Bis 2011 waren Ägypten und Libyen dominierende Akteure in Nordafrika. Infolge des "Arabischen Frühlings" kollabierte der libysche Staat, und Ägypten büßte aufgrund interner Konflikte einen Großteil seines ordnungspolitischen Einflusses ein. Zurück bleibt eine Region im Umbruch, dessen Auswirkungen bis weit in die Sahelzone reichen.
Zu Nordafrika gehören gemäß Einteilung der Vereinten Nationen Marokko mitsamt der Westsahara, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten und der Sudan. Eine adäquate Konfliktanalyse muss jedoch die Mehrzahl der südlich angrenzenden Sahelländer mit in die Betrachtung einbeziehen: Mauretanien, Niger, Mali, Tschad, Südsudan, Äthiopien, Djibouti und Eritrea. Mit über 4,75 Millionen Quadratkilometern ist diese Region etwas größer als die Europäische Union, und obwohl vier Fünftel der Fläche von Wüste (Sahara) bedeckt sind, lebten dort 2017 nach UNO-Angaben mit rd. 440 Mio. nahezu ebenso viele Menschen wie in der EU (rd. 510 Mio.). Das starke Bevölkerungswachstum – 1950 waren es lediglich 85 Mio. – ist ein wichtiger Grund für die hohe Konfliktanfälligkeit im erweiterten Nordafrika.
Sechs große Konfliktgebiete innerhalb dieser Region sind bezüglich ihrer Ursachen und Dynamiken eng miteinander verwoben. Im Westen schwelt seit den 1970er Jahren der Konflikt zwischen Algerien und Marokko um die Westsahara. Weiter östlich folgt der Konflikt in Libyen, wo sich zwei Lager im Kampf um die Kontrolle des Staates gegenüberstehen. Ganz im Osten unterdrückt das ägyptische Militärregime unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi sowohl die säkulare als auch die islamistische Opposition. Wiederholte Anschläge von radikalen Islamisten, insbesondere auf der Sinaihalbinsel, aber auch in der Hauptstadt Kairo und an anderen Orten, können als eine Folge dieser Unterdrückungspolitik verstanden werden.
In der westlichen Sahelzone schließt sich ein ganzes Geflecht von Konflikten an, das sich von Mali und Niger über den Tschad bis in den Sudan zieht. Im Gefolge des Zusammenbruchs Libyens als regionale Ordnungsmacht haben sich hier islamistische Terrorgruppen und kriminelle Netzwerke festgesetzt, die u.a. durch die Mobilisierung unzufriedener Volksgruppen versuchen, die lokalen Regime zu destabilisieren. Weiter östlich entlang des Oberlaufs des Nils überlagern sich weitere Konflikte. Die wichtigsten sind die Anti-Regime-Kriege in mehreren Regionen des Sudan (Darfur, Südkodofan und "Blue Nile") sowie der Bürgerkrieg im 2011 unabhängig gewordenen Südsudan, wo Angehörige der dominierenden Ethnie der Dinka und marginalisierter Gruppen gegeneinander kämpfen. Schlussendlich ist Äthiopien Schauplatz mehrerer Konflikte, die teils grenzüberschreitenden Charakter haben. Der Streit um die Verteilung des Nilwassers zwischen den Anrainerstaaten gehört zu den langwierigsten.
Vier wesentliche geostrategische Faktoren beeinflussen die Entwicklung und Dynamik der Konflikte:
Alte und aufstrebende regionale Mächte kämpfen um den Erhalt und die Neuverteilung von Einflusssphären.
Die politischen Führungen der Länder der Region versuchen, auf Konflikte in ihrem Innern und in ihrer Nachbarschaft Einfluss zu nehmen, um ihre Herrschaft zu sichern und ihre Interessen durchzusetzen, sowie von eigenem Versagen abzulenken.
Externe Mächte – von den arabischen Golfstaaten und der Türkei über die Europäische Union und die USA bis hin zu Russland und China – sind bemüht, die sicherheitspolitische Situation und die gesellschaftliche Entwicklung in der Region in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Schließlich wirkt die Konkurrenz um die wirtschaftlich nutzbaren Ressourcen der Region (z.B. Wasser, Bodenschätze) als Konflikttreiber.
