Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 gilt als eines der Schlüsselereignisse, die den Aufstieg des militanten Islamismus einläuteten – sowohl in Zentralasien als auch global. Die afghanischen Mudschaheddin, die gegen die sowjetische Besetzung kämpften, wurden politisch und militärisch von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten unterstützt. Seitdem hat sich Afghanistan – gemeinsam mit Pakistan – zu einer zentralen Drehscheibe für den transnationalen Dschihadismus entwickelt. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Region.
Die Taliban sind zurück
Seit 2015 verzeichnen die Taliban wieder verstärkt territoriale Gewinne, was auch auf militärische Trainings im Nachbarland Pakistan zurückzuführen ist. Inzwischen beanspruchen sie mindestens ein Drittel des Landes für sich und konnten im Jahre 2017 durch Angriffe auf nationale Sicherheitskräfte und Regierungseinrichtungen hohen Schaden verursachen. Da sie den Schmuggel von Waren kontrollieren, sind sie auch finanziell gut aufgestellt. Opium, Haschisch, weißer Marmor, Holz und Lapislazuli verlassen das Land, dafür werden Waffen und andere Schmuggelwaren eingeführt.
Waren die Taliban anfangs ganz überwiegend eine Bewegung ethnischer Paschtunen aus dem Süden des Landes, konzentriert sich ihre neue Rekrutierungsstrategie darauf, u.a. auch Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und sogar schiitische Hazara aufzunehmen. Ihr Ziel ist, sich künftig als nationale afghanische Bewegung zu präsentieren. In der Provinz Badachschan, im Nordosten des Landes, sind inzwischen fast alle Führungspositionen von Tadschiken besetzt. In den nördlichen Provinzen Faryab und Sar-i Pul werden Führungspositionen insbesondere von Usbeken gehalten. Dies trägt zu einer spürbar größeren Akzeptanz der Taliban in der Bevölkerung bei.
Die Ergebnisse einer neueren Studie des Afghanistan Analysts Network belegen, dass die Ideologie der Taliban in deutlich geringerem Maße mit der Propagierung eines transnationalen Dschihad zu tun hat, als bislang angenommen.
Die Handlungsfähigkeit der Gruppe wird durch interne Machtkämpfe beeinträchtigt, die seit dem Tod ihres ehemaligen Anführers, Akhtar Mansur, im Jahre 2016 anhalten. Sein Nachfolger, Habibatullah Achundsada, gilt als vergleichsweise schwach. Am meisten profitiert hiervon der IS, der abtrünnige Taliban-Kämpfer gern aufnimmt. Der IS ist heute der bedeutendste Rivale der Taliban in der sogenannten AfPak Zone
Der IS hält dagegen
Dem IS gelang es im Jahre 2015, sich in Afghanistan und Pakistan als "Provinz Chorasan" zu etablieren. "Chorasan" ist die historische Bezeichnung für ein Gebiet, das einst den Norden Afghanistans, den Nordosten des Irans, das südliche Turkmenistan und Usbekistan umfasste. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Zweig des IS nicht um einen Export aus dem Nahen Osten, sondern um den Zusammenschluss verschiedener militanter Gruppen sowie von den Taliban ausgeschlossener Kämpfern. Außerdem haben sich Angehörige von vorwiegend in Pakistan beheimateten Gruppen, wie Laschkar-e Taiba und Tehrik-i-Taliban, dem IS angeschlossen. Der regionale Ableger des IS und die Taliban liefern sich zunehmend bewaffnete Auseinandersetzungen.
Von vergleichsweise geringerer Bedeutung als Taliban und IS ist al-Qaida, auch wenn die Gruppe besonders in jenen Teilen des Landes an Einfluss gewinnen konnte, wo die Präsenz afghanischer und internationaler Truppen gering ist. Obwohl die Taliban sich nie öffentlich von al-Qaida losgesagt haben, gehen beide Gruppierungen allem Anschein nach getrennte Wege.
