Die Entscheidungen und Entwicklungen, die zur Ukraine-Krise geführt haben, können in vier Komplexe aufgeteilt werden: (1) die Fehler der alten ukrainischen Regierung unter Präsident Janukowitsch; (2) die Fehlkalkulationen der Moskauer Führung und die konfrontative Dynamik in Russland; (3) die mangelhafte Analyse in Brüssel und die Selbstüberschätzung der EU; (4) die Zurückhaltung der USA und ihr Versäumnis, gegenüber Moskau eine klare "rote Linie" zu ziehen.
Die Fehler der alten und neuen ukrainischen Regierung
Die Hauptursache für die Ukraine-Krise waren kardinale Fehler der Regierung unter Präsident Janukowitsch (2010-14) in der Innen-und Wirtschaftspolitik. Janukowitsch war bereits von 2002 bis 2004 sowie von 2006 bis 2007 ukrainischer Ministerpräsident. Dazu kamen die Misswirtschaft zugunsten eigener Interessen sowie die Begünstigung eines weit über die kritische Grenze wachsenden Einflusses Russlands, vor allem auf den Sicherheits- und Militärsektor der Ukraine. Insgesamt hatte seine Regierung bis Ende 2013 das Land und den Staat an den Rand einer Katastrophe manövriert.
Im Jahre 2014 musste die neue Führung unter Präsident Poroschenko und Premierminister Jazenjuk ein schweres Erbe antreten. Doch leider hat sie dabei nicht selten mangelnde Professionalität gezeigt und teilweise nicht den erforderlichen politischen Wille aufgebracht, in erster Linie im Interesse des Staates und der Gesellschaft und nicht im Eigeninteresse zu handeln
Die Schwäche der Ukraine hat Russland zusätzlich zu seiner Aggression ermutigt. Nach den Informationen, die den russischen Geheimdiensten vorlagen, rechnete Moskau offenbar mit keinem großen Widerstand. Diese Erwartung schien sich zunächst durch bei der Annexion der Krim im Februar und März 2014 zu bestätigen.
Fehlkalkulationen Russlands und konfrontative interne Dynamik
Bei seinem Vorhaben, den Konflikt in den Osten der Ukraine zu tragen, hat Russland ganz offenkundig die Entschlossenheit und Fähigkeit des Landes zum Widerstand und den Willen einer bedeutenden Mehrheit der Bevölkerung unterschätzt, für ihr Land zu kämpfen. Gezielte Maßnahmen in den letzten Jahren zur Schwächung des Nachbarlandes
Man muss sich im Klaren darüber sein, dass die Ursachen für die russische Politik langfristiger Natur sind. Sie ist in erster Linie eine Reaktion auf das Gefühl der "Erniedrigung" durch die Politik des Westens in den 1990er Jahren. Die damalige russische Kooperationsbereitschaft sei nicht erwidert, sondern vielmehr "ausgebeutet" worden
Des Weiteren spielt die Ukraine als benachbartes und mit Russland eng verflochtenes Land eine Schlüsselrolle im Kontext der geopolitischen Neuorientierung der tonangebenden russischen Eliten. Diese herausgehobene Rolle ist durch objektive und subjektive Faktoren bedingt. Zu den objektiven Faktoren gehört die große Zahl von Netzwerken zwischen der Ukraine und Russland auf vielen Ebenen (Wirtschaft, Energie, Militär, Gesellschaft und Familien usw.), die seit Sowjetzeiten lebendig geblieben sind. Hinzu kommt in letzter Zeit der immer offener artikulierte Anspruch Russlands auf eine eigene Einflusssphäre, die man auch mit Gewalt zu "verteidigen" bereit sei.
Doch liegt der letztlich ausschlaggebende Grund dafür, dass der Kreml seinen außenpolitischen Kurs gegenüber dem Westen so dramatisch verändert hat, in der russischen Innenpolitik. Dort wurde die Neigung zur Beschneidung und Deformation von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seit den 1990er Jahren immer offenkundiger. Der Westen wird verdächtigt, die liberale politische Opposition und die kritische Zivilgesellschaft zu unterstützen. In der russischen Führungsschicht grassiert die Angst vor "farbigen Revolutionen" im eigenen Land und in den Nachbarstaaten.
Um dieser Entwicklung vorzubeugen, hätte der Westen sich viel früher mit dem innenpolitischen Richtungswechsel in Russland befassen und entsprechende Anzeichen und Warnungen sensibler zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren müssen.
Mangelhafte Situationsanalyse durch Brüssel und die Selbstüberschätzung der EU
Als die Europäische Union bis Februar 2014 die Option trilateraler Gespräche über das Freihandelsabkommen mit der Ukraine (DCFTA)
Zudem machte man sich aufseiten der EU wohl Illusionen über die innenpolitische und wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine und die Möglichkeiten, das Land schnell zu reformieren.
Die russische Führung bewertete die Nichteinhaltung der Vereinbarung durch die neue ukrainische Regierung als Wortbruch der EU. Sie sah sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Maidan-Bewegung vom Westen inspiriert und dirigiert wurde. Ihre Schlussfolgerung: Mit dem Westen getroffene Vereinbarungen haben keine Gültigkeit; das Einzige, was zählt, sind harte Fakten in der politischen Auseinandersetzung. Die Vereinbarung war die letzte Chance, die russische Annexion der Krim und die Einmischung im Donbass irgendwie zu stoppen und so der Ukraine-Krise vorzubeugen.
Die Zurückhaltung der USA und das Versäumnis, eindeutige rote Linien zu ziehen
Möglicherweise hätten sowohl USA als auch die EU mehr Sensibilität gegenüber den offiziell und inoffiziell erklärten russischen Besorgnissen zeigen können. Doch andererseits darf man die Kapazitäten des Westens auch nicht überschätzen. Die Politik der USA und der EU-Staaten unterliegt starken eigenen Begrenzungen – sei es in Bezug auf innenpolitisch sensible Fragen oder auf die Beziehungen zu anderen Staaten. Die beste Strategie wäre wohl eine "Smart-Power-Politik" gewesen, d.h. eine Kombination aller zur Verfügung stehenden politischen, wirtschaftlichen, symbolpolitischen und gesellschaftlichen Instrumente, um Russland positiv zu beeinflussen. Doch die Kardinalfrage bleibt unbeantwortet: War und ist der Westen tatsächlich bereit, Russland in die eigene Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft zu integrieren, oder war man sich von Anfang bewusst, dass es bestenfalls zu einer Partnerschaft kommen könne?
Vom Standpunkt der eigenen Interessen und Prioritäten haben die USA im Verlauf der Krise im Großen und Ganzen besonnen gehandelt. Das Problem ist nur, dass die anderen drei Seiten eine andere Politik von Washington erwartet haben! Nur am Anfang der Krise waren die USA aktiv engagiert
Hinzu kamen auch personenbezogene Faktoren, die erklären, warum Obama zur Ukraine-Krise auf Abstand gegangen ist. An erster Stelle stehen die schlechten Beziehungen und das Misstrauen zwischen Obama und Putin sowie nicht besonders positive erste Eindrücke, die Obama noch als US-Senator 2005 während einer Reise in die Ukraine gewonnen hatte.
Russland hätte wahrscheinlich anders gehandelt, wenn von den USA vorher deutlich kommuniziert worden wäre, wo die "roten Linien" in Bezug auf die Region verlaufen und welche Gegenaktionen die USA gegebenenfalls unternehmen werden. Hätte man in Kiew und in anderen europäischen Hauptstädten gewusst, wie begrenzt die amerikanische Bereitschaft zu aktiver Solidarität, Unterstützung und gegebenenfalls militärischer Einmischung ist, hätte man sich höchstwahrscheinlich anders verhalten. Womöglich wäre die Einsicht in die Notwendigkeit, mehr eigene Verantwortung zu übernehmen und mehr Entschlossenheit zu zeigen, größer gewesen.
Fazit
Als Schlussfolgerung aus dem Verlauf der Ukraine-Krise muss auch auf das mangelnde Vertrauen zwischen Russland und dem Westen – es erodierte seit Jahren – sowie auf den fehlenden echten Austausch über die Schaffung einer nachhaltigen Sicherheitsarchitektur in Europa verwiesen werden. Ein zentraler Baustein wäre ein gemeinsames Verständnis darüber, welchen politischen, völkerrechtlichen und Sicherheitsstatus diejenigen Staaten haben, die weder zum russischen Machtbereich noch zur NATO und der EU gehören. Diese sogenannten "States in-between" ("Staaten dazwischen") befinden sich ohne echte Sicherheitsgarantien in einer nicht gerade komfortablen Position zwischen den beiden Machtblöcken.
Um dramatische Entwicklungen wie die Ukraine-Krise künftig zu vermeiden, muss man anfangen, sich mit diesen schwierigen Fragen zu befassen, statt sie immer wieder zur Seite zu schieben. Dabei sollte der Grundsatz gelten, sich auf das Mögliche und auf die positiven Entwicklungen zu konzentrieren und nicht immer sofort konfrontativ zu reagieren. Eine Option wäre, dass die NATO und die EU eine strategische Vereinbarung mit Russland bezüglich des unabhängigen und eigenständigen Status dieser "Staaten dazwischen" treffen. Dazu könnte als erster Schritt ein Abkommen über die Modalitäten der wirtschaftlichen Kooperation zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Union gehören. Denkbar wäre auch eine klare und glaubwürdige Definition der "roten Linien" durch den Westen, die Russland keinesfalls übertreten darf. Beides wurde bislang leider versäumt.