Der Niedergang Ägyptens und Libyens hinterlässt ein machtpolitisches Vakuum
Das Ende der Regime in Ägypten und Libyen, mit Abstrichen auch in Tunesien, hatte enorme Auswirkungen auf das regionale Machtgefüge. Der überraschende Wahlerfolg der Islamisten (Muslimbruderschaft) 2011 und 2012 in Ägypten rief die alten Machteliten auf den Plan, besonders innerhalb des Militärs. Diese konnten sich auf den massiven finanziellen Rückhalt Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) stützen, die den Aufstieg der Muslimbruderschaft als Bedrohung ihrer politischen und religiösen Macht fürchteten. Der Machtkampf, in dem sich auf Seiten der Muslimbrüder hauptsächlich die Türkei und Katar engagierten, endete im Juli 2013 mit einem Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. Die neue Regierung unter Ex-General al-Sisi weist hingegen kaum Unterschiede zum alten Mubarak-Regime auf.
Die internen Konflikte haben die zuvor bereits labile Wirtschaftslage Ägyptens weiter dramatisch verschlechtert. Betroffen sind vor allem die für das Land besonders wichtigen Einnahmen aus dem Tourismus, der infolge der politischen Unruhen und der damit einhergehenden Anschläge um etwa zwei Drittel zurückging (von nahezu 15 Mio. Ankünften im Jahr 2010 auf gut 5 Mio. im Jahr 2016, gemäß Angaben der Welttourismus-Organisation). Ägypten ist politisch und wirtschaftlich geschwächt. Beim Bemühen, seine traditionelle Rolle als einflussreichste Regionalmacht weiter aufrechtzuerhalten, ist es deshalb maßgeblich von der finanziellen Unterstützung und dem Wohlwollen des saudischen Königshauses, aber auch Russlands und anderer Staaten abhängig.
Die Auswirkungen dieser Abhängigkeit sind weithin sichtbar: Das ägyptische Militär unterstützt Saudi-Arabien in seinen Einsätzen im Jemen und ist im Verbund mit Einheiten aus den VAE, trotz gegenteiliger Beteuerungen, wohl auch an Luftschlägen in Libyen zur Stärkung der dortigen "Ostregierung" in Bengasi unter General Haftar beteiligt, die ebenfalls von Russland unterstützt wird. Katar und die Türkei stehen hingegen der "Westregierung" in Tripolis zur Seite.
Der Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011 ging mit ähnlich gravierenden regionalen Machtverschiebungen einher. Gaddafi gefiel sich in der Rolle als Hauptfinanzier der Afrikanischen Union (AU), die mit immerhin drei Friedensmissionen in der Sahel-Zone und am Horn von Afrika vertreten ist: UNAMID im Darfur, AMISCA in der Zentralafrikanischen Republik und AMISOM in Somalia. Für das Gesamtbudget der AU und für etliche afrikanische Staaten bedeutet der Ausfall eine große Bürde. Noch 2010 hatte Gaddafi angekündigt, 97 Mrd. US-Dollar in afrikanischen Ländern investieren zu wollen, "um sie vom westlichen Einfluss zu befreien".
Das Ende des libyschen Diktators löste eine verheerende Kettenreaktion aus: Hunderte ehemalige malische Söldner in libyschen Diensten, viele davon Tuareg, wurden arbeitslos und gingen wieder in ihre Heimat zurück. Zugleich wurden große Mengen Waffen von Libyen aus in benachbarte Länder, insbesondere Niger, Mali und den Tschad, geschmuggelt, darunter auch schwere Antipanzer- und Flugabwehrwaffen.
Begünstigt durch die allgemeine Destabilisierung stellen heute extremistische islamistische Organisationen in der gesamten Großregion eine ernsthafte Bedrohung dar. Nicht nur, dass Anschläge auch gegen Zivilisten Hunderte von Toten fordern, der radikale Islam, hauptsächlich unterstützt vom wahhabitischen Saudi-Arabien, verdrängt zunehmend den vergleichsweise toleranten und liberalen Islam des subsaharischen Afrika. Symbolisch steht dafür die Zerstörung historischer Gebäude und Kunstschätze im malischen Timbuktu durch die dschihadistische Gruppierung "Ansar Dine" im Jahr 2012.
