Seit dem Herbst 2020 gibt es in Belarus allwöchentlich friedliche Demonstrationen mit großer Beteiligung der Bevölkerung gegen die massive Fälschung der Präsidentschaftswahlen durch Amtsinhaber Lukaschenko. Die Polizei reagiert mit massiver Gewalt. Zu fragen ist nun, welche Handlungsmöglichkeiten die internationale Staatengemeinschaft auf der Grundlage des Völkerrechts angesichts der Wahlfälschung in Belarus, der massiven Gewalt gegen die Demonstranten und des daraus resultierenden innerstaatlichen Konflikts hat (Binder/Kirchmair 2017).
Völkerrecht und innerstaatliche Konflikte
Im klassischen Völkerrecht gehörten Wahlen zu den typischen inneren Angelegenheiten der Staaten, in die sich andere Staaten nicht einmischen dürfen. Dies resultiert aus der dem Staat als höchster Organisationsform der menschlichen Gesellschaft zugesprochenen Qualität der Souveränität. Danach entscheidet jeder Staat selbst über seine Rechtsordnung und die Art und Weise der Beteiligung der ihm rechtsunterworfenen Bevölkerung an den staatlichen Funktionen.
Auch im modernen Völkerrecht wirkt der Souveränitätsgedanke nach. So verpflichtet sich die UNO in Art. 2(7) ihrer Charta, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Staaten einzumischen. Zugleich enthält Art. 2(4) eine substanzielle Einschränkung: Staaten dürfen in ihren internationalen Beziehungen weder militärische Gewalt androhen noch anwenden. Allerdings bezieht sich das Gewaltverbot nicht auf das staatliche Handeln innerhalb des eigenen Hoheitsgebiets. Hier besitzt der Staat das Gewaltmonopol, um die öffentliche Ordnung aufrechterhalten zu können.
So könnte man meinen, dass die Staatengemeinschaft angesichts der Polizeigewalt in Minsk und anderen belarussischen Städten die Hände gebunden sind, weil dort allein die belarussische Rechtsordnung und nicht das Völkerrecht gilt. Dem ist jedoch nicht so. Denn Belarus hat sich, wie alle anderen Staaten, in einem Netzwerk internationaler Verträge dazu verpflichtet, eine Vielzahl internationaler Normen und Regeln einzuhalten. Dadurch wurde und wird der Bereich der inneren Angelegenheiten – mit Zustimmung der Staaten – Schritt für Schritt eingeschränkt.
Die große Bereitschaft der Staaten, immer größere Bereiche ihrer Souveränität aufzugeben, hat mit dem Prinzip der Reziprozität
Der Menschenrechtsschutz als Ansatzpunkt
In Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte bzw. die Verhinderung und Verfolgung von massiven Menschenrechtsverletzungen liegt der Vorteil der Reziprozität nicht so klar auf der Hand. Denn die Begünstigten von Menschenrechtsverträgen sind zunächst nicht die Staaten, sondern die auf seinem Gebiet lebenden Menschen. Deshalb galten die Menschenrechte lange als ausschließlich innere Angelegenheit. In der Tat kann nur der jeweilige Staat diese Rechte in seiner Rechtsordnung verankern, umsetzen und erzwingen.
Diesem Verständnis folgend, hätte also die Polizei von Belarus freie Hand. Es stünde in ihrem Belieben, entweder die Demonstranten bei der Ausübung ihres Versammlungsrechts zu respektieren und zu schützen oder sie – falls eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung und des Staates von ihnen ausgeht – mit der ganzen Macht des Sicherheitsapparates und des belarussischen Rechts gegen sie vorzugehen, sie einzuschüchtern, festzunehmen und zu bestrafen.
Dass die Idee von der Allmacht des Staates der Vergangenheit angehört, hat mit den beispiellosen Menschenrechtsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands (1933-45) zu tun. Spätestens in den 1930er und 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen immer auch eine regionale und internationale Dimension haben. Zu den wichtigsten Auswirkungen der Unterdrückungs- und Gewaltpolitik eines Unrechtsstaates gegen die eigene Bevölkerung gehören Vertreibung und Flucht über Ländergrenzen, innenpolitische Destabilisierung durch Protest und Widerstand bis hin zum Bürgerkrieg sowie nicht selten auch eine aggressive Politik nach außen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewann das Prinzip der Reziprozität auch für den Bereich der Menschenrechte an Relevanz. Danach ist jeder Staat für die Achtung der Menschenrechte und den Schutz der auf seinem Territorium lebenden Menschen verantwortlich. Wenn sich alle Staaten an diesen Grundsatz halten, verringert sich das Risiko von grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen und gewaltsamen innerstaatlichen Konflikten – und nicht zuletzt die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche monströsen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiederholen.