Regionale Rivalitäten
Wie schon im 19. Jahrhundert, als Afghanistan im Mittelpunkt des "Great Game" zwischen dem Britischen und dem Russischen Reich stand, ist das Land heute erneut Spielball anderer internationaler und regionaler Mächte. Der aktivste regionale Akteur ist Pakistan, das sich als Schutzmacht des sunnitischen Islam in der Region versteht. Eine andere Motivation besteht darin, die weitere Ausweitung des indischen Einflusses in der Region zu verhindern. Um dies zu erreichen, bedient sich Pakistan des Islamismus und dschihadistischer Organisationen. Dazu gehört die Unterstützung militanter Gruppen im größtenteils muslimischen Kaschmir ebenso wie die Einflussnahme auf die afghanischen Taliban. Dabei hat sich der pakistanische Geheimdienst Inter-Services Intelligence zu einer eigenständig agierenden Institution im Staate entwickelt. Da sich jedoch radikal-islamische Gruppen nur begrenzt kontrollieren lassen, ist auf pakistanischem Territorium nun selbst ein gewaltsamer Konflikt zwischen Sicherheitskräften und dschihadistischen Gruppen entstanden. Die konfessionell gerechtfertigte Gewalt richtet sich häufig gegen die schiitische Bevölkerung des Landes, etwa auch gegen die in Belutschistan lebenden Hazara. Schließlich finden regelmäßig Angriffe auf Schreine und Heiligtümer der Sufis statt. Besonders aktiv und brutal in ihrem Vorgehen ist die Organisation Tehrik-i-Taliban (TTP), deren Aktivitäten sich u.a. gegen westlich geprägte Bildungseinrichtungen und insbesondere gegen die Teilnahme von Mädchen am Schulunterricht richten. So verübten 2012 Mitglieder der TTP einen Anschlag auf die Schülerin und Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai, den sie wie durch ein Wunder überlebte.
Am stärksten betroffen vom islamisch geprägten Radikalismus und Dschihadismus in Pakistan sind die an Afghanistan angrenzenden Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan sowie die Stammesgebiete unter Bundesverwaltung, die sich weitgehend der Kontrolle des Staates entziehen. In den unterentwickelten Gebieten haben islamistische Gruppen leichtes Spiel, die durch die rücksichtslose Aufstands- und Terrorismusbekämpfung der US-amerikanischen und pakistanischen Streitkräfte traumatisierte Zivilbevölkerung für ihre Ziele zu gewinnen.
Alarmiert durch den islamistisch geprägten Aktivismus Pakistans in Afghanistan hat Indien sein regionales Engagement in den vergangenen Jahren systematisch verstärkt. Neu-Delhi hat ein großes Interesse daran, in Afghanistan die Rückkehr militanter islamistischer Gruppen an die Macht zu verhindern. Dafür investiert es erhebliche Beträge in die Entwicklungszusammenarbeit mit Kabul. Es beteiligt sich u.a. am Wiederaufbau des Landes sowie an der Ausbildung von Beamten und Polizisten. Dadurch soll auch der Einfluss Pakistans auf zukünftige Regierungen zurückgedrängt werden.
China will den Gehorsam der muslimischen Bevölkerung erzwingen
Um den Islamismus als Rückhalt oppositioneller Kräfte zu schwächen, hat Beijing im Frühjahr 2017 ein Anti-Extremismus-Gesetz erlassen, das u.a. das Tragen von Kopftüchern und langen Bärten verbietet. Imame müssen ihre Freitagspredigten im Vorhinein zur Überprüfung vorlegen. Die rigide Identitätspolitik des chinesischen Zentralstaats trifft bei der turkstämmigen und mehrheitlich islamisch geprägten Bevölkerung des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang zunehmend auf Unmut und Widerstand. Die uigurische Minderheit sieht sich einem rigiden Assimilierungsdruck ausgesetzt, der eher dazu führen dürfte, dass der Islam als Teil der kulturellen und ethnischen Identität gestärkt als diskreditiert wird.
Unter Regimegegnern wird der Islamismus als Ideologie vermutlich neuen Zulauf erfahren. Die wichtigste Kraft ist die Islamische Turkestan-Partei (TIP). Sie möchte
Iran – Schutzmacht der Schiiten in der Region
Während Pakistan sich als Förderer des sunnitischen Islam in der Region versteht, positioniert sich der Iran als Schirmherr der Schiiten. Als westlicher Nachbar greift der Iran zunehmend aktiver in die inneren Geschicke Afghanistans ein. Die dabei verfolgte Politik scheint auf den ersten Blick allerdings widersprüchlich, da sowohl die Regierung als auch die aufständischen Taliban unterstützt werden. Dass der Iran afghanische Taliban trotz ihrer radikal sunnitischen Auslegung des Islam fördert, hat zwei wesentliche Gründe: Zum einen teilt die iranische Führung das Ziel der Taliban, die USA aus Afghanistan und der Region zu verdrängen. Zum anderen sieht sie in den gemäßigteren und national orientierten Taliban ein Gegengewicht zu transnationalen dschihadistischen Gruppierungen wie dem IS, die sich ihren arabisch-sunnitischen Geldgebern verpflichtet fühlen und deren Angriffe sich gezielt gegen Schiiten richten. Der iranische Beistand für die Taliban erfolgt in Form von Informationen, Waffen, Geld und der Gewährung sicherer Rückzugsorte. Gleichzeitig sucht Teheran möglichst engen Kontakt zur afghanischen Regierung und leistet Entwicklungshilfe. Insbesondere die schiitische Minderheit profitiert von der finanziellen Unterstützung für den Bau von Koranschulen, Kulturzentren und Universitäten.