Die mehrheitlich despotischen Regime nutzen die Bekämpfung der radikalen Islamisten allerdings auch für ihre Machtsicherung und Legitimierung, was wiederum politische Freiheiten weiter unterhöhlt, die in den meisten Ländern der Region lediglich in Ansätzen garantiert sind.
Marokko, Tschad und Äthiopien positionieren sich als regionale Mächte
Marokkos König Mohamed VI. nutzte die Krise in Mali 2012 für eine grundlegende Neuausrichtung seiner regionalpolitischen Strategie. Die Rückkehr in die Afrikanische Union (AU) Anfang 2017 und die angestrebte Mitgliedschaft in der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) sind dafür sichtbare Zeichen.
Der Tschad hat seine Rolle als regionale Ordnungsmacht zu einem lukrativen Geschäftsmodell gemacht. Das Land beutet seit 2003 eigene Ölvorkommen aus, ein Großteil der Einnahmen ist jedoch in die Taschen der Eliten und in die Aufrüstung des Militärs geflossen. Seit dem starken Ölpreisverfall 2014 versucht das Regime nun, seine exponierte geopolitische Lage und schlagkräftigen Eliteeinheiten in internationales Renomee und finanzielle Unterstützung umzumünzen. Die tschadische Regierung erhält Millionenbeträge von Frankreich und der EU, den USA und der Weltbank mit dem Auftrag, den Kampf gegen die Terrorgruppe Boko Haram im benachbarten Nordnigeria anzuführen.
Tschads Langzeitpräsident Idriss Déby (im Amt seit 1990) verfolgt dabei auch eine eigene Agenda. So hofft er, dass der Westen – gewissermaßen als Gegenleistung für sein regionales Engagement – über die zunehmende Repression gegen die immer wieder aufflammenden Proteste im drittärmsten Land der Welt hinwegsieht.
Äthiopien ist mit gut 100 Mio. Einwohnern nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsstandort, sondern auch ein militärisches Schwergewicht in der Region. Seine geopolitischen Interessen richten sich neben dem Horn von Afrika immer mehr auch auf Nordafrika und die Sahel-Zone. So ist Äthiopien im Rahmen der Intergovernmental Authority on Development (IGAD)
Der wirtschaftlichen Entwicklung wird in Äthiopien nahezu alles untergeordnet. Die herrschenden Eliten unternehmen dafür erhebliche Anstrengungen, auch mit Blick auf die Region. Ein stärkeres regionales Ausgreifen und eine engere Zusammenarbeit mit Nachbarländern – möglichst unter äthiopischer Führung – soll dafür den Zugang zu den notwendigen Ressourcen (z.B. Wasser, Erdöl und Erdgas) und die Anbindung an die zu modernisierende und neu entstehende regionale Infrastruktur sichern (z.B. Häfen, Bahntrassen und Straßen).
Ein prioritäres Ziel ist die Gewährleistung von Wassersicherheit und die wirtschaftliche Nutzung des Blauen Nils. Durch den Bau von Bewässerungssystemen und Staudämmen will Addis Abeba sowohl die Landwirtschaft entwickeln als auch zu einem wichtigten Energieexporteur für seine Nachbarstaaten werden. Ägypten sieht dieses selbstbewusste Auftreten Äthiopiens mit Sorge und droht sogar mit militärischen Schritten, um seine traditionelle Vormachtstellung in der Wasserverteilungsfrage nicht zu verlieren. Setzt Äthiopien seine Pläne in die Tat um, darunter insbesondere die Errichtung des Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD), wären sowohl Sudan als auch Ägypten fortan vom Wohlwollen Äthiopiens abhängig, ausreichend Wasser in die nördlichen Nil-Anrainerstaaten passieren zu lassen. Dies würde die regionalpolitische Balance zwischen Ägypten und Äthiopien – beide mit jeweils ca. 100 Mio. Einwohnern die mit Abstand größten Länder der Gesamtregion – deutlich in Richtung Äthiopien verschieben. Eine diplomatische Lösung des Wasserstreits erscheint unter diesem Vorzeichen als überaus schwierig.