Das UN-Menschenrechtsregime
Die Menschenrechtslage ist seitdem nicht länger eine innerstaatliche Angelegenheit, auch weil die Sicherung dieser Rechte zwischenstaatliche Kooperation erfordert. Um diese Zusammenarbeit weltweit zu ermöglichen und zu fördern, wurde 1945 die UNO gegründet. Mit der UN-Charta entstand der erste völkerrechtliche Vertrag, der von den Staaten die Einhaltung der Menschenrechte forderte und die Förderung dieser Rechte durch die Weltorganisation als eines ihrer Gründungsprinzipien festschrieb.
Die Lehre aus dem Völkermord des Naziregimes war die Erkenntnis, dass Menschenrechtsverbrechen ein Mechanismus von Vorbeugemaßnahmen entgegengestellt werden muss. Dazu war zunächst nötig zu definieren, was unter Menschenrechten zu verstehen ist. 1948 verabschiedete die UN-Generalversammlung die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte". Sie listet politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte auf, die deutlich über die damalige westliche Konzeption hinausgingen, die ursprünglich nur die durch die Französische Revolution geprägten (politischen) Bürgerrechte umfasste.
Aufgrund der Uneinigkeit zwischen westlichen, östlichen und Entwicklungsländern konnten sich die UN-Mitgliedsstaaten erst 1966 auf eine detaillierte Kodifizierung der verschiedenen Menschenrechte einigen. Mit dem "Pakt über politische und Bürgerrechte" sowie dem "Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" wurden zwei getrennte Verträge abgeschlossen – u.a. deshalb, weil sich die Umsetzungsmechanismen unterscheiden. So ist der erste Pakt durch die Mitgliedsstaaten sofort umzusetzen, während der zweite entsprechend der wirtschaftlichen Möglichkeiten des jeweiligen Staates anzuwenden ist. Die Entwicklungsländer sollten internationale Unterstützung erhalten, um grundlegende Menschenrechte, wie die auf Bildung und Gesundheit, schrittweise immer besser verwirklichen zu können. Mittlerweile wurden die Pakte durch 12 UN-Menschenrechtsverträge, die sich auf spezielle Rechte (z.B. Verbot der Folter) oder spezielle Gruppen (z.B. Kinder) beziehen, ergänzt und präzisiert.
Zur Umsetzung der Pakte und der Verträge über spezielle Menschenrechte wurde ein Mechanismus geschaffen, der die über 160 Unterzeichnerstaaten verpflichtet, in einem Fünfjahres-Rhythmus über die Anwendung der dort aufgelisteten Menschenrechte an einen Expertenausschuss zu berichten. Der Ausschuss diskutiert die Berichte dann in Anwesenheit eines Vertreters des berichtenden Staates, um offene Fragen zu klären, und gibt abschließend Einschätzungen über die Erfolge und Schwächen der Menschenrechtssituation in dem Staat ab. Das Verfahren mündet in (nicht rechtsverbindliche) Empfehlungen zu Verbesserungen und zu Äußerungen, wenn der Ausschuss Grund zu Bedenken hat. Auch können Organisationen der Zivilgesellschaft sog. Schattenberichte an den Ausschuss senden. Das Verfahren ist öffentlich und kann auf der Website der UN nachvollzogen werden. Die Berichtsverfahren erlauben mittlerweile fast einen weltweiten Überblick.
Ergänzt werden diese Vertragsverfahren durch eine weitere Berichtspflicht an den UN-Menschenrechtsrat mit Sitz in Genf, die für alle Mitgliedsstaaten der UNO verbindlich ist. Das Verfahren wird aber nicht vor einem Expertenausschuss, sondern von Staatenvertretern durchgeführt und endet ebenfalls mit Empfehlungen zur Verbesserung. Schließlich haben sich in verschiedenen Weltregionen die Staaten entschlossen, über diesen Mindeststandard hinauszugehen und stärkere Durchsetzungsverfahren anzuwenden. So wurden eine europäische und eine lateinamerikanische Menschenrechtskonvention sowie eine Afrikanische Konvention über die Rechte der Menschen und Völker ausgearbeitet, die durch jeweils eigens gegründete regionale Menschenrechtsgerichtshöfe durchsetzt werden.
