Aktuelle Konfliktsituation
Am 28. Juli 2024 fanden in Venezuela Präsidentschaftswahlen unter extrem unfairen Bedingungen statt. Nach dem offiziellen Endergebnis vom 2. August gewann der amtierende Präsident Nicolás Maduro mit 51,2 % der Stimmen gegen den Kandidaten der vereinigten Opposition Edmundo González (44,2 %).
Maduro beantragte beim Obersten Gerichtshof (TSJ) die Überprüfung des vom CNE verkündeten Wahlergebnisses, wofür nach offiziellen Angaben die Wahlakten der Justiz (nicht aber der Öffentlichkeit) zur Verfügung gestellt wurden. Erwartungsgemäß bestätigte der gleichgeschaltete TSJ am 22. August den angeblichen Wahlsieg des amtierenden Präsidenten.
Das Carter Center, das die Wahlen beobachtet hat, kommt zu dem Schluss, dass diese nicht den internationalen Standards für Integrität entsprachen und die offiziellen Wahlergebnisse nicht überprüft und bestätigt werden konnten.
Venezuela hat sich bei Fortbestehen kleinerer Freiräume für politische und zivilgesellschaftliche Aktivitäten zu einer Autokratie entwickelt, in der semikompetitive und manipulierte Wahlen nur noch als demokratisches Feigenblatt dienen. Rechtsstaatliche Prinzipien wurden weitgehend außer Kraft gesetzt, Zivilisten werden teilweise von Militärgerichten verurteilt. Die Einschränkung des Pluralismus und der Abbau institutioneller Kontrollen gehen mit zunehmender politischer Verfolgung und Repression einher. Regimetragende Kräfte sind die chavistische Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) und die Streitkräfte. Das Militär spielt nicht nur im Sicherheitsbereich, sondern auch in Politik und Wirtschaft eine zentrale Rolle. Die Regierung stützt sich auch auf Milizen (Milicia Bolivariana), die 2005 von Chávez gegründet und im Februar 2020 in die regulären Streitkräfte integriert wurden.
Die Misswirtschaft der Regierung in Verbindung mit einer Phase niedriger Ölpreise bei gleichzeitig hoher Rohstoffabhängigkeit hat ab 2013 zu einer Wirtschafts- und Versorgungskrise im Land mit den weltweit größten Ölreserven geführt. Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) lag die jährliche ökonomische Wachstumsrate 2023 bei 3,0 %, für 2024 werden 5,0 % erwartet.
Politische Repression und Armut fördern die Emigration, die sich inzwischen zu einer regionalen Flüchtlingskrise ausgeweitet hat. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) haben bis November 2023 7,7 Mio. Menschen Venezuela verlassen. Rund 6,5 Mio. von ihnen haben in Lateinamerika und der Karibik Zuflucht gefunden, davon 2,9 Mio. in Kolumbien. Ein Großteil dieser Menschen ist seit Jahren auf der Flucht.
Ursachen und Hintergründe
Die Erosion der Demokratie und der wirtschaftliche Niedergang setzten bereits unter der Regierung von Hugo Chávez (1999-2013) ein. Sie verschärften sich unter Nicolás Maduro, der im Dezember 2012 vom totkranken Chávez persönlich zu seinem Nachfolger ernannt wurde. Der Beginn von Maduros Amtszeit fiel mit dem schwindenden Ansehen des Chavismus zusammen. Um den Machtverlust zu verhindern, hat die Regierung seit 2015 das Wahlrecht, das Wahlsystem und mehrfach auch die Ergebnisse von Wahlen manipuliert. Der Übergang zu einem autoritären System wurde durch die Entmachtung der im Jahr 2015 gewählten Nationalversammlung (Parlament) besiegelt. In dieser dominierten die Oppositionsparteien, von denen sich die meisten 2008 zum Runden Tisch der Demokratischen Einheit (Mesa de Unidad Democrática – MUD) zusammengeschlossen hatten.
Im Jahr 2017 rief die Regierung zur Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung auf, die sich aus regimetreuen Mitgliedern zusammensetzte und die legislativen Funktionen der Nationalversammlung übernahm. Anfang 2019 trat der Konflikt in eine neue Phase. Am 10. Januar erklärte die Nationalversammlung die Wiederwahl Maduros vom Mai 2018 für ungültig und erkannte ihm sein Amt ab. Am 15. Januar 2019 erklärte sie dann per Gesetz das Präsidentenamt für vakant und Maduro zum Usurpator. Nachdem die Nationalversammlung den Abgeordneten der Partei Volkswille (Voluntad Popular – VP), Juan Guaidó, zu ihrem Präsidenten gewählt hatte, ernannte sie ihn am 23. Januar 2019 auf einer Großkundgebung in Caracas unter Rückgriff auf verschiedene Artikel der Verfassung zum Interimspräsidenten Venezuelas.
Hinter den bis dahin weitgehend unbekannten charismatischen jungen Politiker stellten sich große Teile der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft (darunter Deutschland). Guaidó beanspruchte die legitime Präsidentschaft für sich, ohne jedoch die tatsächliche Macht im Land, also die effektive Kontrolle über Streitkräfte, Verwaltung und Territorium, ausüben zu können. Somit blieben die Rechtsakte der Nationalversammlung wirkungslos.
