstellungen umgestalten zu wollen.

  3. Ziele einer unterstützenden Mission müssen realistisch sein, ihre Umsetzung ist regelmäßig zu evaluieren, gegebenenfalls sind Nachschärfen oder Korrektur erforderlich.

  4. Politische und soziale Konflikte, die militärisch nicht zu lösen sind, werden auch durch ein Mehr an militärischen Mitteln nicht gelöst werden. Diese Binsenwahrheit hat sich in Afghanistan bewahrheitet, sie gilt aber auch für andere Missionen zur Beilegung von Konflikten.

  5. Auch wenn anfänglich nur ein kurzfristiges Ziel für eine Mission handlungsleitend scheint, so ist unbedingt von Beginn an eine plausible Beendigungs- bzw. Ausstiegsstrategie für den Einsatz erforderlich. Jede schleichende Erweiterung der Mission bei Fehlen einer überzeugenden Strategie erzeugt lediglich neue Dilemmata anstatt die vormaligen zu beseitigen.

  6. Hilfe muss vor allem denen gewährt werden, die sie am meisten benötigen und zugleich die geringsten Chancen zur Selbsthilfe besitzen. In keinem Fall darf durch Zuwendungen die politische Korruption befeuert werden.

  7. Erfolgreiche Transformation bedarf aktiver Teilhabe und Mitgestaltung der gesamten Bevölkerung. Hierfür ist die Förderung einer starken Zivilgesellschaft immer eine kluge Entscheidung.

Weitere Inhalte

Professor Hans-Joachim Gießmann ist Director Emeritus der Berghof Foundation und Senior Advisor für die Berghof-Projekte in Afghanistan and Äthiopien. Er war Executive Director der Berghof Conflict Research (2008-2011) and der Berghof Foundation (2012 to 2019). Davor war er Stellvertretender Direktor des Instituts für Frieden und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg.