Die Kurden sind und bleiben Partner und zugleich Opfer der Politik westlicher Großmächte im Nahen Osten. In Syrien liefert der Plan zum Abzug der US-Armee das jüngste Beispiel für das Schicksal einer Volksgruppe, die im Laufe der letzten hundert Jahre immer wieder von der Eigenstaatlichkeit träumte, diese Träume aber genauso oft wieder begraben musste. Geopolitische Entwicklungen außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten, regionale Rivalitäten, Hybris und innere Streitigkeiten lassen die Kurden immer wieder scheitern. Auch in der aktuellen Situation in Syrien haben sie nur die Wahl zwischen mehreren schlechten Möglichkeiten.
Geschichte der Enttäuschung
Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Kurden aus ihrer Sicht vom Westen im Regen stehen gelassen. Der Vertrag von Sèvres aus dem Jahr 1920, in dem die westlichen Siegermächte die damals geplante Aufteilung des im Krieg unterlegenen Osmanischen Reiches regelten, versprach den Kurden ein Autonomiegebiet im Südosten Anatoliens und stellte ihnen einen eigenen Staat in Aussicht. Doch nur drei Jahre später hatten türkische Nationalisten unter dem osmanischen General Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, die Siegermächte aus den in Sèvres festgelegten Besatzungszonen geworfen und damit auch die Hoffnungen der Kurden zerstört.
Nur wenige Jahre später schlug Atatürks junge türkische Republik den ersten Kurdenaufstand im neuen Staat nieder. Lange versuchte es Ankara mit einer Politik der Assimilierung, die den Kurden das Recht auf eine eigene Identität verwehrte – zeitweise wurden die Kurden als "Bergtürken" vereinnahmt.
Gleichzeitig schlossen die Politiker in Ankara immer wieder Absprachen mit kurdischen Clanchefs, mit denen sich die Parteien blockweise viele Wählerstimmen sicherten, mit denen aber auch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des südostanatolischen Kurdengebietes gelähmt wurde. Als der kurdische Linksextremist Abdullah Öcalan im Jahr 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gründete, richtete sich deren Widerstand vor allem gegen die mächtigen kurdischen Clanchefs und deren Bündnisse mit Ankara. Der Aufstand der PKK hat bis heute mehr als 40.000 Menschenleben gekostet und große Teile des Kurdengebietes verwüstet.
Zerplatzte Träume im Nordirak und in Syrien
Im Iran, im Irak und in Syrien erging es den Kurden lange Zeit nicht viel besser. Der irakische Diktator Saddam Hussein ließ die Kurden mit Giftgas angreifen, in Syrien galten viele Kurden als Staatenlose. Westlicher Beistand eröffnete den Kurden im Irak und in Syrien neue Perspektiven – die den trügerischen Traum von der Eigenstaatlichkeit neu aufblühen ließen.
Im Norden Iraks entwickelte sich in den 1990er Jahren im Schutz einer vom Westen durchgesetzten Flugverbotszone ein kurdisches Autonomiegebiet, das über erheblichen Ölreichtum verfügt. Die Bodenschätze bescherten den irakischen Kurden mehr Wohlstand und Selbstbestimmung, als alle anderen Kurdengruppen im Nahen Osten sie hatten, auch wenn Korruption und Vetternwirtschaft unter den beiden herrschenden Clans der Barzanis und der Talabanis die Chance auf den Aufbau echter demokratischer Verhältnisse zunichtemachten.
Das Ziel der staatlichen Eigenständigkeit blieb für die nordirakischen Kurden aber unerreichbar. Als die kurdische Regionalregierung im September 2017 gegen den Protest der irakischen Führung in Bagdad eine Volksabstimmung über die Gründung eines eigenen Staates ansetzte, vertraute sie nicht zuletzt auf die Unterstützung durch die USA. Schließlich hatten die nordirakischen Kurden in den Jahren zuvor mithilfe der Amerikaner und Waffenlieferungen auch aus Deutschland den Vormarsch des selbsternannten Islamischen Staates (IS) im Irak gestoppt und nach Syrien zurückgedrängt. Doch Washington und Europa sahen tatenlos zu, als die irakische Armee nach dem Kurden-Referendum mit iranischer Unterstützung die strategisch wichtige Öl-Stadt Kirkuk eroberte und den Kurden viele Gebiete wieder abnahm, die sie vorher eingenommen hatten. Auch die Türkei wandte sich vehement gegen den Plan eines Kurdenstaates im Nordirak.
Eine ähnliche Entwicklung spielte sich in Syrien ab. Die USA – sowohl unter Obama als auch unter Trump – unternahmen nichts gegen die türkischen Militärinterventionen in Syrien, mit denen Ankara im Sommer 2016 und Anfang 2018 zwei kurdisch kontrollierte Gebiete westlich des Euphrat mit den Städten Dscharablus und Afrin eroberte. Die syrischen PKK-Ableger, die Demokratische Unionspartei (PYD) und deren Miliz, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), hatten in den Wirren des syrischen Bürgerkrieges und als wichtigste Partner der USA im Kampf gegen den IS in Syrien zwei Gebietsstreifen entlang der türkischen Grenze für sich erobert. Klagen aus der Zivilbevölkerung über die Zwangsherrschaft der von der PKK ausgebildeten und stalinistisch geprägten Kurdenkommandeure in dem als "Rojava" bezeichneten PYD-Autonomiegebiet wurden von den USA ignoriert. So prangerten assyrische Christen unter anderem Plünderungen durch die YPG und eine "Kurdisierung" des Erziehungssystems an, während Amnesty International über willkürliche Festnahmen von PYD-Gegnern berichtete.
Ende 2018 kündigte US-Präsident Donald Trump mit seiner Entscheidung zum Abzug der rund 2.000 amerikanischen Soldaten aus ihren Einsatzgebieten östlich des Euphrat das Bündnis zwischen Washington und den syrischen Kurden endgültig auf. Trump übergab die Verantwortung für den Kampf gegen den IS an die Türkei und ließ damit die Kurden fallen. Erst nach einem Aufschrei von Kritikern, vor allem im US-Kongress, die der Trump-Regierung einen Verrat an den kurdischen Verbündeten vorwarfen, relativierte Washington die ursprüngliche Aussage des Präsidenten über einen sofortigen Abzug.
Strategische Einsamkeit
Trumps Entscheidung verstieß die syrischen Kurden in die strategische Einsamkeit. Ein Ausgleich mit der übermächtigen Nachbarin Türkei scheint ausgeschlossen. Ankara betrachtet PYD und YPG als Vertreterinnen der PKK und damit als feindliche Terrororganisationen, die eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der Türkei darstellen und zumindest aus dem unmittelbaren türkisch-syrischen Grenzgebiet vertrieben werden sollen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat trotz der Einwände der USA einen Einmarsch in die PYD-Gebiete östlich des Euphrat angekündigt.
Möglicherweise stünde die PYD heute besser da, wenn sie sich in den Hoch-Zeiten ihrer Autonomieträume zwischen 2011 und 2018 um bessere Kontakte zur Regierung in Ankara bemüht und den Eindruck einer kurdischen Zwangsherrschaft in ihrem Gebiet zu Lasten von Arabern, Turkmenen und Christen vermieden hätte. Zwangsläufig ist eine unerbittliche Feindschaft zwischen der Türkei und einem kurdischen Autonomiegebiet an ihrer Grenze jedenfalls nicht, wie die – trotz der Differenzen über das Verfassungsreferendum vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet immer noch guten - Beziehungen zwischen Ankara und der kurdischen Regionalregierung im Norden Iraks bewiesen haben.
Auch im Verhältnis zur syrischen Regierung in Damaskus hat die PYD ihre Stärke und ihren Handlungsspielraum überschätzt. Angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses ist inzwischen eine gütliche Einigung über die Erhaltung der kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten des Landes unwahrscheinlich. Zwar hat die PKK in der Vergangenheit eng mit dem syrischen Regime kooperiert: So lebte PKK-Chef Öcalan lange in der syrischen Hauptstadt. Zudem haben die syrischen Kurden seit Ausbruch des Krieges im Jahr 2011 nie gegen Assads Armee gekämpft. Doch nach dem Abzug der Amerikaner hat die Assad-Regierung in Damaskus keinen Grund mehr, den Kurden Zugeständnisse zu machen. Möglicherweise wird Präsident Assad versuchen, die Kurden für Racheakte gegen den Gegner Türkei einzusetzen – aber auch in diesem Fall ist kaum zu erwarten, dass die PYD im Gegenzug einen gesicherten Autonomiestatus für die syrischen Kurden herausschlagen kann. Das Assad-Regime strebt nach dem Ende des Krieges die Wiederherstellung seiner Kontrolle über alle Landesteile an und wird kaum eine Ausnahme für die Kurden machen.
Bleibt als Alternative nur ein Bündnis mit Russland. Als bestimmende Militärmacht in Syrien hat Moskau erheblichen Einfluss auf die Türkei und auf die syrische Regierung. Wenn jemand der PYD einen Ausweg aus ihrer strategischen Sackgasse bieten kann, dann ist es der russische Präsident Wladimir Putin: Eine Allianz mit Putin könnte die syrischen Kurden sowohl vor einem türkischen Einmarsch als auch vor Repressalien des Assad-Regimes schützen. Russland ist an einer raschen Beilegung des syrischen Konfliktes und der Errichtung einer stabilen Nachkriegsordnung interessiert, um sein neu gewonnenes Prestige als Nahost-Macht und den Einfluss des Kreml in der Region auf Dauer zu sichern. Zumindest auf dem Papier hat Putin auch nichts gegen eine regionale Eigenständigkeit der Kurden. Seit rund drei Jahren verfügt die PYD über ein Verbindungsbüro in Moskau.
Nur schlechte Möglichkeiten
Doch für Putin ist die Türkei ein wichtigerer Partner als die Kurden. Moskau will Ankara aus dem westlichen Bündnissystem herauslösen und wird dieses Ziel kaum durch eine enge Partnerschaft mit der PYD gefährden wollen. Russland wird einen Balanceakt versuchen, um einerseits Ankara noch enger an sich zu binden und andererseits die guten Beziehungen zu den Kurden als Joker im Spiel um die politische Zukunft Syriens in der Hand zu behalten. Möglicherweise besteht die beste Hoffnung für die syrischen Kurden deshalb im Interesse der russischen Führung an der Vermeidung einer neuen türkischen Intervention in Syrien.
Für die nordwestsyrische Provinz Idlib haben Putin und Erdogan bereits eine Einigung gefunden, die den dort drohenden Großkonflikt zwischen der syrischen Regierung und eingeschlossenen Rebellen "einfriert" und damit vorerst entschärft. Ähnliches lässt sich auch für die Lage im PYD-Gebiet entlang der türkischen Grenze im Nordosten Syriens denken: Eine russisch-türkische Übereinkunft könnte dort dafür sorgen, dass sich kurdische Kämpfer aus dem unmittelbaren Grenzgebiet zurückziehen und das Gebiet der syrischen Armee überlassen, womit türkischen Interessen Rechnung getragen würde; Ankara will die PYD durch eine "Pufferzone" mindestens 30 Kilometer von der Grenze zurückgedrängt sehen. Im Gegenzug könnte Putin seinen Einfluss auf Assad nutzen, um die syrische Regierung von einer sofortigen Auflösung der kurdischen Autonomie im restlichen Herrschaftsgebiet der PYD abzubringen.
All das ist nur noch Schadensbegrenzung. Denn keine der Möglichkeiten, die den Kurden in Syrien nach dem Abzug der Amerikaner noch offenstehen, lässt die Bildung eines eigenen Staates zu. Sie können nur darauf hoffen, dass die angedrohte türkische Militärintervention und die befürchtete Rückkehr des syrischen Regimes in den Nordosten des Landes vorerst abgewendet werden können, und sie müssen abwarten, ob ihre Interessen bei Verhandlungen über eine neue staatliche Ordnung für Syrien nach dem Krieg berücksichtigt werden.
Um ihre Verhandlungsmacht zu steigern, könnten die Kurden erneut auf den Beistand westlicher Staaten hoffen: Der Westen wird als Zahlmeister für den Wiederaufbau Syriens gebraucht und dürfte deshalb zumindest ein gewisses Maß an Einfluss auf die künftige Entwicklung haben. Ein eigener Staat wird für die Kurden zwar auch dabei nicht herausspringen – doch von allen schlechten Möglichkeiten ist die Durchsetzung eines Mindestmaßes an politischer und kultureller Selbstbestimmung am Verhandlungstisch noch die beste und wahrscheinlich auch aussichtsreichste.