Als im Januar 2020 die Amtszeit Guaidós als Vorsitzenden der Nationalversammlung auslief, verhinderten Regimekräfte eine ordentliche Abstimmung im Plenum. Eine Minderheit regimetreuer und übergelaufener Parlamentarier wählte das ehemalige Mitglied der Oppositionspartei „Gerechtigkeit zuerst“ (Primero Justicia – PJ), Luis Parra, zum neuen Parlamentspräsidenten, der in dieser Funktion auch von Maduro anerkannt wurde. Aber auch Guaidó wurde von einer Mehrheit der Nationalversammlung in genau derselben Position bestätigt.
Durch positive Prognosen der Meinungsumfragen ermutigt, beschlossen die in der PUD zusammengeschlossenen politischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte, ihre Strategie zu ändern und an den für 2024 anberaumten Präsidentschaftswahlen teilzunehmen. Die PUD führte im Oktober 2023 Wahlen zur Bestimmung ihrer Präsidentschaftskandidatur (primarias) in Venezuela und weiteren 29 Ländern durch, bei denen sich Corina Machado (Vente Venezuela) mit rund 93 % der Stimmen klar durchsetzte. Der CNE verweigerte der PUD jedoch die Registrierung der populären Machado als Präsidentschaftskandidatin. Dasselbe Schicksal ereilte Corina Yoris, die von der PUD als Ersatz für Machado nominiert wurde. Nur die Kandidatur des eher unbekannten Diplomaten Edmundo González wurde von der venezolanischen Wahlbehörde zugelassen. Damit waren nicht nur die beiden aussichtsreichsten, sondern alle (zehn) Präsidentschaftskandidaten männlich.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Auf der einen Seite kann das Maduro-Regime zur Stärkung des Sicherheitssektors auf kubanische Beratungskräfte sowie russische Waffen zurückgreifen. Außerdem erhält Venezuela großzügige Kredite aus China und Unterstützung für den Erdölsektor aus dem Iran. Bezeichnenderweise waren diese Staaten bisher nicht an Verhandlungsinitiativen beteiligt. Auf der anderen Seite stehen jene Staaten, die abgestufte Sanktionen gegen Venezuela erlassen haben. Während sich die Sanktionen der USA seit 2015 gegen den Erdölsektor, Einzelpersonen und Körperschaften richten
Nach dem letzten erfolglosen Versuch eines Dialogs zwischen Regierung und Opposition im Jahr 2019 unter norwegischer Vermittlung in Oslo (und auf Barbados) unterzeichneten die Delegierten der Regierung und der PUD am 17. Oktober 2023 in Bridgetown ein Teilabkommen, in dem sich beide Seiten in sechs Punkten zur Gewährleistung fairer Wahlen und der Achtung politischer Rechte und Freiheiten verpflichteten.
Doch die Präsidentschaftswahlen im Juli 2024 sind nicht korrekt und fair verlaufen. Die internationale Gemeinschaft reagierte darauf nicht einheitlich: Die Regierungen von mehr als 40 Staaten, darunter China und Russland, aber auch Bolivien, Honduras, Kuba und Nicaragua, haben Maduro zum Wahlsieg gratuliert. Ihnen gegenüber stehen die Staaten, die González als legitimen Wahlsieger anerkannt haben, darunter die USA sowie Argentinien, Costa Rica, Ecuador, Panama, Peru und Uruguay. Dazwischen stehen diejenigen, die – ohne sich für einen Sieger auszusprechen – die Regierung Maduro auffordern, die Wahlunterlagen zu veröffentlichen. Das sind insbesondere Chile, Brasilien, Kolumbien und Mexiko
Am 16. August 2024 gelang es dem Ständigen Rat der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS)
Konfliktgeschichte
Der Chavismo à la Maduro kann als dritte Phase der jüngsten politischen Entwicklung Venezuelas angesehen werden. Eine erste Zäsur bildete der unter Chávez zwischen 2002 und 2006 vollzogene Übergang von der „Bolivarischen Revolution“ zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der als Radikalisierung seines politischen Projekts zu verstehen ist. Sechs Jahre nach einem gescheiterten Putschversuch im Jahr 1992 gewann der Offizier Chávez die Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen, die Demokratie partizipativer zu gestalten, den Ölreichtum gerechter zu verteilen und die Korruption zu bekämpfen. Dazu dienen sollten die „Neugründung“ des Landes durch eine neue Verfassung, eine aktive Sozialpolitik mit vielfältigen Sozialprogrammen, eine stärkere politische Lenkung des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA und die Beteiligung der Streitkräfte an entwicklungspolitischen Aufgaben.
Im Zuge von Generalstreiks und Demonstrationen durch Unternehmer und Gewerkschaften wurde Chávez am 12. April 2002 verhaftet und seines Amtes enthoben. Der Chef des Unternehmensverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona, übernahm die Amtsgeschäfte und kündigte Wahlen an. Doch der von einer Gruppe von Generälen unterstützte Staatsstreich scheiterte. Anhänger von Chávez in der Gesellschaft und im Militär machten mobil und verhalfen ihm nach nur zwei Tagen zurück an die Macht. Diese Putscherfahrung auf beiden Seiten führte zu einem Vertrauensverlust zwischen Regierung und Opposition und prägt bis heute das gegenseitige Feindbild. Ab 2002 radikalisierte Chávez seine Politik. Er distanzierte sich zunehmend von den Prinzipien und Regeln der Demokratie, der Marktwirtschaft und der liberalen, regelbasierten Weltordnung. Chavez starb am 5. März 2013 in Caracas. Unter seinem Nachfolger Maduro versank Venezuela immer tiefer in einer politischen, soziökonomischen und humanitären Krise, die mit massiven Verletzungen der Menschenrechte einhergehen.