Kampf um eine neue regionale Ordnung
Mit den als "Arabischer Frühling" bezeichneten Demonstrationen und Aufständen von 2010/2011 wurde eine lange Phase der Destabilisierung und Verschiebung der regionalen Machtordnung eingeläutet. Das bisher dominierende Ägypten war nach dem Sturz von Langzeitpräsident Hosni Mubarak im Februar 2011 vor allem mit seiner eigenen Stabilisierung beschäftigt. Parallel stießen Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar in das Machtvakuum und entwickelten sich zu den aktivsten arabischen Regionalakteuren. Auch zwei mächtige Anrainer des arabischen Raumes versuchen, das Momentum zu nutzen, um sich als Führungsmächte zu positionieren. Im Norden hegt die Türkei neue regionalpolitische Führungsambitionen, und im Osten sieht der Iran in den Umbrüchen in mehreren arabischen Staaten eine Chance, um seine hegemonialen Pläne voranzutreiben.
Alle Aspiranten auf eine regionale Führungsrolle verfolgen dasselbe strategische Ziel: die Veränderung der regionalen Ordnung gemäß den geopolitischen, wirtschaftlichen und kulturell-religiösen Interessen ihrer Führer, hinter denen sich meist auch der Versuch verbirgt, ihre eigene autokratische Herrschaft zu sichern.
Die sunnitische Muslimbruderschaft (MB) ist eine in den 1920er Jahren in Ägypten gegründete und transnational agierende Organisation. Ihre Ideologie propagiert als langfristiges Ziel einen islamischen Gesamtstaat, in dem die Scharia als Rechtsordnung gilt. Die Menschen sollen schrittweise an die angestrebte politische Ordnung herangeführt werden. Um Anhänger zu gewinnen, setzt die Bruderschaft u.a. auf karitatives Engagement für sozial Benachteiligte. Nach 2011 versuchte die MB, die Unruhen und Umstürze des "Arabischen Frühlings" zu nutzen, um in den betroffenen Staaten (v.a. Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien) über demokratische Prozesse an die Macht zu kommen. Dabei wurde sie von einigen Regionalmächten, wie der Türkei und Katar, aktiv unterstützt. Mit Ausnahme Tunesiens sind diese Versuche jedoch vorerst gescheitert. In Tunesien zeigt sich auch, dass MB-Affiliationen, wie die aktuell stärkste Regierungspartei Ennahda ("Wiedererwachen"), ihre ideologischen Ziele durchaus pragmatisch den politischen Realitäten unterordnen können.
Bei der Beurteilung der strategischen Absichten der rivalisierenden Regionalmächte spielt der Konflikt zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran die entscheidende Rolle. Diese seit der Islamischen Revolution im Iran von 1979 andauernde Rivalität verschärfte sich noch einmal seit dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein durch die USA im Jahr 2003. Mit dem Aufstieg und der Machtübernahme der Schiiten im Irak konnte der persische Staat seinen Einfluss auf das ehemals verfeindete Nachbarland bis heute massiv ausweiten.
Interessen und Politik wichtiger Regionalmächte
Die autokratischen Regime in Saudi-Arabien und den VAE sehen in der MB sowohl eine religiös-ideologische als auch eine sozialpolitische Konkurrenz. Sie befürchten, dass ihnen mit den Muslimbrüdern eine immer machtvollere religiöse und ideologische Opposition erwächst, die den Herrschaftsanspruch der dortigen Königsfamilien perspektivisch infrage stellen könnte. Seit den 1950er Jahren sind viele Muslimbrüder aus Ägypten in die Golfstaaten geflohen, wo sie auch ihre religiösen und Gesellschaftsvorstellungen verbreiten konnten. Das Militärregime in Ägypten sieht sich in der Tradition der dort seit den 1950er Jahren dominierenden Eliten, die die MB als die wichtigste Herausforderung für ihre Herrschaft betrachten. Dieses Feindbild hat sich infolge der Versuche der Bruderschaft, nach ihren Siegen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2011 die Macht im Land zu übernehmen, weiter verfestigt.
Katar und die Türkei intensivierten dagegen ab 2010/2011 ihre guten Verbindungen zur MB, um über die in der gesamten Region aufstrebende Organisation ihren politischen Einfluss zu vergrößern. Die türkische Regierungspartei AKP unterhält enge Beziehungen zu regionalen Affiliationen der ihr ideologisch nahestehenden MB. Katar konnte den Einfluss der MB auf seinem eigenen Staatsgebiet dank seiner geringen Größe und seines Reichtums bislang wirksam neutralisieren. Umso aktiver versucht die katarische Führung die Organisation zu nutzen, um die Entwicklungen in anderen Staaten der Region in ihrem Sinne zu beeinflussen. So leben noch immer Kader regionaler Ableger der MB, wie der palästinensischen Hamas oder der ägyptischen MB in Doha.
Aus der religiösen und ideologischen Konkurrenz zwischen der iranischen Interpretation des schiitischen Islam und der saudischen Lesart des sunnitischen Islam (Wahhabismus) hat sich ein regionaler Machtkonflikt entwickelt, in dem beide Seiten versuchen, die eigenen Einflusssphären auch über die politische Instrumentalisierung der Religion auszuweiten. Dies geschieht häufig durch die Mobilisierung von Schiiten bzw. Sunniten gegen den jeweiligen Rivalen. Die VAE stellen sich dabei außenpolitisch auf die Seite Saudi-Arabiens. Ein zusätzliches Motiv dafür ist die Tatsache, dass der Iran drei Inseln im Persischen Golf besetzt hält, die von den VAE beansprucht werden. Auch Ägypten folgt im Grundsatz der anti-iranischen Linie, wenngleich dies nicht aus einer Bedrohungswahrnehmung heraus geschieht, sondern aus einer realpolitischen Notwendigkeit: Ägypten ist aufgrund seiner desolaten Wirtschaftssituation beinahe existenziell von den finanziellen Hilfen der arabischen Golfstaaten abhängig.
Obgleich ebenfalls sunnitisch, ist Katar um ein pragmatisches Verhältnis zum Iran bemüht. Ein Grund ist ein riesiges Gasfeld unter dem Persischen Golf, das sich Katar und Iran teilen. Zudem hat Katar kein Interesse an einem allzu dominanten Saudi-Arabien. Auch das türkisch-iranische Verhältnis hat einen pragmatischen Kern. Zwar kommt es seit 1979 immer wieder zu Spannungen zwischen den beiden Nachbarländern, doch besteht zwischen ihnen keine direkte Rivalität, die mit der zu Saudi-Arabien vergleichbar wäre. In einigen Bereichen entwickelt sich sogar eine prosperierende Zusammenarbeit.
Die geopolitische Rivalität wirkt sich auch auf die großen Konflikte in der Region aus. Mehr noch: Hier liegt eine wichtige Ursache für die Brutalität und Verbissenheit, mit der diese Konflikte ausgetragen werden. Besonders deutlich wird dies in Syrien und im Jemen.
Stellvertreterkriege: Das Beispiel Syrien
Saudi-Arabien stellte sich früh gegen das Regime um Diktator Baschar al-Assad. Riad sah so eine Möglichkeit, sich sowohl eines regionalen Widersachers als auch eines der wichtigsten Verbündeten des Iran zu entledigen. Dabei unterstützte Riad insbesondere salafistische Oppositionelle und Rebellengruppen. Auch Katar stellte sich schnell gegen Assad, konzentrierte sich jedoch auf die Unterstützung von Gruppen, die den Muslimbrüdern nahestehen. Die VAE und Ägypten hielten sich im Kampf gegen Assad zurück, auch weil die militärisch schlagkräftigsten Rebellengruppen zunehmend islamistischen oder dschihadistischen Charakter hatten und auch Milizen der MB umfassten.
Auch der Iran hatte sich bereits früh militärisch in den Konflikt eingemischt, indem er schiitische Milizen und Truppen der Revolutionsgarden nach Syrien beorderte, um den Verlust seines wichtigsten regionalen Verbündeten zu verhindern. Ein Kernziel Teherans ist dabei die Schaffung und Sicherung eines Landkorridors von Iran über Irak und Syrien bis an die israelische Grenze im Libanon. Diesem Zweck dienen auch die Versuche Irans, entlang dieser Routen gegenüber dem Iran loyale Schiiten anzusiedeln.
Die Position der Türkei hat sich im Laufe des Krieges deutlich verändert. Nachdem sie 2011 in ihrem Versuch gescheitert war, Assad davon zu überzeugen, die syrische MB in die Regierung zu integrieren, hatte sie sich zunächst auf die Seite der arabischen Golfstaaten und damit gegen Assad gestellt. Im Frühjahr 2015 schuf sie zusammen mit Saudi-Arabien und Katar die "Jaish Al Fatah" ("Eroberungsarmee"), die von verschiedenen islamistischen und dschihadistischen Rebellengruppen dominiert war. Die Rebellenallianz brachte das Assad Regime im Sommer 2015 an den Rand einer militärischen Niederlage, die nur durch die Militärintervention Russlands abgewendet werden konnte. Ankara versucht seitdem, seinen politischen Einfluss und seine militärische Präsenz in Syrien zu verstärken, um zumindest das Entstehen eines zusammenhängenden Kurdengebiets bzw. eines Kurdenstaates an seiner südlichen Grenze zu verhindern. Dazu näherte sich Ankara aktiv an Russland und Iran an, was von Moskau mit der Einbeziehung der Türkei in die Errichtung und Garantie der sogenannten Deeskalationszonen in Syrien belohnt wurde, die im Rahmen der Syrien-Verhandlungen im kasachischen Astana vereinbart worden waren.