Autoritär regulierter Islam im post-sowjetischen Zentralasien
In der Bevölkerung der zentralasiatischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion führte der Untergang des Riesenreiches zu einer Wiedergeburt traditioneller Ausdrucksformen der einheimischen Kultur und des Islam. Auch wenn die neuen autokratischen Staatführungen offiziell betonen, die Religion zu fördern, so beschränkt sich dies lediglich auf einen engen Ausschnitt dessen, was der Islam umfasst. Ein traditionell verstandener Islam, der die Alltagskultur, Gedenkzeremonien und das Pilgerwesen einschließt, wird gutgeheißen. Brutal unterdrückt wird dagegen alles, was oppositionellen Strömungen und Bewegungen als ideologische Grundlage und Legitimation dienen könnte. Ähnlich wie China fürchten besonders die an Afghanistan angrenzenden Länder (Usbekistan, Tadschikistan) ein Überspringen der dort herrschenden Zustände auf ihr Territorium.
Seit Ende der 1990er Jahre übte die Islamische Bewegung Usbekistans (IMU), die vermutlich 1998 in der AfPak-Zone unter Mitwirkung der Taliban, al-Qaida und des pakistanischen Geheimdienstes gegründet wurde, großen Einfluss in der Region aus. Nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan und der Zunahme der politischen Repression in den postsowjetischen Ländern Zentralasiens zog sich die IMU nach Wasiristan zurück und spaltete sich später infolge des Aufschwungs des IS. Während sich die Führung dem IS – "Provinz Chorasan" – anschloss, blieben zahlreiche IMU-Kämpfer den Taliban und al-Qaida treu. Eine Mehrheit beteiligte sich jedoch an den Kämpfen des IS und anderer islamistischer Terrorgruppen in Syrien und dem Irak, wo zeitweise 1.000 bis 2.000 ethnische Usbeken involviert gewesen sein sollen.
Russlands imperiales Unbehagen
Die historische Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan hat die Dimensionen eines nationalen Traumas angenommen. Dementsprechend verwundert es nicht, dass Russland seine militärischen Stützpunkte in Tadschikistan und Kirgistan weiter aufgestockt und mit modernen Waffen ausgestattet hat. Das befürchtete Vordringen radikal-islamischer Kräfte soll so schon weit vor den Grenzen des eigenen Staates gestoppt werden. Mit den Tschetschenien-Kriegen (1994-1996 und 1999-2009) wurde der politische Islam endgültig zu einem zentralen Feindbild erhoben. Im Februar 2017 warnte Präsident Wladimir Putin davor, dass der IS vorhabe, den Süden des Landes und die zentralasiatischen Staaten zu destabilisieren. Anti-islamische Stimmungen in der russischen Öffentlichkeit werden zudem durch den Zuzug von Arbeitsmigranten aus Zentralasien in die Russische Föderation genährt. Auch die höhere Geburtenrate des muslimischen Teils der Bevölkerung der Russischen Föderation dürfte dazu beitragen, dass der Einfluss des Islam in den kommenden Jahren schnell zunehmen und den Alltag immer stärker prägen wird.
Laut dem Nachrichtensender Al Jazeera stellte Russland mit etwa 3.500 Kämpfern im Einsatz für den Islamischen Staat mehr Freiwillige als jede andere Nation. Die Nachrichtenstelle des IS versprach die Rückkehr zur Scharia-Gesetzgebung im Nordkaukasus, Tatarstan, dem Uralgebiet und der Krim, wo bis zu 20 Mio. Muslime leben. Im Jahre 2013 begannen Dschihadisten aus dem
Die meisten IS-Kämpfer stammen aus dem Nordkaukasus, wo mehr als 100 ethnische Gruppen in einem von Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption geprägten Umfeld leben. Laut Human Rights Watch wird der Konflikt noch dadurch befördert, dass Muslime mit Sympathien für radikale Gruppen immer wieder von Sicherheitskräften entführt, gefoltert und mitunter auch exekutiert werden.
In Anbetracht der anstehenden demographischen Veränderungen wird Russland sich neue Gedanken zum Umgang mit Arbeitsmigranten aus dem Süden der ehemaligen Sowjetunion und dem eigenen muslimischen Erbe machen müssen.