An diese Gerichtshöfe können sich die Menschen wenden, wenn sie mit der Entscheidung nationaler Gerichte unzufrieden sind. Stellt der regionale Gerichtshof eine Verletzung fest, dann ist das ein verbindliches Urteil, das durch den betroffenen Staat umgesetzt werden muss. Dieser Mechanismus sieht auch eine Entschädigung der Opfer vor. Sehr oft betrifft dies Opfer innerstaatlicher (bewaffneter) Konflikte. Beispiele dafür sind der
Die internationale Schutzverantwortung – ein Neustart?
Für den Fall, dass innerstaatliche Konflikte weiter eskalieren, hält das Völkerrecht Normen und Mechanismen vor, die die betroffenen Staaten und andere Konfliktparteien zwingen, sich rechtstreu zu verhalten. Dieser Weg geht über den UN-Sicherheitsrat. Der Rat hat nach Art. 39 der Charta die Aufgabe, auf Bedrohungen oder Verletzungen des internationalen Friedens zu reagieren und den Frieden wiederherzustellen. Da Art. 39 keine Definition einer solchen Friedensbedrohung enthält, ist es letztlich eine politische Entscheidung, ob und in welcher Form der Sicherheitsrat Art. 39 anwendet und gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen gegen den Friedensstörer festlegt.
Der Rat kann bei
Trotz massiver Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in innerstaatlichen Konflikten blieb der Sicherheitsrat häufig untätig, weil er sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen konnte. Voraussetzung für einen Beschluss ist die Zustimmung von 9 der 15 Mitgliedsstaaten. Zudem darf keine der fünf im Rat vertretenen Großmächte ihr Veto einlegen. Um eindeutige und vor allem verbindliche Kriterien für das Tätigwerden des Sicherheitsrates und der internationalen Staatengemeinschaft zu erarbeiten, wurde von einer Gruppe aus ehemaligen führenden Politikern das Konzept der "Schutzverantwortung" (Responsibility to Protect – R2P) ausgearbeitet.
Im Kern geht es um eine Verknüpfung zwischen der Souveränität und der Verantwortung eines Staates für seine Bürger. Wenn ein Staat nicht bereit oder in der Lage ist, seine Bürger vor schwersten Verbrechen, wie Völkermord, Menschlichkeits- oder Kriegsverbrechen, zu schützen, dann soll die Schutzverantwortung von dem rechtsverletzenden Staat auf die Staatengemeinschaft übergehen. Staaten, die ihrer Schutzverantwortung nicht nachkommen, verwirken demnach ihr Recht auf Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten.
Allerdings wurden nur zwei Komponenten des R2P-Konzepts in die UN-Millenniumsdeklaration vom Oktober 2005 aufgenommen: die Vorbeugung von und die Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen. Die Nachsorge als dritte Säule des Konzepts blieb unberücksichtigt (z.B. Entwaffnung und Versöhnung der Konfliktparteien sowie Wiederaufbau). Eine Mehrheit der Staaten fürchtete offenbar, mit den Kosten für den Wiederaufbau eines Staates nach einer Intervention überfordert zu sein. Nicht zuletzt deshalb spricht die R2P auch nicht von einer Interventionspflicht der Staatengemeinschaft, sondern von einer "Bereitschaft" zum Eingreifen (Krieger 2015).
Als positives Beispiel für eine umfängliche und langfristige Konfliktnachsorge ist der
Fazit
Die konsequente Anwendung des UN-Menschenrechtsregimes und die Überwindung der Selbstblockade des UN-Sicherheitsrates bleiben die wichtigsten Hebel, um die Autorität und Wirksamkeit des Völkerrechts in Bezug auf die Einhegung und Lösung innerstaatlicher Konflikte weiter zu erhöhen. Doch das Schwergewicht muss auf der Vorbeugung von gewaltsamen Krisen und Konflikten liegen. Es geht darum, durch eine bessere Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen Staaten und internationalen Organisationen möglichst frühzeitig zu verhindern, dass innerstaatliche Konflikt gewaltsam eskalieren. Auch dafür sind Menschenrechtsverträge und die Überwachung ihrer Einhaltung so wichtig. Damit der Menschenrechtsschutz funktioniert müssen die Staaten die Rechtsregeln einhalten, zu denen sie sich verpflichtet haben: "pacta sunt servanda" (Verträge sind einzuhalten).