Durch den Stellvertreterkrieg externer Mächte und Gruppierungen in Syrien wurde der ursprünglich politische Konflikt zwischen mehr Rechte fordernden Demonstranten und dem repressiven Assad-Regime nicht nur massiv intensiviert, sondern nahm auch immer mehr einen konfessionellen Charakter an. Sowohl Saudi-Arabien als auch Iran porträtierten den Syrienkrieg immer wieder als einen Krieg zwischen Schiiten und Sunniten, um so Kämpfer und sonstige Unterstützer zur Erfüllung ihrer hegemonialen Ziele zu mobilisieren. Die machtpolitische Instrumentalisierung konfessioneller Unterschiede birgt für die Zukunft ein großes Konfliktpotenzial.
Bis Ende 2017 konnten weder Saudi-Arabien noch Katar ihre Kerninteressen in Syrien behaupten. Beide spielen inzwischen nur noch eine Nebenrolle und haben einen vergleichsweise geringen Einfluss auf das weitere militärische und politische Geschehen.
Die Eskalation innerstaatlicher Konflikte durch die geopolitische Rivalität: Das Beispiel Jemen
Dagegen spielt Saudi-Arabien im Jemen eine Schlüsselrolle. Wie aggressiv Riad seine regionale Hegemonie durchzusetzen und zu behaupten gedenkt, verdeutlicht die militärische Intervention im Jemen-Konflikt. Saudi-Arabien und auch die VAE befürchteten nach der Einnahme der jemenitischen Hauptstadt Sanaa durch die zaiditisch-schiitischen
Zwar blieb die iranische Unterstützung der Rebellen eher gering, und ob der Iran tatsächlich Waffen an die Huthis liefert, ist nach wie vor umstritten. Gleichwohl haben iranische Politiker mit provokanten Äußerungen zur Eskalation der Situation beigetragen. So prahlte ein iranischer Abgeordneter im Herbst 2014 damit, dass der Iran nach Damaskus, Beirut und Bagdad nun mit Sanaa die vierte arabische Hauptstadt in seiner Hand habe.
Um mögliche Waffenlieferungen Irans an die Huthis zu verhindern, verhängten die beiden Golfstaaten eine Blockade, die aber auch die Einfuhr von Medikamenten und Lebensmitteln massiv einschränkte. Das UNHCR sprach bereits im April 2017 von der größten humanitären Katastrophe der Welt. Demnach haben etwa 17 Mio. Jemeniten keinen sicheren Zugang zu Lebensmitteln und sind von der größten Cholera-Epidemie der Neuzeit betroffen.
Die Einmischung der Militärkoalition unter Führung von Saudi-Arabien und der VAE, aber auch die Aktivitäten Irans, haben den ursprünglich innerstaatlichen Konflikt eskalieren lassen. Dadurch geraten die eigentlichen Ursachen aus dem Blick: die langjährige politische und wirtschaftliche Marginalisierung der Huthis, die Angriffe auf ihre Identität sowie die Korruption und Misswirtschaft der Zentralregierung und deren Unfähigkeit, die Sicherheitslage im Land zu verbessern. Durch die Bombardements Saudi-Arabiens und der VAE werden die Huthis inzwischen immer weiter in die Arme Irans getrieben, sodass sich die in der Vergangenheit begrenzte Kooperation in Zukunft ausweiten dürfte, was wiederum Saudi-Arabien zu einem noch aggressiveren Verhalten verleiten könnte. Davon profitiert auch die Terrororganisation "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAP), da ihre Bekämpfung im Moment nicht nur geringere Priorität hat, sondern es sogar zu Kooperationen zwischen ihr und Huthi-Gegnern gekommen ist.
Sowohl in Syrien als auch im Jemen werden die destruktiven Folgen der Einmischung regionaler Akteure in lokale Konflikte deutlich. Insbesondere die Herrscher Irans und Saudi-Arabiens haben zwei ursprünglich lokale Bürgerkriege massiv intensiviert und dort die Saat für eine Eskalation und zusätzliche Konflikte gelegt. Sie tragen dabei einen vor allem auf ihren geostrategischen Interessen beruhenden Konflikt auf fremdem Territorium aus und destabilisieren so die gesamte Region.